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Folge 33

Etwas Altes: Hybrid Berlin

Lange Zeit kam nach Berlin, wem etwas nicht passte oder wer selbst nicht passte. Menschen, die nicht zur Bundeswehr oder keine Lehrstelle bei der Kreissparkasse wollten. Queere Menschen. Vielfältig »missratene Kinder« von bürgerlichen Eltern, die sich ihren Nachwuchs ganz anders vorgestellt hatten, konventioneller, »normaler«, halt so, »wie es sich gehört« und wie es »richtig« ist. Neben den offiziellen Problembären kamen auch die nach Berlin, denen Hochzeit, Hausbau und Kinderzeugen nicht erstrebenswert erschienen, weil sie sich nach etwas anderem sehnten, nach anderer Musik, anderen Drogen, anderen Menschen.

Im schrecklichen Sinne einer Sibylle Lewitscharoff wären all diese Neuberliner*innen permanente oder temporäre »Halbwesen«, also keine vollwertigen Menschen. Tatsächlich ist diese Meinung sogar in gewisser Weise kongruent mit dem Selbstbild der Genannten, weil diese sich am Ursprungsort ja selbst »nicht richtig« fühlten, »nicht Fisch nicht Fleisch«, »nichts Halbes und nichts Ganzes«, »zwischen den Stühlen«.

Das Gute ist, dass sich dieses gefühlte Defizit in der ästhetischen Atmosphäre Berlins in eine positive Qualität verwandelt. Berlin liebt Halbwesen und Hybrides, weil Berlin selbst eine Zwischenwelt ist, in der die Nacht zum Tag gemacht wird, Geschlechtergrenzen verschwimmen, und der Rausch erhebliche Realität besitzt. Dies äußert sich nicht zuletzt in hybriden Styles. Im Bademantel zum Späti und im Glitzerfummel zu Aldi? Kein Problem. In Berlin darf man vestimentär alles und diese Freiheit wird nach allen Regeln des Unschicks genutzt. Klassisch schön ist das meist nicht, aber Freiheit ist eben anders schön.

Durch den steten Zufluss schräger Gestalten, die überall sonst als unpassend empfunden worden wären, wurde Berlin zur untypischsten deutschen Stadt überhaupt. Das galt in den 1920ern und wieder seit den 1960ern, das traf auf Berlin zu, dann auf West- und Ostberlin, das trifft jetzt wieder auf Berlin zu.

Dies rührt auch daher, dass viele zugezogene Hybridmenschen erhebliche Mengen lange zurückgehaltener Energie im Gepäck hatten, Energie, die sich nun entladen konnte, oft explosionsartig: in Kreativität, in Rausch, manchmal auch in Aggression. Der 1. Mai ist über Jahrzehnte hinweg der performativ höchste Feiertag Berlins gewesen, weil er die vielen individuellen Energieentladungen gebündelt, ritualisiert und im Kollektiv erfahrbar gemacht hat. Berlin ist eine brennende Stadt, auch wenn keine Autos in Flammen stehen. Es brennt, weil die Menschen hier brennen, inwendig – nicht alle natürlich, aber wenn man den kreativen Output betrachtet, sind es doch ziemlich viele. Das ist es, was die Leute nach Berlin zieht, das ist es, woran sie, solange sie hier sind, mitwirken und das ist es, womit sie selbst die nächsten brennenden Menschen nach Berlin holen. Manche verbrennen auch an den Drogen oder anderen Berliner Intensitäten, andere erlöschen, besinnen sich und kehren geschwind nach Hause zurück. Sie gehen nach Früher, wo sie nun doch irgendwie passen. Berlin war nicht das Richtige, sagen sie. Sie waren nicht die Richtigen, sagt Berlin. Sie haben alle Recht.

