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Alles Kopfsache

Song: Fury in the slaughterhouse - The brain song

“Your brain can fool your body…”

…singt Kay Wingenfelder von Fury in the Slaughterhouse in meine Kopfhörer während im Hintergrund Mandolinen und Akustikgitarren die taumelnd-schunkelnden Melodiebögen streichen.

Diese eine Songzeile geht mir nicht mehr aus dem Kopf als ich die Mail meiner Therapeuty öffne. Darin steht

“Es scheint nach den Testergebnissen wirklich so zu sein…”

…dass bei Dir eine Neurodivergenz, also ADHS vorliegt.”

Klonk.

Ich stellte mir immer vor in diesem Moment entweder einfach vom Stuhl zu fallen oder laut klatschend in der Wohnung rumzuspringen.

Aber alles was in dieser Sekunde, alleine vor dem Bildschirm in meiner Wohnung an an einem unscheinbaren Oktobernachmittag aus mir herauswill ist: ein tiefes Ausatmen.

Und der in mir ein Monolog, der sofort anspringt:

“Ich habe ADHS. Alles war schon immer echt so wie ich es gefühlt habe. Ich bin nicht falsch oder weird. Mein Gehirn ist einfach nur anders.

ANDERS.

Jetzt auch noch das! Naja, dann ist wenigstens die Stempelkarte voll, haha!

trans* & neurodivergent, yeah!

Es macht alles Sinn. Endlich.”

Ich will sofort einen Eintrag hier schreiben darüber, euch erzählen wie sich alles anfühlt, innen und außen. Aber mein (frisch diagnostiziertes) Hirn erzählt mir so viele lähmende Lügen und fesselt mich erstmal aufs Sofa, dass ich gar nichts tue außer mir mein Dopamin mit ein paar Stunden Social Media Konsum schlecht wieder aufzufüllen, mich dann weiter zu schämen und so die nächsten Wochen in einer halb wachen, halb frohen, halb traurigen Zwischenwelt zu verbringen.

Erst nach 2-3 Wochen und unzähligem Durchkauen des Themas in meiner Gruppe komme ich auf die Idee auch einmal über Medikamente nachzudenken. Denn nach der ersten Erleichterung setzt auch die richtig große Erschöpfung & Trauer über die späte Diagnose ein. Ich bin 38, fast 39.

Was hätte mir dieses Wissen vor 10 Jahren schon schmerzhafte Entscheidungen ersparen können? Warum hat niemand als Kind darauf geachtet, etwas wahrgenommen und mich zu Fachärzt*innen gebracht?

Die Antworten sind vielschichtig, komplex und irgendwie auch inzwischen egal. Ich kann niemandem mehr böse sein. Der gemeine Cocktail aus weiblicher Sozialisation, wenigen Fachleuten & Studienerkenntnissen zum Thema und das Umfeld haben alles dafür getan, dass es einfach nicht erkannt wurde. Obwohl alle Fragebögen, die ich dazu ausfüllte es einem nur so ins Gesicht schrieen.

C’est la fucking vie.

Ich bin viel zu neugierig und aufgekratzt, will wissen wie es weiter gehen kann und komme auch wie mit komplett neuem Reifensatz auf die Straße der Erkenntnis. Fahre los und bin am Start.

Also gehe ich mit meinem erwachsenen Körper ganz erwachsen an einem Montag Morgen in eine psychiatrische Praxis, habe ein sehr, sehr gutes Gespräch und verlasse das Gelände 30 Minuten später mit einem Rezept.

Was für den Antrieb. Könnte ja auch “nur” erstmal eine depressive Phase sein.

Das Medikament tut seinen Job, aber so gut, dass ich gar nicht mehr zur Ruhe komme.

Alles andere ist noch da: Die 30 Songs im Kopf, die Angst vor ständiger Überforderung, die Angst vor der Angst, die Ungeduld, der rasende Verstand, die Verzweiflung.

Nach langem hin - und her dann der erneute Gang zur Praxis. Wer ADHS hat, weiblich sozialisiert wurde und wem es aktuell sehr schlecht geht, für den ist es eine Mammutaufgabe erneut für seine Bedürfnisse zu sorgen, nochmal bescheid zu sagen, nach 100% zu streben. Aber ich schaffe es. Mithilfe viel gutem Zuspruch meiner Freund*innen und meiner Gruppe.

“Also dann: Welches ADHS Medikament wollen Sie denn?” fragt mich Dr. M. schelmisch grinsend.

Sie haben doch bestimmt schon alles recherchiert dazu, oder?” feixt er weiter.

Aber ich sitzt einfach nur perplex da und stammle

“Also, äh. Nee. Ich möchte einfach nur, dass mein Kopf ruhiger wird. Und habe von anderen Patient*innen gehört dieser eine Wirkstoff soll gut helfen.”

Er atmet sichtbar ein und sagt

“Gut, dann probieren wir das doch gerne so aus.”

5 Minuten später habe ich mein Rezept, 15 Minuten später die Pillendose mit dem fröhlich grün leuchtenden Deckel in der Hand. Ich fühle mich gefährlich, weil ich nun offiziell Amphetamin in meiner Jackentasche herumtrage.

Kichernd laufe ich zur nächsten Haltestelle und freue mich schon auf den nächsten Morgen, an dem ich starte. Und der hat es in sich.

“Denken Sie daran, dass dir Wirkung unmittelbar einsetzt.

Sie werden es merken.”

flippern Dr. M.s Worte in meinem Kopf umher wie ein Tischtennisball in einem leeren Getreidesilo als ich die kleine, rot-weiße Kapsel schlucke.

20 Minuten später schließen sich geräuschlos 20 offene Browsertabs in meinem Kopf und ich laufe erst einmal ziellos durch die Wohnung, weil ich darauf warte, dass alles wieder einsetzt, dass es wieder laut wird. Überfordernd. Dass es mir sagt, ich schaffe das alles nicht, dass es sich nicht lohnt, ich nichts kann - und dann folglich auch alles liegen lasse und auf dem Sofa liegend an die Decke starre. Aber es ist weg. Alles. Nur noch ganz leise dudelt irgendwo im limbischen System ein Song, den ich am Tag vorher noch auf der Gitarre gespielt habe. Ich summe vor mich hin und fange an zu lächeln.

Wow.

Ich schaffe an diesem Tag all die Dinge, die ich mir vorgenommen habe und noch mehr, bin entspannt und fröhlich.

Fix und fertig zwar immer noch, aber froh. Und friedlich.

“Your brain can fool your body,
It makes you feel the pain even when you're not ill.”

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"Die Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter wurde von vielen Forschern untersucht.

Sie haben festgestellt, dass nur 5-15% der betroffenen Kinder die Kriterien für eine ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter noch vollständig erfüllen. Trotzdem treten vereinzelte Symptome und funktionelle Beeinträchtigungen bei etwa 70% auch im Erwachsenenalter weiterhin auf.

Laut dem Diagnostiksystem für psychische Störungen (DSM 5) sind etwa 2,5% der erwachsenen Allgemeinbevölkerung betroffen. Eine weitere repräsentative Studie zeigt, dass etwa 4,7% der erwachsenen Deutschen von ADHS betroffen sind. Im Kindesalter weisen mehr männliche als weibliche Personen eine ADHS auf. Bei Erwachsenen hingegen sind diese geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich geringer bzw. nahezu ausgeglichen.”

ADHS - Wichtige Zahlen & Fakten (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie All of it

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