Balanceakte
Dieses verrückte Wort „Normalität“, dieses verrückte Wort „Realität“. Wie da immer weiter eine Norm beschworen wird, im Gleichschritt, im Inland, gern fern multiperspektivischer Metropolen, als würde das Sinn ergeben. Als diene es nicht allein dem Machterhalt Ausgewählter, in unserem Fall weißer, männlicher, heterosexueller Männer, deren Bestreben es ist, sich die Erde untertan zu machen. Wissen wir doch allmählich, oder? Selbst die Genannten. Von denen viele ganz andere Träume haben. Und von der History genauso genervt. Traurig zu sehen, wie schwierig es zu sein scheint, diese Narrative und Gewohnheiten weitreichend aus dem System zu bekommen. Also, was tun, was bleibt? Unverzagt jeden Tag anderen Sinn zu stiften, das tun, das bleibt, eines Tages auch dauerhaft, und sei es heute tastend auf der Tastatur. Die leider vielerorts Diktaten unterliegt. Was, bleiben wir im Bild, immerhin die Chance auf etwas darunter Liegendes, etwas grundlegend anderes birgt, das sich aus dieser Umschreibung lösen und neue Worte an bestimmte Orte setzen könnte. Weil langfristig nur die Vielfalt Sinn ergibt, das wissen wir doch, nur Vielfalt bedeutet auf allen Ebenen der Existenz Überleben.
Auf einer Seite zu stehen, das haben wir uns antrainiert. Aber müssen es uns abtrainieren, weil so Bewegung nicht möglich ist. Gleichzeitig bewegt sich so auch sehr viel, beim Stillstand auf der Stelle im Teufelskreis. Nichts Lebendes und erst recht nichts Lebendiges kann schließlich ohne Bewegung sein.
Unser Bewegen erfordert aktuell oft ein Balancieren, vielleicht auch permanent. Darum trägt mein neuer Erzählband, ein Konvolut aus Texten meiner ersten drei Textbände, nach einer Kurzgeschichte aus dem zweiten Band „Vom Dazwischen” den Titel „Balanceakte“. Auch, weil „Balance“ ein Thema ist, dass alle 13 Texte gemeinsam haben.
Nach den Wahlergebnissen in Sachsen und Thüringen habe ich das Bedürfnis, heute einen der Texte aus „Balanceakte” vorzustellen und daraus zu zitieren. Er heißt „Schwarzwäldersahnetote“ und ist eine Schulgeschichte. Die Protagonistin erzählt rückblickend im Vorfeld eines Klassentreffens, wie sie sich als Teenagerin in eine Schulfreundin verliebte und als „Lesbe“ gemobbt wurde. Der Text entstand zur Zeit der Pegida-Aufmärsche in Dresden und beginnt auch damit. Seitdem ist die Unterwanderung der Demokratie fortgeschritten. Und der Text leider weiterhin viel zu aktuell. Hier chronologisch einige Auszüge. Weil Geschichten weiterhin und neu erzählt werden müssen:
Da war die selbsterklärte Norm auf der einen, der sogenannten normalen Seite, die mit einwandfrei gepflegten Zeigefingern auf alles andere deutete, alles andere deutete. Es selbstverständlich zum Gegenüber erklärte, den Graben zog, das Wasser einließ, die Schilder aufstellte…
„Normalität ist kein Ruhepuls zwischen Kontrasten – hätte Nora gern gesagt, so ein Vergleich wär ihr gerne eingefallen, damals, um ihn herauszuschreien, den Eltern in die weichgezeichneten Gesichter, allen verständnisvoll Nickenden, allen Wackeldackeln auf ihren Rücksichtssitzen frontal in die Schnauze; denen, die taten, als sei Normalität definiert durch eine scheiß Linie irgendeines Zeichenmentors, der von seinem schnöden Ich-bin-eine-Insel-Strand aufs Meer stiert und meint, der Horizont ließe sich so einfach in der Spitze eines Bleistifts sammeln und zu Papier bringen – weil er noch nie in einem Boot saß, weil er keine Ahnung hat, dass der Horizont sich verschiebt, je nachdem, wo man herumrudert.”