Es gibt weltweit sehr viele Menschen, die sich mit Berlin identifizieren, mitunter noch, bevor sie das erste Mal hier gewesen sind. Nicht nur deswegen ist es sinnlos, auf verblassenden Schildern an der Stadtgrenze Be Berlin zu fordern, denn nichts ist unnötiger und nichts passt weniger zu Berlin als eine Imagekampagne. Berlin kümmert sich selbst ganz hervorragend um sein Image. Es hat heimliche Markenbotschafter,*innen die man sich besser nicht ausdenken könnte. Sie heißen Christiane F. und David Bowie. – Sind wir nicht alle in Tagträumen mit der coolen Clique zu »Heroes« durchs Europa-Center gerannt?

https://www.youtube.com/watch?v=PxHVxsT228g (Öffnet in neuem Fenster)

Aber, aufgepasst, future Berliners. Die Christiane F., die ihr im Satinblouson und mit dünnen Heroinbeinen re-enacten wollt, die gab es gar nicht, die ist ein Medienimage. Auch David Bowie lebt nicht mehr in Berlin, und zwar nicht erst seit seinem Tod. – Leider ist es nötig, dies auszusprechen, denn Manhattaner Neuberliner auf Drogen-Come-down greinen tatsächlich in der U-Bahn: »Where are the David Bowies today?« Ich habe es selbst erlebt.

Die Unpassenden und Brennenden zieht es immer noch nach Berlin, weil die Stadt nach wie vor ein vergleichsweise freier Ort ist. Anders als früher, ist Berlin dank niedriger Immobilienpreise heute aber auch ein Ort, um Geld zu machen und zu investieren. Die beiden prominentesten Gruppen von Neuberliner*innen sind die mehr oder weniger jungen Familien aus dem süddeutschen Raum, genannt »die Schwaben« und die internationale »Start-up-Szene«. Die englischsprachige Community fühlt sich nicht nur wegen der günstigen Gewerbemieten so wohl in Berlin, sondern auch weil die Stadt in ihrem undeutschen Sonderstatus, mit ihren anderen Menschen, ihrer anderen Musik und ihren anderen Drogen atmosphärisch New York und San Francisco ähnelt, die ihrerseits als untypisch für die USA gelten. (Wenn da nur nicht die lästigen Deutschen wären, aber das ist ein anderes Thema.)

»Die Schwaben« und »die Start-up-Szene«-Menschen haben eine ganz neue Form der Andersheit nach Berlin gebracht, die von alternden Punks und Raver*innen sehr kritisch beäugt wird. Das neue Berlin scheint ihnen allzu gleichmacherisch, glatt und angepasst zu sein. »All diese Hornbrillen, Strickjacken, teuren Sneakers, Dutts und Bärte. Doppelgänger ohne jeden ästhetischen Eigensinn. Wir waren da ja noch ganz anders und haben, es gab ja nichts Krasses zu kaufen, alles selbst gemacht. DIY, das kennen die doch gar nicht mehr. Tragen alle den gleichen langweiligen Kram von der Stange.« So hört man sie klagen, die Hüter*innen kreativer Andersheit, die sich damit, ohne es zu wollen, performativ als neues gegenkulturkonservatives Establishment entpuppen.

Man kann es ihnen aber auch irgendwie nachfühlen, denn plötzlich sind da Styles, ist da ein Lifestyle angeblich »typisch Berlin«, der als Outsider*innen nicht mehr wie früher »die da in Westdeutschland« ausmacht, sondern »die damals vor dem Netz«, denn Berlin liegt heute, wenn man aus einer bestimmten Perspektive beobachtet, nicht mehr in Deutschland und auch nicht mehr in Europa, sondern im Internet. Die Styles seiner transnationalen Bevölkerung sind die digitalglobal akzeptierten. Man trägt und ist Preppyhipsternormcorenerd, gern einen Hauch granny-vintage-runtergekommen. Vielleicht ist Letzteres doch wieder eine, wenn auch zarte, Anklammerung ans klassische Berlin-Image – es ist und bleibt alles Ansichtssache.

