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Das Mädchen von der anderen Seite des Lochs

Lesedauer: 7 Minuten

Hallo lieber Jemand,

ich weiß nicht, ob dieser Eintrag jemals gefunden und gelesen wird. Ich weiß nicht einmal, ob jemand existiert, der diesen Eintrag lesen kann. Aber bestimmt gibt es einen Grund, wieso ich dieses Notizbuch habe, also werde ich dir einfach alles erzählen, was du über mich und diesen Ort wissen musst:

Seit Beginn meiner Existenz lebte ich mit meinen beiden Schwestern hier in dieser Höhle. Meistens konnte ich meine Schwestern sehen, so dass wir uns unterhalten und miteinander spielen konnten; doch nach einiger Zeit verschwanden sie immer wieder vor meinen Augen wie von Zauberhand. Wir konnten uns zwar noch hören, fühlen und riechen,  jedoch waren wir alle drei blind. Unsere Fähigkeit zu sehen, war also zeitlich begrenzt.  Wenn ich meine Augen dann aber erst einmal geschlossen und mich hingelegt hatte, sah ich meine Schwestern nach kurzer Zeit wieder.  Alles in allem war ich wunschlos glücklich und ich genoss jeden Moment mit den Beiden... bis zu jenem Tag, als ein riesiges, helles Loch in der Wand auftauchte.

Wir waren völlig verängstigt; hatten keine Ahnung, was dies zu bedeuten hatte und wo dieses Loch herkam. Mein erster Gedanke war, hindurch zu gehen, doch meine ältere Schwester hielt mich auf, da wir schließlich nicht wüssten, wo es uns hinführen würde. Ich glaubte eine lange Zeit, dass es damals die richtige Entscheidung gewesen war, auf sie zu hören, aber mit der Zeit zerstörte dieses Loch und die Unwissenheit, was sich auf der anderen Seite von diesem befindet, mein glückliches Leben. Ich dachte über Sachen nach, die mir vorher noch nie in den Kopf geschossen waren:

Warum waren wir in dieser Höhle?  Waren wir davor jemals woanders gewesen?  Gab es noch andere Orte, die vielleicht schöner oder sogar schlimmer waren? Immerhin hatte ich hier ein Notizbuch, in das ich hineinschreiben konnte; vielleicht gab es dieses jenseits des Lochs nicht. Oder gab es vielleicht Orte, an denen sogar mehr existierte? Ich fand auf diese Fragen keine Antworten, trotzdem stellte ich sie mir immer wieder im Kopf - zudem kamen immer mehr und mehr Fragen hinzu. Das war jedoch noch lange nicht das Schlimmste. 

Meiner kleinen Schwester kam nach einiger Zeit ein Verdacht. Sie vermutete, dass unsere Höhle immer kleiner werden würde, was ich und meine große Schwester anfangs allerdings nicht glauben konnten...oder glauben wollten. Doch wir einigten uns drauf, es zu testen. Jedes Mal, nachdem unsere blinde Zeit vorbei war, zählte meine kleine Schwester die Schritte, die sie brauchte, um von der einen Seite der Höhle zur anderen zu gelangen. Es kam immer wieder dieselbe Anzahl an Schritten heraus, was ihre Theorie natürlich vorerst widerlegte, jedoch probierte sie es immer weiter. Ich achtete schon gar nicht mehr darauf, als sie uns dann aber eines Tages statt derselben Zahl eine kleinere Zahl zubrüllte. Meine große Schwester blieb daraufhin ganz entspannt - sie glaubte unsere kleine Schwester hätte sich nur verzählt. Aber die Zahl änderte sich nicht mehr und spätestens nachdem die Zahl nach einiger Zeit erneut um eins kleiner geworden war, hatten wir es alle begriffen: Die Höhle wurde immer kleiner.  

Wir mussten also eines Tages durch dieses Loch gehen, ob wir wollten oder nicht. Meine große Schwester schlug daraufhin vor, unmittelbar aufzubrechen. Sie wollte es schnell hinter sich bringen, aber hatte ich damals trotzdem das Gefühl, dass sie ebenfalls sehr verängstigt gewesen war. Wir anderen beiden wollten jedoch noch nicht gehen. Uns war das, was wir kannten lieber als das Ungewisse. Daraufhin unterbrach uns dann ein lauter, ohrenbetäubender Knall. Noch nie in unserem Leben hatten wir etwas so Lautes gehört. Ich bemerkte, dass ich mich nicht bewegen konnte und meine große Schwester versuchte ebenfalls vergeblich, sich von der Stelle zu bewegen. Wir wurden panisch. 

Unsere kleine Schwester konnte sich bewegen...jedoch nicht freiwillig. 

Ich weiß nicht genau, ob wir es nur nicht sehen konnten oder ob es etwas war, dass wir nicht verstanden, doch egal was es war, es zog sie an ihren Beinen in Richtung des Lochs. Sie schrie, sie flehte uns um Hilfe an, doch wir konnten nichts für sie tun. Unsere Körper wurden von irgendetwas festgehalten. Dann ging alles ganz schnell und ihr Schreien verstummte. Sie war verschwunden. Einfach weg. 

Als unsere kleine Schwester nach einiger Zeit nicht zurückkehrt war, wurde uns schmerzlich bewusst, dass jener, der einmal durch das Loch gegangen war, auch nie mehr zurückkehren konnte. Meine große Schwester und ich trauerten um sie und sprachen währenddessen kein Wort miteinander. Der Schmerz saß zu tief. Ich dachte oft darüber nach, meiner kleinen Schwester einfach zu folgen, aber wusste ich nicht einmal, ob ich sie überhaupt wiedersehen könnte, wenn ich erst einmal durch das Loch gegangen war. War denn überhaupt irgendetwas hinter diesem Loch? Was, wenn ich meine beiden Schwestern nicht wiedersehen konnte, wenn ich hindurchging? Aber diese Frage musste ich mir nichtmehr lange stellen. Mit leerem Blick stellte sich meine große Schwester vor das Loch und schaute hinein. Ich schrie und versuchte sie aufzuhalten, doch sie hörte mir nicht zu. 

“Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, kleine Schwester” , waren dann die letzten Worte, die ich von ihr hörte.

Doch haben wir uns bis jetzt nicht wiedergesehen. Ich sitze hier noch immer. Hier in dieser Höhle. Ganz allein. Ich will meine Schwestern wiedersehen, aber es geht nicht. Ich habe zu große Angst. Meine Gedanken lassen mich keine Sekunde zur Ruhe kommen.

“Mach es endlich”, sage ich mir immer wieder selbst, doch ich kann mich nicht überwinden.

Ich weiß nicht einmal, ob ich mich überwinden will. Meine Höhle ist alles, was ich habe; alles, was ich kenne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch etwas anderes gibt. Was ist, wenn du hier in dieser Höhle auftauchst und ich verpasse dich? Dann werde ich es bereuen, durch das Loch gegangen zu sein, oder? Aber existierst du denn überhaupt? Existiert überhaupt etwas außer mir und meinen Schwestern? Gibt es etwas, dass uns alle leitet und diese Höhle erschaffen hat? Gibt es jemanden, der entschieden hat, dass meine Schwestern mich verlassen und dass ich hierbleibe? Ist es überhaupt wirklich meine Entscheidung? Wieso erschafft jemand diese Höhle und lässt sie nach und nach verkleinern?  Warum werde ich hier rausgedrängt?  Warum muss ich gehen?  Soll ich wirklich solange hierbleiben, bis es hier so eng ist, dass ich kaum noch richtig stehen kann oder wird von mir verlangt, früher zu gehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht...doch weißt du, ich muss es eigentlich auch gar nicht nicht wissen. Ob hinter dem Loch etwas Wundervolles, etwas Schreckliches oder Garnichts lauert, spielt keine Rolle. Ob ich meine Schwestern wiedersehen werde oder nicht, spielt keine Rolle. Ich muss weiterkommen. Ich habe sowieso keine Wahl. 

Das hier werden vermutlich meine letzten Zeilen an dich sein. Und wenn du jetzt erwartest, hier einen Rat zu finden, der dir bei deiner Entscheidung weiterhilft, dann muss ich dich leider enttäuschen. Denn wie lange jeder in der Höhle verbringen will und kann, liegt an jedem selbst. Ich wünsche dir, dass du die richtige Entscheidung triffst...diejenige, mit der du zufrieden bist...vielleicht sehen wir uns ja eines Tages sogar. Ich freue mich auf diesen Tag.

Mit besten Grüßen

Das Mädchen von der anderen Seite des Lochs

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