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Die Debatte um die "Leitkultur": Ein Mythos ohne Substanz?

Das Bild zeigt mehrere liegende Bücher zu hohen Stapeln errichtet, welche nebeneinander liegen. (Öffnet in neuem Fenster)

Der Begriff "Leitkultur" ist seit den frühen 2000er-Jahren fester Bestandteil politischer Debatten, insbesondere seit Friedrich Merz ihn prominent ins Spiel brachte. Bis heute bleibt er jedoch inhaltlich unscharf und umstritten.

Ursprung und ursprüngliche Bedeutung

Der Begriff wurde 1998 von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi geprägt. Ursprünglich stellte Tibi die Frage nach einer gemeinsamen europäischen, interkulturellen Identität, um eine Antwort auf die von ihm diagnostizierte Identitätskrise Europas zu finden. Dabei ging es um Migration und Integration, jedoch nicht um eine nationale Abgrenzung oder Exklusivität. Die heutige politische Verwendung des Begriffs entfernt sich somit deutlich von seinem ursprünglichen Kontext.

Kulturelle Identität: Mehr als nationale Symbole

Politische Diskussionen über Kultur und Identität konzentrieren sich häufig auf greifbare Symbole wie kulinarische Spezialitäten. Doch sind Schnitzel, Bratwurst und Bier tatsächlich Ausdruck einer deutschen Leitkultur?

Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Beispiele eher von kulturellem Austausch als von einer nationalen Exklusivität zeugen. Das Schnitzel hat seine Ursprünge in der österreichischen Küche und wurde in Deutschland durch die Lebensmittelindustrie angepasst. Bier hingegen lässt sich bis zu den Sumerern und Ägyptern um 3500 v. Chr. zurückverfolgen und gelangte erst Jahrhunderte später nach Europa. Dies verdeutlicht, dass Kultur nie statisch ist, sondern sich über Austausch und Entwicklungen hinweg verändert.

Was ist Kultur?

Der Begriff "Kultur" ist vielschichtig und lässt sich nicht auf einzelne Traditionen oder Bräuche reduzieren. In seinem weitesten Sinne beschreibt Kultur alles, was durch menschliche Tätigkeit geschaffen, gepflegt oder verändert wurde – im Gegensatz zu unveränderten natürlichen Gegebenheiten. Dies umfasst soziale Strukturen, Sprache, Kunst, Religion, Wissenschaft und Werte. Kultur ist somit ein dynamischer Prozess, der sich durch Interaktion und Offenheit weiterentwickelt.

In der politischen Debatte wird Kultur jedoch häufig als Mittel zur Abgrenzung verwendet. Dies steht im Gegensatz zur tatsächlichen Natur von Kultur, die stets durch den Austausch mit anderen Gesellschaften geformt wurde.

Der politische Gebrauch des Begriffs "Leitkultur"

Trotz der unklaren Definition wird der Begriff "Leitkultur" immer wieder von konservativen und rechten politischen Strömungen aufgegriffen. Er bleibt dabei bewusst vage, sodass jede:r ihn individuell interpretieren kann. Dies ermöglicht eine Abgrenzung zwischen einem diffusen "Wir" und "den Anderen", ohne eine konkrete inhaltliche Festlegung vorzunehmen. Eine klare Definition würde zwangsläufig bestimmte Gruppen ausschließen – und könnte politisch kontraproduktiv sein. Das Zentrum für Kultursemiotik der Universität Potsdam beschreibt dies treffend als den "Mythos deutsche Leitkultur".

Grundgesetz als verbindendes Element

Anstelle einer nebulösen "Leitkultur" gibt es bereits ein klar definiertes Fundament des gesellschaftlichen Zusammenlebens: das Grundgesetz. Artikel 1 – "Die Würde des Menschen ist unantastbar" – bildet die Basis für eine offene, demokratische Gesellschaft und könnte als übergreifendes Leitprinzip verstanden werden.

Eine zukunftsweisende kulturelle Debatte sollte sich daher weniger um exklusive Identitätskonstrukte drehen, sondern vielmehr um Bildung, soziale Teilhabe und interkulturelle Verständigung. Ein verbesserter Zugang zu kulturellen Angeboten und eine Stärkung von Kunst- und Musikunterricht in Schulen könnten dabei helfen, gesellschaftliche Integration zu fördern und extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken.

Fazit: Ein Nebelwort ohne Substanz

Die Debatte über "Leitkultur" lenkt von wichtigeren Fragen ab – etwa von der Notwendigkeit einer ethischen Auseinandersetzung mit Migration, sozialer Gerechtigkeit und interkultureller Bildung. Kultur ist kein statisches Konzept, das politisch definiert werden kann, sondern ein dynamisches Wechselspiel aus historischen Entwicklungen, gesellschaftlichem Wandel und globaler Vernetzung.

Anstelle einer rückwärtsgewandten Diskussion über vermeintlich nationale Kulturmerkmale wäre es zielführender, über die Werte einer offenen Gesellschaft nachzudenken – und wie diese aktiv gefördert werden können.

Kategorie Kultur

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