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Erbe und Erinnerung

Junger Mann von hinten gesehen, starrt durch ein Schaufenster in einen Laden gefüllt mit Bücherstapeln, Gemälde nach Edward Hopper

Bestimmte Vergehen, Verbrechen und Unverbesserlichkeiten sind durch den technischen Fortschritt beinahe ausgestorben: Wir kennen das aus dem Fußball, wo es kaum noch zu Tätlichkeiten wie Ellenbogenschlägen kommt, weil der Videobeweis an dieser Stelle gut funktioniert, die Zahl der Banküberfälle ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren um 95 Prozent gesunken, maßgeblich wegen der Investition in Sicherheits- und Überwachungstechnologien.

Ich habe keine validen Zahlen zur Hochstapelei, würde aber vermuten, dass sie in Zeiten unserer sozialen Digitalisierung auch deutlich erschwert worden ist – und dennoch kommt sie immer wieder vor.

Und damit kommen wir zu Fabian Wolff, der zum beherrschenden Thema von Feuilleton-, Links-, Rechts- und (vor allem) dem jüdischen Twitter in Deutschland geworden ist, seit er in der ZEIT erklärt hat (Öffnet in neuem Fenster), dass er gar nicht ist, weshalb er überhaupt eine gewisse Prominenz erlangt hat: ein Jude. Hochstapler, Lügner, Appropriator wird er seitdem genannt. Die Zeitleiste, die er in seinem Text aufmacht, hat Alexander Nabert (Öffnet in neuem Fenster) fein säuberlich notiert, sie ist sozusagen die neue Meistererzählung Wolffs über sich selbst, sie geht so: 2008 hat er als Neunzehnjähriger seine Mutter gefragt, ob sie eigentlich Juden seien, die Mutter habe dann „Na ja, nicht wirklich, aber du weißt ja das mit deiner Großmutter“ gesagt, woraufhin der Abiturient Wolff sich seiner jüdischen Identität stellte, sie annahm, sich in ihr sozialisierte und keine zwei Jahre später seinen ersten Artikel für die Jüdische Allgemeine verfasste (Öffnet in neuem Fenster).

Bekannt geworden ist Wolff hierzulande aber hauptsächlich durch seine subjektiv gefärbten, ausufernden Essays zu Erinnerungskultur und vor allem Israel, die mal mehr, mal weniger Sympathie für z.B. die BDS-Bewegung äußerten, die ein anderes als neokonservatives Verhältnis zum Nahostkonflikt forderten, die den mühsam hergestellten Konsens zum Thema ruppig in Frage stellten – kurz: genau das, was Redakteure (und seltener Redakteurinnen) in Deutschland grundsätzlich bei jedem Thema gut finden, egal ob der Konsens von links oder von rechts dominiert wird. Ein Jude, der sich in Solidarität mit der palästinensischen Sache übt, ist da so attraktiv wie ein Syrer, der sich für Asylobergrenzen ausspricht. Nur halt noch mehr, weil… ihrwisstschonwarum.

Wolffs Geschichte hat Lücken, schon die Idee, wegen einer Sitcom in die Küche zu gehen und zu fragen ob man eigentlich Jude sei, wenn das vorher nie auch nur andeutungsweise Thema war, wirkt etwas weit hergeholt, später äußert er sich auf Twitter über ein „jüdisches Aufwachsen“, das er ja so nicht gehabt haben kann. Aber nehmen wir mal an, seine neueste biografische Variante ist nichts als die Wahrheit: Dann ist er natürlich kein Hochstapler und die Tragik seines Lebens besteht nicht nur daraus, dass da gerade eine seit 15 Jahren gepflegte Identität weggebrochen ist, sondern auch noch der „Unique Selling Point“ seines publizistischen Schaffens. Ein nichtjüdischer Deutscher, der Israel eher nicht so cool findet, ist halt keine Nachricht.

Über die Fragen zur Identität und Identitätsfindung sollen sich gerne die vielen, vielen klugen jüdischen Stimmen austauschen, einen Anfang haben Philipp Peyman Engel (Öffnet in neuem Fenster) und, für ihn außergewöhnlich einfühlsam, Michael Wolffsohn (Öffnet in neuem Fenster) gemacht. Mir fiel ein anderer Punkt auf, als ich den Artikel las, ohne zu wissen, wo er hinführt. Denn der Text „Mein Leben als Sohn“ ist lang, sehr lang, 31 Seiten hat er als PDF, vom Umfang her kommt er an eine Bachelor-Arbeit heran. Der Eindruck drängt sich auf, dass da jemand weiß, dass er sich offenbaren muss, aber den tatsächlichen Moment so weit nach hinten herauszögert, wie es nur geht. Vielleicht hat Wolff auch gehofft, dass niemand da wirklich bis ans Ende liest.

Ein Großteil des Artikels betrifft daher seine Familiengeschichte als das, was ihm überliefert wurde, und das in einer fast selbstverletzend schonungslosen Art – er schildert sich selbst als Produkt eines „Pity Fuck“, womit er nicht nur sich, sondern auch seine tote Mutter unter den Bus warf. Und er redet von den kleinen und großen Lügen, die sich in Familien festsetzen und fortpflanzen. Damit ist Wolff dann wieder sehr typisch deutsch (lies: nicht-jüdisch deutsch), denn diese Form von Klitterungen kennen viele von uns. Eine oft zitierte Statistik dazu ist die Zahl von ungefähr einem Drittel der Deutschen, die heute glauben, dass unter ihren Vorfahren aktive NS-Widerständler:innen gewesen seien. Auch wenn sich rein rechnerisch diese Einschätzung mit jeder Generation weiter der Wahrheit annähert, weil sich die Zahl der in Frage kommenden Vorfahren verdoppelt, ist sie natürlich absurd, aber entlastend. Die Vorstellung ist attraktiv, dass sie nur selten einer Überprüfung durch Aktenlage unterzogen wird, die meist vergleichsweise einfach wäre. Eine solche Recherche stellen, so meine Erfahrung (als jemand, der für solche Recherchen bezahlt wird), hauptsächlich nicht Leute an, die damit eine Entlastung bestätigt sehen wollen, sondern die eine bisherige Belastung widerlegen möchten.

Das Ganze wird natürlich meist etwas einfacher, wenn es um eine (Ur-)Großelterngeneration geht, die man selbst überhaupt nicht erlebt hat. Fabian Wolff hat seine Großeltern nicht kennengelernt, was aber an familieneigenem Unglück lag, aber das hat ausgereicht, um eine familienhistorische Projektionsfläche zu haben, die anderen nicht zur Verfügung stand – meine Großväter haben selten, aber deutlich von ihrer Zeit im Nationalsozialismus geredet, und auch wenn ich vom einen eine Gestapo-Akte habe, hat keiner von ihnen auch nur die Tür offen gelassen für irgendwelche Widerstandsromantiken des wissbegierigen Enkels. Wenn meine Kinder irgendwann fragen, was ihre Urgroßeltern damals gemacht haben, werde ich zumindest Akten, teils sogar Rundfunkmitschnitte eines banalen, im Nachhinein schonungslos reflektierten Mitläufertums haben. Das wird vermutlich didaktisch sogar wertvoller sein als eine ehrenvolle familiäre Besonderheit, in der man sich sonnen könnte. Und es verleiht weder mir noch meinen Kindern irgendeinen Sprechort, der dem, was wir sagen, schreiben, streiten, ein Gewicht gibt über die reine Äußerung, über unser Argument hinaus. Das wird jetzt auch Fabian Wolff lernen müssen. Viel Glück damit.

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