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Folge 75

Vorweg

Es geht in dieser Folge nun tatsächlich allmählich weg vom Überpersönlichen – ich schleiche mich selbst aus –, und es geht übermäßig viel um die Polizei, aber über die muss auch am besten 24/7 gesprochen werden. Es geht aber nicht nur um die Polizei, denn dann hätte ich für Etwas Geborgtes auf Biegen und Brechen ein tolles Zitat über die Polizei finden müssen, und so arbeite ich ja nicht. Im New Frohmanntic muss alles Inhaltliche von selbst hereinspülen oder vorbeiwehen und dann von mir durchüberlegt und in Beziehung gesetzt werden. Deshalb gibt es ein tolles Zitat, aber nicht über die Polizei. 

Etwas Altes: Mein böser Polizisten-Onkel

Eine von nicht mal zehn Personen, denen ich im Laufe meines Lebens die soziale Beziehung gekündigt habe, war mein Onkel, der Polizist. Nicht, weil er Polizist war, sondern weil er sich so grauenhaft gegenüber meiner Oma (brüll brüll brüll), gegenüber meinem Vater (anzeig anzeig anzeig) und auch gegenüber mir verhalten hatte (unter Druck setz unter Druck setz unter Druck setz), dass ich das durchziehen wollte und konnte. 

Als ich vor langer Zeit meinen heutigen Mann kennenlernte und wir noch in der Phase waren, in der man sich Familien-Issues erzählt, vertraute ich ihm an, dass ich Witze grundsätzlich nicht sonderlich mochte, aber einen bestimmten, sehr einfach gestrickten Witz wirklich lustig fand, weil er geradezu grotesk befreiend auf mich wirkte. 

Witz, den ich lustig fand, nein, finde
»Welches Tier trägt das Arschloch auf dem Rücken?
Das Polizeipferd.« 

(Dieser Witz steht an x Stellen im Internet, er ist nicht von mir, und wurde hier nur zitiert, siehe Anführungszeichen. Herr Seehofer, bitte zeigen Sie mich nicht an.)

D. und ich waren damals gerade zum ersten Mal gemeinsam in Urlaub, und ich phantasierte herum, wie ich diesen Witz am liebsten anonym auf einer Postkarte an meinen gemeinen Onkel schicken würde, aber mich nicht traute, weil der ja eben Polizist war und ich von ihm wusste, dass er sein Amt oder dessen Recherchewerkzeuge durchaus für private Zwecke nutzte. Ich habe eine ziemlich markante Handschrift, und es wäre ein Klacks gewesen, mich zu überführen. D. sagte, er fände die Idee komplett lächerlich, noch lächerlicher aber wäre, dass ich mich nicht traute. Kopfschüttelnd bot er mir an, die Karte für mich zu schreiben. Ich war begeistert, befürchtete aber immer noch, direkt im Anschluss an die Reise am Flughafen geschnappt zu werden. Vermutlich rührte meine damals noch stark übertriebene Angst vor »der Obrigkeit« unter anderem daher, dass ich als Kind mit besagtem Onkel einen besonders kleinlichen und bösartigen Gesetzesvertreter direkt vor Augen gehabt hatte.

Böser Onkel hat einen anderen Familiennamen als ich, und die etwaige Postkarten-Beleidigung wäre zudem längst verjährt. Ja, das habe ich extra gesuchmaschint, sicher ist sicher. Deshalb kann ich heute so krass mutig sein, euch davon zu erzählen. Vor etwaiger Peinlichkeit fürchte ich mich glücklicherweise schon lange nicht mehr. Peinlich sind in Wirklichkeiten böse Menschen. Ultrapeinlich sind in Wirklichkeiten böse Menschen, die ihr Amt missbrauchen. 

Als ich die Geschichte von der Postkarte vor ein paar Tagen meiner Mutter erzählte, lachte sie sehr und meinte: »Der hatte doch eh schon Gallensteine ...«  

Etwas Neues: Erleichterte Freude an Kultur

Gestern war ich auf Einladung meines Freundes A. bei Lovetrain von Emanuel Gat im Haus der Berliner Festspiele, und es war genau so, wie ich es mir erhofft hatte, ein Tanzstück, das mir die intellektuelle und emotionale Wiederverbindung zur Schönheit, die Menschen in Form von Kultur schaffen können, ermöglichte. Hach, eine Stunde lang mal nicht realdystopisch abgefuckt Menschen als naturzerstörerische Monster vorstellen, denken, beschreiben, erleben, sondern als Schöpfer*innen lebendiger Schönheit, die eben nicht einfach schon da ist, sondern gemeinsam, im Zusammenwirken erzeugt wird. 