(2014)

*

Diesen Text habe ich hervorgekramt, weil die Nichtkönigin der Herzen, Lady Giffey, jüngst etwas zu einem »gewissen Stil« anmerkte, den man tunlichst auch in Berlin haben sollte, als ob es den nicht längst geben würde. »Hybrid Berlin« ist Teil des von mir herausgegebenen E-Books Berlin Unschick, ich habe den Text fürs Posten hier leicht überarbeitet, denn es waren noch Begriffe und Schreibweisen drin, die ich nicht mehr zutreffend finde, ja, auch ich achte auf einen gewissen Stil, er nennt sich Menschen zuhören und mit der Zeit gehen. An den Ausführungen über Mieten im Text merkt man, dass die Stadt sich seither wieder sehr verändert hat, aber so einen Mist wie Giffey muss man trotzdem nicht von sich geben.

Etwas Neues: Das Ende des Axeltums

Es war ein wirklich krasser Dialog. Irgendwann letztes Jahr, mitten in irgendeinem Lockdown, ich in der intensiven Frühphase mit Animal Crossing New Horizons, meinem Coronazeit-Copingmittel Nummer eins, aka mit Switch im Bett liegend, sage begeistert zu meinem hereinkommenden Mann: »Endlich zieht Axel weg, dann ist meine Insel dude-frei.« Er erwidert nachdenklich: »Was ich mich frage, wäre ich ein Villager auf deiner Insel, würdest du mich auch wegschicken?« Ich halte inne, überlege, zögere, erwäge kurz eine soziale Notlüge und sage dann: »Wenn ich ehrlich bin, ja.« 

In einer Serie wäre jetzt ein heftiger Streit losgebrochen, und man hätte sich scheiden lassen, vorher wäre noch herausgekommen, dass mein Mann Bigamist ist und ich CIA-Agentin. So aber war mein Mann verständlicherweise nur leicht betreten, und ich hatte ein leicht schlechtes Gewissen, beides aber nur kurzfristig, denn ich konnte, glaube ich, ziemlich gut erklären, warum auf Laseronia, so heißt meine Insel, für jetzt und alle Ewigkeit keine klar erkennbaren cis male Villager mehr residieren werden. Es hat mit ungewollter Nähe zu tun, mit Troll-Twitter, nicht mehr freiwilligem Homeoffice und Corona-Abi-Begleitung. Verkürzt gesagt, fühlte sich seit Corona mein Leben in allen Welten mehr als früher wie eine Maskubude an, und ich brauchte einen Raum mit komplett anderem Vibe, und zwar bewusst einen anderen Raum, der mir etwas gibt, aber anderen nichts nimmt, zumindest denen nicht, die ich liebe: Mann-Dude, Sohn-Dude 1, Sohn-Dude 2, Katzen-Dude. Den immer zudringlicher werdenden Erklärbären, edlen Rittern und offiziellen Trollen auf Twitter habe ich schon sehr gern etwas genommen: die Möglichkeit, mit mir zu interagieren. 

Laseronia sollte von Anfang etwas werden und sein, das ich sonst gar nicht kenne und früher auch nicht zu brauchen dachte: eine Art Spa, wo man wenig redet und wenn, dann nur lieb, wo es keine Competition gibt, keinen Ehrgeiz, keine Gewalt – ich habe auch relativ schnell alle kapitalistischeren Spielzüge gekappt. Ich wollte auf meiner Insel einfach nur unkommentiert vor mich hin gestalten und laufen und schwimmen und liegen und mit niedlichen Villager*innen abhängen. Meine Ruhe haben, in Ruhe sein. Und mit meinen Freund*innen in der Spielgruppe (Name: ACNH Twitter-Sanatorium) darüber sprechen. Zu meiner unangenehmen Überraschung gab es aber Villager, die mir auf eine Weise zu nahe traten, die ich mir auch im RL nicht gefallen lasse. Über die professionellen Nerv-Dudes im Spiel, wie den Richard-David-Precht-Otter, die Ben-Becker-Möwe und den Dennis-Scheck-Eulerich, schreibe ich ein anderes Mal. Heute erkläre ich euch anhand von Bildern, warum der Resident-Dude Axel wegmusste. OMG, es war so ein langwieriges Unterfangen, ihn loszuwerden. Ich musste dafür cheaten aka zeitreisen, aber ich bereue nichts. Mein Spiel, meine Regeln. 

