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Gestern war der 23. Mai, der Tag, an dem vor 73 Jahren das Grundgesetz verkündet wurde. Weil die Geburt eines Staates selten mit Wehen, Pressen, Schreien und Nabelschnüren zu tun hat, nehmen wir deshalb diesen Tag als Geburt unseres staatlichen Gemeinwesens an. Und weil man zu solchen Geburtstagen ja irgendwas berichten muss, wurde auch in diesem Jahr gefordert, den 23. Mai zum Nationalfeiertag (Öffnet in neuem Fenster) zu machen. Zahlreiche kluge Historiker:innen und der nicht minder kluge Herfried Münkler wurden also in diesem Jahr von der taz gefragt, ob so ein Feiertag nicht eine gute Idee sei. Die meisten sind dafür.

Nun ist das Streben nach Feiertagen nicht neu. In einem Land, das sich eine dreistellige Zahl von Gedenkstätten leistet und dazu genug Interesse für knapp 7.000 Museen aller Art aufbringt, ist die Erhebung eines historischen Ereignisses zum gesetzlichen Feiertag die größtmögliche, nahezu inflationssichere staatliche Würdigung. Und gleichzeitig führt er für abhängig Beschäftigte zu einem zusätzlichen bezahlten Urlaubstag.

Also werden gesetzliche Feiertage gefordert. Für den 8. Mai (Tag des Kriegsendes in Europa (Öffnet in neuem Fenster)), für den 9. Mai (Europäische Union (Öffnet in neuem Fenster)), für den 31. Oktober (Reformationstag (Öffnet in neuem Fenster)), für den 17. Juni (Aufstand in der DDR (Öffnet in neuem Fenster)), für den 8. März (Frauentag (Öffnet in neuem Fenster)). Und für den 8. November, na, wer weiß es? Gründungstag (Öffnet in neuem Fenster) des Freistaates Bayern. So weit, so gut. Aber wie wäre es mit der Wiedereinführung des Buß- und Bettages (Öffnet in neuem Fenster) auf Bundesebene? Mit dem ukrainischen Unabhängigkeitstag (Öffnet in neuem Fenster)? Mit zwei noch zu wählenden muslimischen Feiertagen (Öffnet in neuem Fenster)? Mit dem 18. März als kombiniertem Feiertag (Öffnet in neuem Fenster) für 1848 und die einzige freie DDR-Wahl 1990?

Oder mit dem Tag des deutschen Bieres (Öffnet in neuem Fenster), immerhin gefordert und zurückgezogen von einer sächsischen Brauerei? Oder dem 4. Dezember, katholischer Tag der Schutzpatronin Barbara, den mehrere tausend Leute zum bundesweiten Bergbau-Feiertag (Öffnet in neuem Fenster) machen wollten?

Die ganze Absurdität der deutschen Feiertagseuphorie machte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund zunutze: Er forderte einen landesweiten Feiertag, damit die Niedersachsen am 29. April 2011 in Ruhe die Hochzeit von William und Kate gucken (Öffnet in neuem Fenster) könnten. Auch wenn die verlinkte Pressemitteilung am 1. April veröffentlicht wurde, so vollkommen außerhalb des Möglichen scheint sie auch mit elf Jahren Abstand nicht.

Mit etwas Glück und Rechercheaufwand könnten wir, so meine These, für jeden Tag des Jahres einen guten, intellektuell klingenden Grund finden, einen gesetzlichen Feiertag einzuführen. Im Laborversuch habe ich das getestet und mir von random.org (Öffnet in neuem Fenster) einen beliebigen Tag ausgeben lassen.

Und tatsächlich wäre es, gerade im Jahr 2022, höchste Zeit, den 23. Juni zum bundesweiten Feiertag zu ernennen, denn er stellt einen Kulminationspunkt deutscher Identität bis in das 21. Jahrhundert dar: Im Jahr 1524 begann an diesem Tag der Deutsche Bauernkrieg im Wutachtal im Schwarzwald, und damit die Entstehung einer ersten Formulierung von Menschenrechten. Im Jahr 1920 wurden an diesem Tag sämtliche Adelsvorrechte (bis auf eines im Namensrecht) abgeschafft, so dass vor dem Gesetz erstmals in der deutschen Geschichte tatsächlich alle Menschen gleich waren – die Grundvoraussetzung für unsere parlamentarische Demokratie!

Zugleich ist es der Geburtstag der leider weitgehend in Vergessenheit geratenen, von den Nazis ermordeten Widerstandskämpferin Lilo Herrmann (Öffnet in neuem Fenster), die aufgrund ihrer kommunistischen Überzeugung in der Bundesrepublik vor kaum mehr als formale Anerkennung bekam: in Stuttgart ist ein Tiefgaragenzubringer nach ihr benannt, an dem es keine Briefkästen gibt. Auch an Herrmann lässt sich die schwierige Geschichte des westdeutschen Umgangs mit mutigen, aufopferungsvollen Widerständler:innen erzählen, die eben auch kommunistisch waren.

Zuletzt ist der 23. Juni auch der Jahrestag der Gründung des Internationalen Olympischen Komitees. Das mag im Moment nicht besonders populär sein, wir könnten den Feiertag aber nutzen, um uns zu besinnen auf die Grundlagen des Sports als friedlichem Wettstreit zwischen Menschen aus allen Ländern der Welt, und darüber diskutieren, warum eigentlich jeder organisierte Sport nahezu automatisch nach größtmöglicher Korruption strebt. Alles Themen, die an normalen Arbeitstagen sicher nicht aufkommen. Machen wir den 23. Juni also endlich zum Feiertag, der er schon lange sein sollte!

Aber um noch einmal ein wenig ernster zu werden: Natürlich wäre der 23. Mai einer der ersten Kandidaten für einen ordentlichen nichtreligiösen bundesweiten Feiertag. Er wäre im Gegensatz zum 9. November auch tatsächlich präzise auf ein Ereignis hin geschaffen (klammern wir mal Himmlers ebenfalls feierwürdigen Selbstmord vier Jahre zuvor aus) und somit, anders als der tatsächlich nahezu willkürliche 3. Oktober, ein tatsächlicher Nationalfeiertag. Und, ganz unromantisch gesprochen, wäre dort (im Gegensatz zu 3.10. und 9.11.) in aller Regel gutes Wetter, denn wenn wir ehrlich sind, dann haben Feiertage bis auf Weihnachten und Silvester nur für eine Minderheit in diesem Land tatsächlich die Bedeutung, wegen der sie stattfinden. Für den Rest ist es ein willkommener freier Tag. Und schon damit ist dieser neue Feiertag realpolitisch illusorisch.

Was sonst noch war:

Julius Wilm, der die Debatte über Carl Schurz angestoßen hatte, hat sich in einem Twitter-Thread ausführlicher geäußert: https://threadreaderapp.com/thread/1528087926374113282.html (Öffnet in neuem Fenster)

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