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„Wir haben aus unserem Leben eine Turnübung gemacht“

Die französische Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und Mystikerin Madeleine Delbrêl (1904 bis 1964) über Rhythmus und Lebenskunst

Taktvoll 🎼

Es gibt Zeiten, da braucht es die Absage an die Angst, Verbissenheit und Verlorenheit. Es gibt Zeiten, da braucht das Leben Zusagen, Vertrauen, Leichtigkeit und Sinn:

„Um gut tanzen zu können – mit dir, Herr, oder auch sonst,

braucht man nicht zu wissen, wohin der Tanz führt.

Man muss ihm nur folgen,

darauf gestimmt sein,

schwerelos sein,

und vor allem: Man darf sich nicht versteifen.

Man soll dir keine Erklärung abverlangen,

über die Schritte, die du zu tun beliebst,

sondern ganz mit dir eins sein – und lebendig pulsierend

einschwingen in den Takt des Orchesters, den du auf uns überträgst.

Man darf nicht um jeden Preis vorwärts kommen wollen.

Manchmal muss man sich drehen oder seitwärts gehen.

Und man muss auch innehalten können

oder gleiten, anstatt zu marschieren.

Und das alles wären ganz sinnlose Schritte,

wenn die Musik nicht eine Harmonie daraus machte.

Wir aber, wir vergessen sofort die Musik deines Geistes.

Wir haben aus unserem Leben eine Turnübung gemacht.“

(Madeleine Delbrêl: aus dem „Ball des Gehorsams“)

An diesem 24. Oktober jährte sich der Geburtstag von Madeleine Delbrêl zum 120 Mal. Die Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und Mystikerin wurde 1904 in der südfranzösischen Kleinstadt Mussidan geboren. Sie starb 1964 in Ivry in der Nähe von Paris.

Schwarzweißfoto einer jungen Frau mit kurzen, dunklen Haaren, die in die Kamera lacht. (Öffnet in neuem Fenster)
Madeleine Delbrêl (1904 bis 1964), Foto: Screenshot, Film Madeleine Delbrêl, l'amour à l'oeuvre

Die schriftstellerisch und musikalisch begabte Madeleine studierte zunächst Kunst und Philosophie an der Pariser Universität. Als sich ihr Verlobter Jean Maydieu von ihr trennte und in ein Kloster eintrat, wandelte sich Madeleines Leben von Grund auf. Sie machte eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin, gründete 1933 zusammen mit zwei anderen jungen Frauen, Suzanne Lacloche und Hélène Manuel, in der Arbeiterstadt Ivry  eine kleine Gemeinschaft.

Die Frauen lebten ein kontemplatives Leben - jedoch nicht hinter Klostermauern, sondern mitten in der Welt. Eine Gemeinschaft ohne Regel, ohne Gelübde, eine Gemeinschaft, jenseits bekannter Formen. Die Frauen entschlossen sich, ihr Leben mit den („einfachen") Menschen zu teilen, mit den Alten und Kindern, Arbeitern und Arbeitslosen und sich für die sozial Benachteiligten einzusetzen. Einen festen Plan, wie das geschehen kann, hatten sie nicht. Sie wollten den Menschen nahe sein und ihnen dadurch die Liebe Gottes bringen.

Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen,

ohne die Erwartung von Müdigkeit,

ohne Plan von Gott; ohne Bescheidwissen über ihn,

ohne Enthusiasmus,

ohne Bibliothek –

geht so auf die Begegnung mit ihm zu.

Brecht auf ohne Landkarte –

und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist,

und nicht erst am Ziel.

Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden,

sondern lasst euch von ihm finden

in der Armut eines banalen Lebens.

(Madeleine Delbrêl)

Nach dem Krieg bestand die Gemeinschaft aus 15 Frauen, die in Ivry, Paris und Longwy in kleinen Zweier- oder Dreiergruppen lebten und arbeiteten.

„Madeleines ganzes Wesen war Bewegung und es gab nicht die geringste Spur einer vorgefassten Meinung in ihr. Sie war überzeugt davon, dass der größte Feind der Ewigkeit die Dauer ist, der Wunsch, etwas dauern zu lassen“, schreibt Annette Schleinzer in ihrem Buch „Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe – das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl“.

Ein Gespräch mit der Theologin Annette Schleinzer, die sich seit über 35 Jahren mit Madeleine Delbrêl beschäftigt und mehrere Bücher über sie geschrieben hat.

In welchem Zusammenhang ist der „Ball des Gehorsams“ entstanden?

 Madeleine Delbrêl schrieb den Text vor (über) 70 Jahren, am 14. Juli 1949, dem französischen Nationalfeiertag. Sie wohnte in einer sehr belebten Straße, sah die Menschen vorüberziehen und tanzen. In dieser Zeit, nur wenige Jahre nach Kriegsende, machte der Anblick der ausgelassen Feiernden einen besonderen Eindruck auf sie.

Madeleine war selber eine leidenschaftliche Tänzerin. In ihrer Jugend hat sie unglaublich viel und gern getanzt. Später war der Tanz eine Möglichkeit für sie, ihre Beziehung zu Gott auszudrücken. Wie kaum ein anderer Text Madeleines ist „Der Ball des Gehorsams“ ein Zeugnis ihres eigenen Wesens, Gnade und Freiheit fließen bei ihr in einer einzigen Bewegung zusammen.

 Gibt es in diesem Gebetstext noch etwas anderes, das typisch ist für das Denken und Leben Madeleine Delbrêls?