Ich war dabei gar nicht mal die ganze Zeit komplett gebannt; interessanter-, aber irgendwie auch erwartbarerweise ließ die Konzentration auf den Tanz immer etwas nach, wenn der gerade gespielte Tears-for-Fears-Song keiner der persönlichen Lieblinge war. Vermutlich nur bei mir wirkte ins Rezeptionsverhalten auch noch störend mit rein, wenn das Kleid der Solotanzenden einen Ton hatte, der mir unangenehm ist. (Freud hätte mit mir im Bekanntenkreis vermutlich das misogyne Subgenre der Farbhysterikerin zusammenphantasiert.) Beim Tanz der Person im maisgelben Kleid habe ich mich also sogar kurz gelangweilt, wohingegen ich der in Mauve hingebungsvoll in Gedanken nachtanzte. – Bei den Szenen mit dem ganzen Ensemble fügten sich die Farben inklusive Maisgelb aber auch für mich sehr harmonisch zusammen. Außerdem, das fiel mir auf, freue ich mich als Person, die als Kind gehässiges »Männerballett« beim Karneval ertragen musste, im Jahr 2023 immer noch über bärtige Personen in unironischen Glitzerkleidern. 

Es gab Momente von so überwältigender Bewegungs- und Zusammenspielschönheit, dass ich mehrfach Tränen in den Augen hatte. Ein bisschen wie im Wechsel tanzende Diego-Velázquez- und William-Blake-Bilder. (Aber nicht so wie computeranimierte Gemälde, in denen sich die Figuren bewegen: nicht animierte, auch nicht lebende, sondern lebendige Bilder.

[Kein Foto gemacht, so 2023.]

Ich allein wäre beim Applaudieren vermutlich nicht aufgestanden, zu scheu in der Öffentlichkeit und zu 80s-cool-geprägt. Aber ich machte sofort dankbar mit, denn es waren letztlich standing ovations für das Leben und die Schönheit. Bravo! 

Hochkultur, die locker daherkommt, ohne sich genau damit zu brüsten, wirkt zumindest auf mich sehr befreiend. Ein gemeinsames Hochgefühl ist einfach die viel bessere Idee als exklusive Hochnäsigkeit.

Passenderweise traf ich danach im Foyer nach zwanzig Jahren eine der wenigen Kommiliton*innen aus der Literaturwissenschaft wieder, die schon damals eine zugewandte Lebendigkeit ausgestrahlt und keine Distinktionsperformance abgezogen hatte. Bestimmt kein Zufall, sondern Hexenwirken.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat 

»Das siebte bekannte Cryptopoem kann die Welt kaum ertragen. Nicht die Hochhaeuser, angefuellt mit Luxusappartements, gebaut aus giftigem Stahlbeton. Nicht die Horden von Plastikmumien, die als Lebensmittel die Stellagen von Einkaufslaeden bevoelkern. Angewidert betrachtet es die eitle Kunst und alles Politische. Weder neue Musik beruehrt es noch alte. Es will Ruhe. Lasst es endlich in Ruhe!« –Yevgeniy Breyger, Kryptomagie

Yevgeniy Breygers Cryptopoems,erschienen bei mikrotext (Öffnet in neuem Fenster), sind sehr süß, ja, das kann ich so hinschreiben, ganz ohne Sorge, den Autor damit abzuwerten, denn erstens ist er keine Autorin, wird also nicht a priori sexistisch von Verlagsmarketing und Kritik unter Cupcakes begraben, und zweitens sagt das Buch selbst, dass die Cryptopoems süß sind. Sie sind wirklich süß.

Jedes Mal, wenn ich ein sehr kurzes Buch in die Hand nehme, bin ich gespannt, ob ich keine Stunde später ›Was fürn unnötiger Scheiß‹ denken oder durch und durch erfreut sein werde,– bei kurzen Büchern gibt es für mich irgendwie nichts dazwischen. Kryptomagie las ich in zehn Minuten, in der Mitte meines Zimmers stehend, während ich eigentlich aufräumte. Danach war ich durch und durch erfreut. 

Etwas Uncooles: Gute Polizei, schlechte Polizei 

Die Polizei ist nett zu mir, immer schon gewesen (Ausnahme: mein Onkel). Polizist*innen in martialischer Schutzausrüstung grüßen mich freundlich, wenn ich bei Demonstrationen an ihnen vorbeigehe. Eher muss ich mich, weil äußerlich brav und ein bisschen schick, vor einem mitdemonstrierenden, zu dichotomisch denkenden Punk legitimieren als vor ihnen. Polizist*innen finden mich aufgrund meiner Looks und meines Habitus spontan vertrauenswürdig, niemals würden sie mir unterstellen, dass ich so eine gegen Polizeigewalt anschreibende, nervige »linksradikale« Person aus dem Internet bin. 

