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Folge 81

Etwas Altes: Nudekleider 

Wer sich ein bisschen für Mode interessiert, weiß: das Nacktkleid (nude dress / naked dress), also ein Kleid, das so durchsichtig ist, dass man quasi ohne dasteht, ist seit Jahren der heiße Scheiß. Kein Wunder, denn so ein Ding garantiert den wirklich großen Auftritt, es ist vestimentärer Clickbait, Aufmerksamkeitsgold. Alle sehen hin, alle machen ein Foto, alle posten. Für den Kaiser aus dem Andersen-Märchen Des Kaisers neue Kleider (Öffnet in neuem Fenster) gab es noch ein unangenehmes Erwachen, als ein Kind die versammelte Gesellschaft darauf aufmerksam machte, dass er nackt war; heutigen Nacktkleidträger*innen aber geht es wie dem Kaiser vor der Desillusionierung: »Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.« 

Unnötig zu erwähnen, dass fürs kontemporäre Nacktkleid der Körper makellos und das Selbstbewusstsein ausgeprägt sein müssen. Auch der Kontext zählt: Mit einem Nacktdress möchte niemaus nachts von der U-Bahn am Park vorbei nachhause laufen. Egal ist hingegen, ob das Nacktkleid in den Augen Betrachtender gut aussieht oder nicht, Hauptsache, es fasziniert und hat Klicks gemacht. 

Ich war vor ein paar Tagen sehr fasziniert, aber auf die nicht so gute Art, als ein für i-D gemachtes Foto von Lily-Rose Depp im Netz auftauchte, auf dem sie ein Nudekleid trägt, das stark an ein ikonisches Outfit von Kate Moss von 1993 erinnert. Kate Moss war 1993, upsi, mit dem Vater von Lily-Rose Depp zusammen. Inzestuöses Foto-Reenactment als Meta-Nacktkleid? Zu viel für meine Nerven. Aber feinster Clickbait (Öffnet in neuem Fenster), hat funktioniert, ging international durch alle Medien.  

Wie absurd ist es eigentlich, dass bei Bildern von Nudekleidern auf Instagram die Nippel unkenntlich gemacht werden. 

Etwas Neues: Chers Gesicht 

Grundsätzlich gilt ja, dass jede Person ihren Körper modifizieren können sollte, wie sie möchte und gleichzeitig alle mitwirken sollten, eine Gesellschaft hinzubekommen, in der weniger Schönheits- und Normdruck auf Individuen, insbesondere Frauen, lastet. Trotzdem haben natürlich alle Menschen, was Körperlooks angeht, unterschiedlich verlaufende Geschmacksgrenzen. Dies hat viel mit Gewöhnung zu tun. Bei mir im schnarchigen Berlin-Pankow sieht man zwar jede Outdoorjacke, die der Kapitalismus in die Welt gebracht hat, aber so gut wie keine sichtbar gespritzten Gesichter; deshalb muss ich mich in Charlottenburg oder Schöneberg immer ein bisschen zusammenreißen, Menschen mit Gesichtsaufpolsterungen nicht anzustarren. Ich bin es einfach nicht gewöhnt – mein Problem. Umgekehrt bin ich durch Freundinnen meiner Söhne vertraut mit Extra-Wimpern und -Nägeln, Looks, die für mich total normal sind, aber manche Pankower Freundin von mir ästhetisch aus der Fassung bringen. Deshalb gilt: Denk dir, was du willst bzw. was du kannst, aber bitte leise; vor allem kommentiere nicht ungefragt das Äußere anderer Menschen, die zufällig an dir vorbeispazieren. Das, was du im Augenblick schön und okay findest, ist nicht das, was automatisch andere schön und okay finden, also lieber pschhhhhht.