Zuerst hatte ich in deutscher Sprache gespielt, möglicherweise war Axel der Grund, dass ich ziemlich bald ins Englische wechselte, um etwas Distanz zu bekommen. Little did I know. Das Axeltum ist nicht an eine bestimmte Sprache gebunden.

Axel, wie er ungefragt einen Blick auf meinen Text wirft

Axel, wie er bei Regen nervt

Axel, wie er bei Sonnenschein nervt.

Axel, wie er im Mondlicht nervt

Axel, wenn ich nachts alleine schwimmen gehen möchte

Axel, wie er leibt und nervt

 

Axel, der Elefant im Raum, leider nicht unsichtbar

Ich, wie ich immer häufiger erstarrt vor Axels Haus rumlungere und darauf hoffe, dass er rauskommt und mir erzählt, dass er umziehen möchte

Ich, wie ich erwäge, dafür zu beten, dass er umziehen möchte

Nichts aber liegt Axel ferner als Umziehen, für ihn läuft es ja super, er liebt einfach alles. Pumpen, mansplainen, mit nacktem Unterkörper rumlaufen, dass ich ihm nicht entrinnen kann. Ich hasse ihn.

Ich, während ich eine Gewaltphantasie habe

Ich, wenn ich gefühlsmäßig noch nicht erfasse, dass der ersehnte Moment endlich gekommen ist

Ha ha! Oh, wow, Axel. YOUre excited?  Me too. Safe travels.

Etwas Geborgtes: Ein Zitat

»Karin sieht eigentlich ganz gut aus, mit ihrem blonden Pagenkopf. Bißchen zuviel Gold an den Fingern für meinen Geschmack.« – Christian Kracht, Faserland 

Ich:

Etwas Uncooles: Zwei Lebensmittelkritiken

Normalerweise melde ich mich zum Thema Lebensmittel nur mit subjektiven Empfehlungen, weil ich von Food nur insofern etwas verstehe, als ich gern und viel esse. Davon weiche ich heute ab, weil ich euch wirklich davon abraten muss, einen Gouda-Knuspertaler mit Brezelpanade der Marke Rotkäppchen zu essen, er schmeckt, als würde man an einem Brühwürfel lecken. Wie so eine Nightmare-Schöpfung aus einer Unimensa. Pfui. 

Meine zweite Kritik ist harmloser und bezieht sich darauf, dass man Ahoi-Brausebonbons Himbeer und Cola optisch fast nicht mehr unterscheiden kann, was in meiner Familie zu großer Konfusion führt. Es ist sicherlich löblich, nicht mehr Tonnen hochgiftiger Farbstoffe in ohnehin ungesunde Süßwaren zu schütten, aber es muss auch im Jahr 2021 noch möglich sein, ohne Schweinwerferlicht Rosa und Braun zu unterscheiden. Für ein brauchbares ungiftiges Rosa empfehle ich als Farbstoff Rote Beete. 

Rubrikloses

Warum heißt es Paket mit Blumenzwiebeln von Ute Weber und nicht kartoniertes Glück

Verlagsnews

Beide neue Titel, Warum heißt es Traum und nicht Memoryschaum (Öffnet in neuem Fenster) von Gabriel Yoran und Christoph Rauscher und Farcen-Generator (Öffnet in neuem Fenster) von Lillian-Yvonne Bertram sind eingetroffen und werden an die Menschen, die vorbestellt haben, verschickt – hoffentlich kommt heute noch mein Labeldrucker, denn DinA4-Seiten ausdrucken, zerschneiden und mit Klebestift aufpappen ist langsam nicht mehr lebbar. 

Letzte Woche ist mir so richtig klar geworden, dass der Frohmann Verlag nächstes Jahr zehn wird und ich freue mich sehr darauf, es grenzt ein bisschen an ein Wunder. Ein perfekter Anlass, um 365 neue Dinge anzufangen – ca. 183 Ideen habe ich schon –, aber erst muss ich noch brav alles Offene abarbeiten.  

#10JahreFrohmann

 

Guerlica

(Aus: Präraffaelitische Girls erklären das Internet (Öffnet in neuem Fenster))

Zurück zu den Duckfacen, zum Ducken und Facen, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.

XOXO,
FrauFrohmann

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