Die spontan gute Behandlung der Polizei erstreckt sich auf meine ganze Familie. Mein Mann hatte vor einiger Zeit einen üblen Fahrradunfall direkt vor einer Polizeiwache und wurde umstandslos und sehr nett von den Beamt*innen versorgt.  

Als eines meiner Kinder alterstypischen Ärger mit dem Gesetz hatte – das passiert in Berlin ziemlich oft und wird auch nicht so locker genommen, wie man in Bayern denkt –, und wir zu einem Läuterungsgespräch mussten, war die Beamtin ein bisschen streng und deutlich, aber zugewandt und nett. Sie sagte neben Erwartbarem auch etwas, das ich überraschend plausibel fand und später ein paar Mal gegenüber den Kindern zitierte: »Chillen, ja, schön und gut, aber man darf es als Komplettbeschäftigung nicht zu lange machen, sonst ist es sehr schwer, wieder rauszukommen.« Was aber im heutigen Kontext interessiert: Mein Kind wurde damals auf der Polizeiwache nach kurzem, pädagogisch motiviertem Einschüchterungs-Talk spürbar als Person behandelt, der man Läuterung zutraute, auch, weil, das wurde deutlich, eine stabile aka bürgerliche Familiensituation unterstellt wurde. Die zu dieser Unterstellung hinführende Frage lautete: »Wohnst du in einer Wohnung oder in einem Haus?«, meines Erachtens ein zweifelhaftes Kriterium, denn wir könnten in unserem Haus ja auch übers Internet eine rechte Terrorgruppe organisieren, hinten im Garten verbotene Hunderassen züchten oder im Keller Meth kochen. 

Als ich im November in Berlin den Notruf rief, um in München die Polizei zu meiner nicht erreichbaren Mutter zu schicken, waren alle Beteiligten auf beste Weise professionell, zugewandt, respektvoll, hilfreich. Meine Mutter und auch ich mussten nicht noch mehr leiden, als wir es ohnehin schon taten. Alles top. 

Meine Premiumbehandlung durch die Polizei gerät grundsätzlich nur, dann aber gewiss ins Wanken, wenn ich nicht allein bin bzw. Personen mit nicht »weißbürgerlichen« Looks bei mir sind. Es geht schon los, wenn meine Freundin S. neben mir demonstriert und gerade rosa Haare hat, nein, es genügt auch schon, wenn sie schwarze Kleidung trägt. 

ANTIFA! ***Alarmsirenengeräusch***

Plötzlich wird uns von Polizist*innen der Weg runter zur U-Bahn versperrt, auf dem wir zu einem anderen Punkt der Demonstration gelangen wollen. Zählt denn jetzt gar nicht mehr, dass ich in einem Haus lebe, also eine gute Bürgerin sein muss? Ich bin verwirrt.

Auch für mein Kind, das in den Augen der Polizei zwar schon mal Mist gebaut hat, aber letztlich doch ein gutes Kind ist, weil es in einem Haus lebt, ändert sich alles, wenn es mit den Freund*innen unterwegs ist, die fast alle nicht weiß sind. Polizeikontrollen stehen an der Tagesordnung. Mein Kind ist kein anderer Mensch, wenn die Freund*innen dabei sind, aber erlebt mit ihnen eine kategorial andere Behandlung, weil es – context matters – einer Gruppe zugerechnet wird, die von Polizist*innen autmatisch geothert wird: »die«, ja, die kontrolliert man mal besser, trifft bestimmt nicht die Falschen. (Falsch, falsch im Job, sind in Wirklichkeiten die, die so vorgehen.)

Mein Vorwurf gegen die Polizei lautet also nicht, dass Beamt*innen ihren Job grundsätzlich nicht gut machen, sondern dass sie ihr professionelles und auch mitmenschliches Verhalten mehrheitlich unzulässig daran koppeln, welche Menschen(gruppen) vor ihnen stehen. Sie bevorzugen bürgerliche Weiße, denen man die Bürgerlichkeit auch ansieht. Links aussehenden Weißen sprechen sie implizit die Grundrechte als Menschen ab und BIPoC – das ist kategorial anders und deshalb a priori lebensgefährlich – erst gar nicht zu. (Dazu müssen Beamt*innen leider selbst weder weiß sein noch aus bürgerlichen Verhältnissen stammen.) Gute Polizeiarbeit ist, dass kann aus diesen Erfahrungen geschlossen werden, aktuell viel zu sehr an ein bestimmtes Image von guten Bürger*innen gekoppelt. Das aber widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Ich korrigiere mich, denn daraus muss ich nun doch den Vorwurf gegen die Polizei ableiten, dass Beamt*innen ihren Job grundsätzlich nicht gut machen, denn der Gleichheitsgrundsatz steht über allem.