Ein bisschen anders sieht die Sache aus, wenn spezifische Looks Teil deines Geschäfts, deiner Marke sind, z. B. wenn du Model bist, dann liegt es natürlich nahe, dass darüber gesprochen wird, wie du gerade aussiehst. Bei Musiker*innen ist es schon wieder etwas ambivalenter, da sollten die Looks den öffentlichen Diskurs nur interessieren, wenn sie ganz klar Teil der Show sind. Richtig wäre etwa gewesen, Adeles Figur, egal ob dick oder dünn, außen vor zu lassen, denn sie tritt genuin als Sängerin auf. Hingegen ist es bei Madonna Konzept, immer wieder krass anders auszusehen und auch auf unterschiedliche Weise krass. Also kann man darüber reden. Mal gefällt einem ihr Look, mal nicht. Wenn jetzt aber Menschen so dermaßen ausrasten, weil Madonna angeblich »unkenntlich« aussehen würde, regen sie sich vielleicht insgeheim mehr darüber auf, dass die sich mit 64 als eine Art sexy Schulmädchen stylt inklusive jugendlich rundem Gesicht. (Aber erwachsene Frauen in der Firma »Mädels« nennen, ist immer noch für Viele okay.) Mit Sex, BDSM, Queerness andeutenden Looks und Performances von Madonna hatte die Urteilsgesellschaft, abgesehen von religiösen Fundamental*istinnen, kein Problem, aber wenn die Olle sich jetzt in einer Weise als fickbar stilisiert, die man ganz persönlich irgendwie nicht hot findet, dann ist aber was los. Plötzlich wird es als würdelos und wirr empfunden und das Image der verrückten Alten aufgerufen, als wäre es 1873.  So etwas Ähnliches gab es auch schon mal 2010 bei Demi Moore, da konnte man lesen: »Jetzt wird's peinlich. Demi Moore benimmt sich, als wäre sie nicht 47, sondern wieder 17.« Vorher wurde dieselbe Demi Moore bis in den Himmel gelobt, weil sie viel jünger als 47 aussah, aber sich jünger benehmen? Nein, also wirklich nicht, peinlich. Klar, können bei solch »aufgedrehten« Auftritten auch Mental-health-Probleme im Spiel sein, aber für die interessiert sich jemand, der so fies aburteilt, ganz bestimmt nicht. 

Misogynie im frühen 21. Jahrhundert heißt: Frauen sollen im besten Fall bis zum Tod attraktiv wirken, aber bitte objekthaft wie im 19. Jahrhundert; wenn sie es für sich selbst tun und anderen dabei nicht gefallen, sind sie peinlich. 

In diesem Kontext ist mir aufgefallen, dass Cher ein echtes Vorbild ist. Sie war die erste prominente Frau, von der wirklich jede*r wusste, dass sie »operiert« ist. Vermutlich hat sie hunderte OPs hinter sich. Jetzt ist sie 77 und sieht aus wie 1977.  Läuft. 40 Jahre jüngerer Boyfriend, herzlichen Glückwunsch. Ein junger Partner wird mittlerweile ja auch Frauen durchgehen gelassen. Womit könnte Cher die aktuellen Normis schocken? Mmh, Unsterblichkeit wäre ein cooler Move. 

Witzig (=misogyn) auch, dass »operiert« bei Frauen sofort als schönheitsoperiert interpretiert wird. »Sie ist operiert« könnte ja auch heißen: Sie hatte eine Hysterektomie. Kann ich sehr empfehlen, nicht vergessen, ich bin auch Hysterektomienfluencerin.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Gewalt macht den Menschen zur Sache.«  

– Simone Weil

Etwas Uncooles: OK, Katzenboomer

Wer mir in sozialen Medien folgt, weiß auch von Laser Frohmann, einer mittlerweile schon älteren, beigebraun gestreiften Hauskatze, extrem geliebt von allen, die ihn kennen, ausgenommen Vögel und Nager. Würden wir zuhause eine Familienaufstellung machen, säße der Kater unweigerlich im Zentrum. Laser ist auch eine kleine Internetberühmtheit, Menschen schreiben mir Nachrichten und Mails, in denen sie nach ihm fragen. Allerdings ist sein Fame daran gebunden, dass ich selbst noch auf einer Plattform sichtbar bin, denn Laser hat keine eigenen Accounts. (Ein weiteres Feld, bei dem ich froh bin, dass ich dem Impuls, als so was in der Luft lag, nicht nachgegeben habe. Ähnlich froh bin ich, in den 1980ern keinen coolen Roman geschrieben, nach meiner ersten Schwangerschaft keinen Schwangerschaftsratgeber verfasst und nach dem ersten Anziehen meines Babys nicht gleich Mode für Kleinkinder designt zu haben.) 

Ein Mythos ist, dass Laser sehr fotogen ist. Nein, schlecht ausgedrückt, er ist fotogen, aber er hasst es so sehr, fotografiert oder gefilmt zu werden, dass es große Anstrengungen und Mühen erfordert, ein passables Bild von ihm zu machen. So richtig dabei ist er nur, wenn ich nebem dem Smartphone noch einen Snack hochhalte. In allen anderen Fällen schlägt er, sobald ich das Smartphone zücke, instant die Augen nieder. Er ist genauso fotophobisch wie ich. I feel you, Laser. 

Was ich ihm aber verüble, natürlich ohne jeden Liebesabzug, ist, dass er ein Boomer geworden ist, der mich den ganzen Tag über mit pampigen Blicken, genervten Kopfbewegungen und lautem Miauen catsplaint. Ja, ich könnte ihm natürlich einen Snack nach dem anderen geben und ihn jeweils mehrere Stunden lang auf dem Arm durchs Haus tragen, aber muss er mich wirklich ansehen wie ein böser Nazi-Opa, der gleich mit dem Schirm auf ein auf dem Bürgersteig radfahrendes Kind eindrischt?

OK, Boomer

Rubriklos

Guerlica

Zurück zu den neuen alten Gewändern. Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

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