…
„Was ist aus der Stadt geworden, in der – Jahr ein Jahr aus – immer alles seinen gemäßigten Gang genommen hat? Jede Angst ist doch weit vor Noras Geburt mit den Trümmern des Krieges von starken Armen beiseite geräumt worden, ihrer eigenen Generation aus dem Weg. Es gab nie etwas zu fürchten, gut, vielleicht die Furcht an sich, aber sonst. Okay: Schwitzkasten-Kai in den großen Pausen – doch selbst hunderte von seiner Sorte können nicht Erklärung für die tausenden Hasserfüllten im Breitbildformat sein. Schwitzkasten-Kai, von der ersten bis zur sechste Klasse hatte der gewütet. Nora erinnert ihn genau. Mädchen wurden nicht verschont…”
Eine Minderheit ist gegen Minderheiten aufmarschiert, verlangt die Uhren zurückzudrehen, Geschichte umzuschreiben, Erlebtes als Fake zu deklarieren, neue Uniformierung…
„Lesbe, Lesbe“, schallt es durch ihre Gehörgänge, durch die Gänge der Lehranstalt. „Kampflesbe“, erweitert der Schulchor der jungen Tenöre den Hohngesang. „Frauenfickerin“, raunt es hinter ihr in den Umkleideräumen der Turnhalle. Geräteturnen. Die Lehrerin pfeift. Startsignal. Über den Bock, Nora, die Beine gespreizt. Die Mädchen glotzen ihr in den Schritt. Als ob sich da was abzeichnen würde, abzeichnen könnte, ein geheimer Pimmel oder irgendwas Dämonisches. Nora springt. Sie kann gut springen. Sportlicher Typ, ohne Anstrengung. Es wird eng. Aber klappt, irgendwie klappt es. Weil sie alles um sich her ausblendet. Weil sie sich vorstellt, der Bock sei ein Berg und auf der anderen Seite stehe Cordula. Dabei ist Cordula längst tabu…“
Das Klassenzimmer bäumt sich auf, tagtäglich. Mitschülerinnen machen die Augen eckig, stecken die Köpfe zusammen, drehen die Brüste weg. Halbstarke lachen, zeigen mit dicken Fingern auf dich, machen eindeutige Gesten – ob du erst `nen ordentlichen Schwanz brauchst, damit du die Sache kapierst…
(Ja, in diesem Text geht es auch um die Gewalterfahrung eines lesbischen Mädchens. Ihr kommt glücklicherweise eine Lehrerin zu Hilfe…)
„Auf dem Schulhof waltet Willkür, wie eh und je, noch Wochen danach. Jungs treten andere Jungs in die Eier, zocken Geld für den Kiosk, pressen Kippen ab, spucken, reißen Sprüche – derber als Schwitzkasten-Kai. Mädchencliquen dissen die Lesbenficker, die um Duldung ringen, mit großen Augen, kleinen Lauten, mit Zigarettenrauch, in dem sie nach und nach unscheinbarer werden, unsichtbarer, Schattengewächse im Beton des Pausenhofs. Wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn die Rothenpieler nicht die Rothenpieler gewesen wäre – das hat Nora sich nie vorstellen wollen. Nicht einmal als sie aufgehört hatte, Nora zu sein, das schwache Geschlecht abgelegt hatte und zu der Frau geworden war, die sie sein wollte – weil Welt ohne Rothenpieler, da reicht ein Knopfdruck: TV an, PC, Fenster auf, OMG.“
…
Farbrezeptoren ausmerzen. Die Lichtorgel des anderen. Bunte Geschöpfe gehören entsättigt. Schreien kleine Lichter, irrlichternd, im Sumpfland.
Der, die, das Bunte – in geschlossenen Systemen eine vom Aussterben bedrohte Spezies.
„Jeder ist anders als du“, das hat die Frau unserer Geschichte einmal während einer Verhandlung gesagt. Es ist aus ihr herausgeplatzt, an einer prekären Stelle im Protokoll, an der man sich zusammenreißen sollte. Ohne jede Emotion fortfahren. Sachlich bleiben. „You“, hat die Frau gesagt, nicht „Sie“, wie es im Deutschen heißen würde – der Prozess lief auf Englisch. (Und: „You“, hätte sie am liebsten hinzugefügt, „das ist ein Synonym für Welt“ – aber da hatte sie sich wieder im Griff.)“
…………………………………………………………………………………………….
Hey you. Der September ist ja im Grunde ein bunter Monat. Darauf hoffe ich. Und darauf, dass der Eisberg unter Wasser sich gezeigt hat. Da ist sein giftiges Blau – aber auch ein Meer um ihn her. Ein viel Mehr.
Dir haben die Textauszüge gefallen und du möchtest das Buch gerne lesen? Das geht leider noch nicht. Es erscheint erst im Winter. Aber du kannst es schon vorbestellen:
offbeat-publishing.de (Öffnet in neuem Fenster)
…und so soll das Cover aussehen: