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In Pullach bei München stirbt gerade ein Baum. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, gerade in diesem trockenen Sommer hatte man das Gefühl, dass jeder zehnte Baum das Handtuch warf und den teilweise fleißig gießenden Anwohner:innen ein letztes „Macht euren Mist doch alleine“ entgegenrief. Aber der Baum in Pullach ist anders als die vielen Kastanien, Ahornbäume und Birken, die deutsche Straßen und Plätze säumen. Nicht wenig überraschend in einem deutschen Geschichts-Newsletter handelt es sich dabei um eine „Hitler-Linde“. Solche Bäume wurden im ‚Dritten Reich‘ häufig gepflanzt, ganz besonders oft zu Hitlers 50. Geburtstag im Jahr 1939, in Anlehnung an die zu Ehren Luthers und Bismarcks gepflanzten Eichen der Jahrzehnte zuvor. „Tausendjährige Linden“ gibt und gab es überall im deutschsprachigen Raum, die Idee, diese mit dem Führer zu verknüpfen, liegt nahe.

Nun haben Bäume die Eigenschaft, relativ lange zu leben und in sich nicht politisch zu sein. Also blieben die meisten Bäume nach 1945 stehen. Ausnahmen gab es natürlich: In der Nähe von Karlsruhe wurde eine 1933 gepflanzte Hitler-Linde von US-Soldaten ausgegraben und vernichtet (es war die dritte Linde, nachdem die ersten beiden 1933 von Unbekannten abgebrochen wurden). Aber die Bäume konnten ja nun wirklich nichts dafür, wem sie als Setzling gewidmet worden waren und meistens hatte man doch besseres zu tun, als in dieser Zeit junge Bäume zu fällen. Später stand oft der Umweltschutz entgegen, denn in Deutschland darf man an vielen Orten nicht einfach so Bäume ab einer gewissen Größe abschneiden, ohne einen guten Grund dafür zu haben. Eine für Ortsfremde nicht erkennbare Widmung scheint nicht so ein Grund zu sein.

Bäume sind ökologisch, städtebaulich und klimatechnisch sinnvoll, sie sind pflanzliche Sympathieträger, sie leben sehr lange und sind dabei in ihrem Aussehen ab einer gewissen Größe zeitlos. Wenn sie eine Widmungs- oder Setzungsgeschichte haben, dann sind sie gepflanzt als Nachricht der Vergangenheit an uns, und oft geht diese Nachricht irgendwann verloren, weil jeder Baum erstmal nur ein Baum ist. Bäume vereinen ideal die Aspekte, die ein spannendes Objekt der alltäglich erfahrbaren Geschichte ausmachen. Und es gibt viele Bäume, die nur durch ihren Kontext spannend werden.

Da wären zum Beispiel die alten, großen Bäume, die auf dem Parkplatz des Kaufland an der Spandauer Wilhelmstraße stehen. Es sind ganz normale Bäume, nach allem was man weiß sind sie gesund, vor ihnen parken regelmäßig die Autos der Einkaufenden. Gepflanzt wurden sie unter anderem von Albert Speer, Baldur von Schirach und Rudolf Heß. Dort wo heute der Kaufland steht, stand bis 1987 das Kriegsverbrechergefängnis Spandau, in dem die in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher verurteilten, aber nicht hingerichteten Nazis inhaftiert waren. Sie pflegten ab den 1950er Jahren den Gefängnisgarten und pflanzten dort auch Bäume. Als der letzte von ihnen, Rudolf Heß, 1987 starb, wurde das Gefängnis vollständig abgerissen und die Mauerreste zermahlen in der Nordsee verklappt, um keinen Wallfahrtsort entstehen zu lassen. Die Bäume blieben stehen, und sie stehen bis heute, erkennbar auch auf Google Maps (Öffnet in neuem Fenster).

Manche Bäume hingegen sind durch Ort und Beschriftung als historisch relevant markiert: Einer der Prominentesten davon dürfte die Kastanie im Hinterhof des Anne-Frank-Hauses sein. Der Baum war einer der ältesten in Amsterdam und wurde von Frank in ihrem Tagebuch dreimal erwähnt, weil er die einzige Pflanze, das einzige Jahreszeitenzeugnis war, dass sie aus ihrem Versteck heraus sehen konnte. In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde die Kastanie nicht sonderlich gut behandelt: Ein undichter Heizöltank setzte ihr lange zu, so dass um die Jahrtausendwende das Erdreich rund um die Wurzeln komplett ausgetauscht werden musste. Hinzu kamen ein Pilzbefall sowie die Rosskastanienminiermotte. 2007 wollte der Besitzer des Geländes den kranken Baum fällen lassen, auch die Anne-Frank-Stiftung war ausdrücklich dafür:

„Und der Baum ist schon seit 2005 nicht mehr wirklich Annes Baum, denn die Krone wurde stark beschnitten, um ihn zu stabilisieren. Wir wollen lieber einen jungen, gesunden Baum, als die abgetakelten Reste des Originals.“

Verhindert wurde das mit einem erfolgreichen Eilantrag vor Gericht durch Nachbar:innen des Anne-Frank-Hauses, die das Original des Baums erhalten wollten (Öffnet in neuem Fenster):

„Der Baum hat große symbolische Bedeutung. Er ein lebendiges Kulturhistorisches Monument. Er ist der letzte lebendige Zeuge für Anne Frank und bedeutete für sie wohl Leben und Hoffnung.“

Für viel Geld, Spenden aus der ganzen Welt, wurde schließlich ein Stahlgerüst für den Baum entwickelt und aufgebaut, das ihn vor dem Umfallen schützen sollte. „Anne-Frank-Baum endgültig gerettet“ titelten dann niederländische Onlinemedien im Januar 2008, und zweieinhalb Jahre später brach der 30 Tonnen schwere Baum auf etwa einem Meter Höhe während eines Sturms einfach ab – glücklicherweise so, dass weder das historische noch die benachbarten Gebäude getroffen wurden. In diesem Fall wurde also das Bedürfnis nach historischer Echtheit des lebenden Organismus von engagierten Laien über die Expertise von Umweltamt und Museum gestellt: so wurden letztlich nicht nur Anwohnende und Bausubstanz gefährdet, Besucher:innen des Anne-Frank-Hauses wurden auch auf Jahre um den Eindruck gebracht, die Perspektive aus dem Zimmer der Franks einnehmen zu können, aus der nur die Krone eines gesunden Baumes sichtbar ist.

Es gibt aber noch eine weitere Gattung des historischen Baumes, den ich als „dezentralen Wald“ bezeichnen würde: Die Verstreuung von Bäumen, die aus einem historischen Phänomen entstammen, über größere, unzusammenhängende Regionen. Das Spannende an so einem dezentralen Wald ist, dass sich dadurch Unterschiede in der Interpretation, Bewahrung und Deutung der Geschichte des Baumes erkennen lassen.

Ein Beispiel dafür sind die Olympia-Eichen: Bei den von der NS-Propaganda minutiös durchgeplanten Olympischen Spielen von Berlin 1936 erhielten sämtliche Goldmedaillengewinner:innen zusätzlich einen etwa halbmetergroßen Setzling einer deutschen Stieleiche in einem Topf mit der Aufschrift „Wachse zur Ehre des Sieges – Rufe zur weiteren Tat“. 141 dieser Eichen wurden vergeben. Viele, längst nicht alle, wurden gepflanzt, ein Bruchteil lebt bis heute. An ihrem Schicksal, das teils minutiös recherchiert wurde, spiegeln sich alle Facetten des Umgangs mit einem Baum politisch schwieriger Herkunft: Inbesondere Sieger:innen aus ärmeren Ländern haben keinerlei Spuren der Bäume hinterlassen, was dafür spricht, dass die Eichen gar nicht mitgenommen wurden – 1936 waren sie als Gepäck noch schwieriger zu handhaben als heute. Die Eichen der siegreichen deutschen Turnmannschaften wurden zu Seiten des Grabes von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahnz gepflanzt. Der Leichnam dieser Schlüsselfigur des deutschen Nationalismus war extra zu den Olympischen Spielen umgebettet worden. Beide Eichen sind bis heute erhalten und auch von oben gut erkennbar (Öffnet in neuem Fenster).

Die in die Niederlande verliehenen Bäume spiegeln die Geschichte des Landes: Nur zwei haben, am Amsterdamer Olympiastadion, bis heute überlebt und heben sich von den übrigen dort stehenden Bäumen durch die charakteristische Stammform ab. Ein weiterer Baum, gepflanzt am Segelclub Rotterdam, wurde nach dem Krieg im „Hongerwinter“ gefällt, um Brennholz zu gewinnen. Die beiden im Zoo derselben Stadt gepflanzten Bäume verbrannten schon 1940, keine vier Jahre nach den Olympischen Spielen, bei der Bombardierung Rotterdams, die zur Kapitulation der Niederlande führte.

Ein anderes Schicksal ereilte die Eiche von Cornelius Johnson. Johnson hatte den Hochsprung-Wettbewerb mit 2,03 Metern und olympischem Rekord gewonnen. Er war der erste dunkelhäutige Sieger der Spiele und wurde nicht, wie alle zuvor, von Adolf Hitler in dessen Ehrenloge empfangen – ob aufgrund seiner Hautfarbe oder weil Hitler schon vor dem Wettbewerb gegangen war, darüber sind sich Überlieferungen wie Deutung uneinig. Aber auch Johnson bekam seine Eiche und setzte sie in den Garten seiner Eltern in Los Angeles, während in Washington die weißen amerikanischen Olympiasieger:innen von Präsident Roosevelt empfangen wurden. Der Athlet selbst starb zehn Jahre später an einer nicht näher bekannten Erkrankung in der Navy, aber der Baum überlebte und hat mittlerweile eine stattliche Größe erreicht (Öffnet in neuem Fenster). Seit einigen Jahren ist das zugehörige Haus mit dem Hinterhof in den Fokus von Immobilieninvestoren geraten, schließlich wurde das leerstehende, baufällige 140m²-Haus für fast eine Million Dollar verkauft, um darauf vier neue, hochpreisige Wohneinheiten zu errichten. Das ist nun kein Thema mehr: Im August 2022 entschied die Los Angeles Cultural Heritage Commission (Öffnet in neuem Fenster) auf Antrag des California African American Museum, Gebäude und Eiche zu „Landmarks“ zu ernennen, also unter besonderen Schutz zu stellen als Beispiel für das Leben eines schwarzen amerikanischen Athleten in den 1930er Jahren.

Gemein ist den überlebenden Eichen, 25 sind es aktuell noch, dass sie von ihrem ursprünglichen Propagandazweck vollkommen abstrahiert worden sind. Wo sie noch politische Aufladung erfahren, liegt diese im Heimatland und dessen Umgang mit den Athlet:innen begründet. Ansonsten sind es schlicht Siegeszeichen wie die Goldmedaille oder wie Pokale, aber öffentlich zugänglich und meist an symbolträchtigen Orten gepflanzt.

Weniger symbolträchtig, politisch simpler und sehr alltäglich sind die sich jeder Zählung entziehenden Stechfichten und Rotkiefern, die in Gärten in den USA zu mittlerweile stattlicher Größe gewachsen sind: Sie sind jetzt seit 31 Jahren im Boden und erleben gerade eine popkulturelle Wiederentdeckung. Die Bäume stammen aus dem April 1991, als neun Millionen von ihnen als kleine Setzlinge an einem einzigen Wochenende als Geschenk von McDonald’s an amerikanische Kinder verschenkt wurden – meist mit dem Happy Meal, aber eigentlich war kein Kauf notwendig. Beigelegt waren eine Pflanz- und Pflegeanleitung und Infomaterialien darüber, wie wichtig Bäume für den Erhalt von Landschaften und die Regulierung des Klimas seien. Anlass war eine Rede des damaligen US-Präsidenten George Bush sr., der die Pflanzung von einer Milliarde Bäume pro Jahr im Land gefordert hatte.

Dass die Bäume gerade in der US-Alltagskultur, insbesondere über Social Media (Öffnet in neuem Fenster), wieder prominenter werden, liegt am Generationswechsel: Die Bäume wurden hauptsächlich von Menschen gepflanzt, die jetzt Mitte bis Ende 30 sind, und die sie nun im elterlichen Garten mit ihren eigenen Kindern wiederentdecken. Damit ist die Geschichte dieser Bäume natürlich eine privilegierte, suburbane, damit hauptsächlich weiße Geschichte von Menschen, die nicht nur einen Wohnbesitz haben, sondern diesen auch über eine Generation behalten haben. Nachdem diese Geschichte nun lange nahezu vergessen war, hat auch McDonald’s sie für das eigene Marketing wiederentdeckt (Öffnet in neuem Fenster).

Der inneren Form nach müsste ich diesen Text nun mit einer allgemeinen Erkenntnis über Bäume abbinden. Das Problem: Die Geschichte von Bäumen ist ungefähr so vielfältig wie die von Menschen. Sie entziehen sich damit eindeutigen Kategorien und schematischen Erklärungsmustern. Klar ist: Jeder Baum, der von Menschen gepflanzt wurde, hat auch eine menschliche Geschichte. Meist ist sie ziemlich banal, aber oft genug würde es sich auch im Alltag lohnen, die Augen offenzuhalten.

Was sonst noch war

Die über mehrere Generationen regierende Monarchin einer ehemaligen Weltmacht ist gestorben. Über ihr Vermächtnis, seine Deutung und die vielen, vielen Kontroversen dazu reden im Moment genug Leute. Ich würde fast sagen, zu viele. Zu finden im Feuilleton Ihrer Wahl, bei Twitter oder direkt neben der kritischen Winnetou-Edition (in Arbeit, VÖ ca. 2027)

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