 Ja, da gibt es mindestens zwei Dinge. Zum einen war Madeleines Spiritualität unglaublich geerdet und alltagsrealistisch. Gott ist mitten in dieser Welt zu finden. Den Gedanken, das Leben als einen Tanz zu verstehen, verbindet Madeleine hier mit ihrem Verständnis von Gehorsam – daher der Titel des Textes „Ball des Gehorsams“. In das einzuschwingen, was uns im Alltag aufgegeben ist, ist Tanz, ist Gehorsam.

 Zum anderen ist der christliche Glaube nach Madeleines Meinung ganz und gar nichts Weltfremdes. Er hat mit Freude, mit dem Fest des Lebens zu tun. Nicht verbissen zu sein, sich nicht asketisch alles zu verbieten. ‚Sich nicht zu versteifen‘, kann man sich vielleicht nicht vornehmen. Aber man kann sich darüber bewusst werden, wenn es gerade passiert – und dann versuchen, „einzuschwingen in den Rhythmus, den Gott auf uns überträgt“.

 Vor dem oben zitierten Abschnitt des Textes heißt es weiter am Anfang:

Denn ich glaube, du hast von den Leuten genug,
die ständig davon reden, dir zu dienen – mit der Miene von Feldwebeln, Dich zu kennen - mit dem Gehabe von Professoren,
zu dir zu gelangen nach den Regeln des Sports,
und dich zu lieben wie man sich in einem alten Haushalt liebt.

Eines Tages, als du ein wenig Lust auf etwas anderes hattest,

hast du den heiligen Franz erfunden

und aus ihm deinen Gaukler gemacht.

An uns ist es, uns von dir erfinden zu lassen,

um fröhliche Leute zu sein, die ihr Leben mit dir tanzen.

Gab es einen Rhythmus, eine Tagesstruktur in der Gemeinschaft, in der Madeleine Delbrêl lebte?

Ganz am Anfang ihres Zusammenlebens zu dritt haben die Frauen noch versucht, sich an einer klösterlichen Tagesstruktur zu orientieren. Sie haben aber bald gespürt, dass das nicht zum Rhythmus ihres Lebens passte. Denn sie hatten einen unterschiedlichen Alltag, mussten zu unterschiedlichen Zeiten zur Arbeit. Sie hatten wenig Raum und wenig Zeit. Es mussten deshalb neue, kreative Weisen gefunden werden, um im Alltag geistlich zu leben.

Madeleine persönlich versuchte an jedem Tag frühmorgens in den Gottesdienst zu gehen und tagsüber immer wieder Momente der Unterbrechung einzubauen. Momente, in denen sie ganz bewusst da sein wollte. Sie nannte es „eine Tiefenbohrung machen“ oder „Kurs auf Gott nehmen“.

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Solche „Tiefenbohrungen“ hat sie als Rituale der Unterbrechung regelrecht eingeübt. Das mochten Kleinigkeiten sein wie: Ständiges Umherlaufen durch Sitzen zu unterbrechen, ständiges Sitzen durch Laufen zu unterbrechen. Einfach einmal die Haltung zu verändern. Zwischen zwei Arbeiten einmal innezuhalten und in den Garten zu gehen.

Warum könnte es heute wichtig sein, sich mit Madeleine Delbrêl zu beschäftigen?

Es gibt ganz viele Aspekte, warum sie heute immer wichtiger wird. Ein Aspekt ist zum Beispiel ihre gelebte Alltagsspiritualität. Für viele gläubige Christinnen und Christen gibt es unterschwellig noch zwei Welten: die profane, alltägliche Ebene einerseits und Gott andererseits, der dann sonntags ins Spiel kommt oder in besonderen Zeiten. Madeleine Delbrêl war aber davon überzeugt, dass Gott uns überall begegnet, dass man ihn mitten im Alltag findet, vor allem auch in der Begegnung mit anderen Menschen.

Ein anderes Thema ist für sie die Frage, wie man von Gott reden kann in einer Welt, die Gott kaum oder nicht mehr kennt. In einer Welt, in der es ganz viele unterschiedliche Lebensentwürfe gibt. In der es Suchende gibt, die mit ihrer Suche aber oft nicht an den christlichen Kirchen andocken können. Wie kann man von Gott reden, ohne dem anderen etwas überzustülpen, ohne jemanden bekehren zu wollen?

Zu dem Thema könnte ich jetzt einen ganzen Vortrag halten. Aber wenn ich einmal versuche, es zusammen zu fassen, kann - so wie Madeleine es versteht - nur jemand über Gott reden, der selbst mit dem Geheimnis Gottes in Berührung gekommen ist. Selber durchsichtig werden, in die Welt hineinleuchten über persönliches, soziales und politisches Engagement und so von Gott „reden“.

Es gibt ein Zitat von Madeleine: „Wer Gott empfängt, empfängt in seinen Armen die Welt.“ Das gilt es jeden Tag mit kleiner Münze umzusetzen, zum Beispiel in der Begegnung mit dem anderen.

„Warum sollte der Lerchengesang im Kornfeld, das nächtliche Knistern der Insekten, das Summen der Bienen im Thymian unser Schweigen nähren können – und nicht auch die Schritte der Menschenmenge auf den Straßen, die Stimmen der Marktfrauen, die Rufe der Männer bei der Arbeit, das Lachen der Kinder im Park, die Lieder, die aus der Bar dröhnen. Begegnung mit Gottes lebendiger Kausalität im Lärm der Straßenkreuzungen. Begegnung mit Jesus Christus in all denen, die physisch leiden, die sich langweilen, die sich ängstigen, denen etwas fehlt.“

(Madeleine Delbrêl)
(Text und Interview: Dr. Ulrike Gebhardt; dies ist eine leicht veränderte Version eines Artikel, der bereits bei RiffReporter (Öffnet in neuem Fenster) erschienen ist.)

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Kategorie Spiritualität + Rhythmus

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