Es gibt gerade eine Imagekampagne der Bundespolizei, in der sie ACAP: ALL COPS ARE BEAUTIFUL wirbt. Kurz nach der Ermordung von George Floyd nutzte bereits die Junge Union auf Instagram diesen respektlosen Slogan. (Ich verlinke das beides nicht, will rassistischem Aufregungsmarketing keinen Traffic beschaffen.) Sich kritische Fremdbezeichnungen positiv umgewendet anzueignen, ist eine subversive Strategie von marginalisierten Gruppen. Bei einer Behörde ist es aber unangemessen und A(RG) C(RINGE) A(LLE) B(U...NDESPOLIZEI), denn es zeigt, wie wenig reflektiert und sogar bockig Verantwortliche mit berechtigter Strukturkritik umgehen. Die Plakatkampagne könnte gut von der gleichen Koksagentur stammen, die gerade die rassistische CDU-Wahlwerbung in Berlin verbrochen hat. Man kennt diesen frivolen Prank-Move auch von gewissen Chefredakteuren.

Ja, ich bin tatsächlich froh, dass Polizist*innen mich auf Demos nicht zusammenknüppeln und mir professionell helfen, wenn ich um Hilfe bitte. Dankbar bin ich für diese im Vergleich bevorzugte Behandlung nicht, und ich werde die Polizei erst dann nicht mehr heftig kritisieren, wenn sie kulturell gelernte, in der Ausbildung bestätigte sowie in Arbeitsmaterialien Tag für Tag weiter vermittelte und betonierte Diskriminierungsstrukturen untersuchen, bearbeiten und überwinden. Eine Polizei, die das nicht hinbekommt, muss weg. Ihre Wahl.

Rubrikloses

Falls ihr gerade einen uplifting Herumtanzsong gebrauchen könnt, ist »Lady Bug« eine echte Empfehlung. Der Text ist zwischendurch zwar ein bisschen sehr cis-het-konventionell, aber alles zusammen ist wirklich cute und 1a disco.

https://open.spotify.com/track/3SKGZkPrxSCP3tmypixVDB?si=95a1657dd93548ce (Öffnet in neuem Fenster)

Ein dauerhaftes Problem habe ich aber trotzdem mit dem Song: Auch beim millionsten Hören macht mich immer noch fertig, dass der Text nicht lautet, »Just let me be your lady bug / Twenty-four hours a day I give you luck«, sondern »Just let me be your lady bug / Twenty-four hours a day I give you love«.  

Wie viele Menschen sehe ich mir gar nicht mal so selten Tatort an, tue aber so, als würde ich nie Tatort sehen. Aber ich sehe auch nicht wirklich Tatort, sondern höre nebenbei beim Aufräumen, Putzen oder Rumkruschen dem Film zu, so wie ich mittlerweile fast alle audiovisuellen Medien konsumiere. Meist mag ich den Tatort nicht, es ist also so ein komisches Gewohnheitsding, das inhaltlich keinen Sinn ergibt. Immerhin twittere ich nicht darüber, wie schlecht, sehr schlecht, megaschlecht ich einzelne Folgen fand. Jetzt habe ich diesen Tatort mit der Baugruppe gesehen und der hat mir – huch! – gut gefallen. Klar, das Ganze ist natürlich im Ansatz bei Stellings Bodentiefe Fenster abgekupfert, aber davon abgesehen, fand ich es für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich ambivalent, also gut erzählt. Und ich war total begeistert von Christiane Rösingers Schauspiel. Ich wusste gar nicht, dass sie das auch macht (und kann). Wie sie so ganz darauf verzichtet, zwinkazwonka mitzuerzählen, dass sie in Wirklichkeit GANZ ANDERS  ist und wie sie da plausibel eine ältere Person als in einer ganz neuen Weise vorbildlich verkörpert, das hat mir ernsthaft Freude gemacht. 

Hashtag nur noch Haschtag aussprechen. Alle flippen völlig aus, aber vergessen es gleich wieder, weil man am Haschtag leicht mal etwas vergisst.

Guerlica

Zurück zu den Verantwortungslosen, denen, die Verantwortung als schreckliches Los empfinden. Wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

Wenn ihr in der Hamburger Kunsthalle die Femme-Fatale-Ausstellung (Öffnet in neuem Fenster) anseht, trefft ihr im Museumsshop die Girls-Bücher. 

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