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Über Bäuche und Begehren

Ich bin jetzt vierzig, sagt der Mann, ab jetzt bekomme ich einen Bauch.

Er sagt es nicht bedauernd, sondern eher, und das lässt mich hellhörig werden, mit einer gewissen Zufriedenheit.

Untersteh dich!, antworte ich.

Aber warum, sagt er, das ist nun mal der Lauf der Welt.

Ja, da ist allerhöchstens eine Spur von Bedauern in seiner Stimme, aber vor allem, ich habe mich nicht verhört, Zufriedenheit.

Es ist ein Naturgesetz, ergänzt er.

Nicht mit 40, sage ich, nicht mit 50, mit 60, mit 70 oder mit 80. Bei 90 können wir vielleicht noch einmal neu verhandeln.

Mit 90 bin ich statistisch gesehen bereits tot!, empört er sich.

Dann musst du dich eben ein bisschen anstrengen, nicht zu sterben, befinde ich.

Ist das mitleidslos? Lässt das auf eine mindestens oberflächliche, wenn nicht sogar diskriminierende Einstellung zum Thema Körperfett schließen? Verlasse ich meinen Mann, wenn er es wagt, sich vom gängigen Schönheitsideal abzuwenden?

Ich beginne die Geschichte noch einmal von vorne, ganz von vorne, in der Zeit, in der ich noch dachte, ich und alle anderen, die auch nur etwas auf sich hielten, würden auf jeden Fall mit 27 sterben, also in der Zeit, in der ich noch sehr jung und dementsprechend dumm war.  

Also tat ich das, was alle Mädchen tun: ich schwärmte für die hübschen Jungs. Es mussten solche sein mit langem Haar und verwegenem Blick, geradewegs den Seiten eines Fantasy-Romans entsprungen.

Lange Zeit schwärmte ich scheu aus der Ferne oder am besten gleich ganz gefahrlos für Charaktere aus Papier und Buchstaben. Und dann begannen die hübschen Jungs plötzlich, für mich zu schwärmen.

Ich hinterfragte das nicht, sondern nutzte es pragmatisch aus, um meine Fantasien in fleischliche Erfahrungen zu transferieren. Und lernte, sehr schnell und schmerzhaft, dass alle Bücher und bewegte Bilder, die atemlose Leidenschaft der Interaktion zwischen ausschließlich perfekten Körpern zuschreiben nur eines verlässlich tun: lügen.

Da war der eine mit den Muskeln aus Stahl und dem blonden Heldenhaar, dessen Konversationen sich ausschließlich um Kalorien, Protein und Automarken drehten und der sich seinen Penis desinfizierte. Dementsprechend steril waren auch die anschließenden Tätigkeiten damit.

Ein anderer sah aus wie ein düsterer Gott, was aber vor allem daran lag, dass er nur diesen einen Gesichtsausdruck und einen genauso begrenzten Wortschatz hatte, und übrigens auch nur eine Position im Bett, und zwar ausschließlich im Bett unter der Decke und auf keinen Fall ganz nackt.

Oder der mit den breiten Schultern und Schar weiblicher Fans um sich, der den Mund aufmachte und wie ein schwäbisches Mädchen klang, was für schwäbische Mädchen ja echt ok ist, aber für niemanden sonst.

So reihten sich Enttäuschungen aneinander wie fade Perlen einer öden Kette.

Bis irgendwann einmal da so ein Kleiner, Dicker auftauchte, der hässliche bunte Hemden trug, zu viel rauchte, zu viel soff, und in jedem Film nichts anderes hätte sein dürfen als der witzige, aber unbegehrenswerte Sidekick. Und er konnte witzig sein, auf die geistreiche Art, aber er konnte auch Begehren entfachen, mit seinem Lächeln und seinen Berührungen und Worten, und am nächsten Morgen wachte ich auf und dachte. Aha, das ist also guter Sex! Er muss nicht hübsch aussehen. Möglicherweise darf er nicht mal hübsch aussehen, um gut zu sein.

Ab da empfand ich nie wieder romantische Wallungen, wenn ich einen schönen Mann anschaute.

Unterwäschemodels lassen mich kalt. Sahneschnittchen gibt es nicht in meinem Wortgebrauch. Ein Six Pack bewundere ich für die harte Arbeit, die darin liegt, aber es macht mich nicht feucht.

Nichts gegen körperliche Schönheit. Schönheit und sexuelle Attraktivität schließen sich auch nicht aus, zum Glück. Ich verbinde sie nur nicht mehr automatisch miteinander.

Warum verbiete ich also meinem Mann den Bauch?

Es gibt tausend Dinge, die einen Menschen attraktiv machen können.

Mein Mann wird schön, wenn er sich bewegt. Egal, welchen Sport er macht, wenn er sich bewegt, liegt Poesie darin. Und Freude. Und Glück. Und mich macht es glücklich, ihm zuzusehen.

Ich glaube, jeder von uns hat etwas, das ihn auf diese Weise schön macht. Und ganz oft geben wir das irgendwann auf, weil wir einfach allgemein aufgeben, jedes Jahr ein wenig mehr. Und weil uns suggeriert wird, dass es normal ist, das zu tun.

Dafür bist du jetzt wirklich zu alt… wer hat den Satz nicht bereits schon im Alter von sieben Jahren spätestens gehört? Und hört ihn immer wieder.

Jedes Jahr sind wir entweder zu alt für etwas, das Spaß macht, oder alt genug, um irgendetwas akzeptieren zu müssen.

Aber ich akzeptiere das Alter nicht als Ausrede, um aufzugeben. Und auf keinen Fall den Teil von uns, der uns lebendig und schön macht.

Und wenn ich jemanden liebe, dann bin ich nun einmal besonders streng. Wenn ich jemanden liebe, dann erlaube ich nicht, dass er sagt: Jetzt bin ich 40, jetzt fange ich an zu sterben.

Als wir abends auf der Couch liegen, also der Mann auf der Couch und ich auf dem Mann, denke ich, dass es eigentlich ganz nett ist, auf einem so großen, warmen und ein bisschen weichen Mann zu liegen.

„Vielleicht kannst du den Bauch auch schon früher bekommen“, murmle ich schläfrig, „vielleicht mit 60 oder so.“

„Du bist ganz schön egoistisch“, sagt der Mann, aber es klingt zufrieden. Wahrscheinlich hat er diesmal recht.

Und irgendwie bin ich gerade sehr froh, dass ich nicht schon mit 27 gestorben bin.

Kategorie Trotzigschön

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