Kurras kontrafaktisch
Stiftung Haus der Geschichte (Öffnet in neuem Fenster), Lud (Öffnet in neuem Fenster)wig Binder (Öffnet in neuem Fenster), Studentenrevolte 1968 2001 03 0275.0162 (16899520189) (Öffnet in neuem Fenster), CC (Öffnet in neuem Fenster)BY-SA 2.0 (Öffnet in neuem Fenster)
Ver (Öffnet in neuem Fenster)gangene Woch (Öffnet in neuem Fenster)e erschien im Podcast „Was bisher geschah“ die erste von mehr (Öffnet in neuem Fenster)eren Folgen, an denen ich inhaltlich mitgearbeitet habe. Generell habe ich in diesem Jahr einen starken Wandel von eher redaktionell-organisatorischen zu inhaltlichen Arbeitsaufträgen erlebt, der so nicht beabsichtigt war, aber zur Abwechslung beiträgt – verbunden mit der Tatsache, dass ich diese Zeilen gerade auf der Terrasse schreibe, ergibt sich also ein wunderbares Arbeitserlebnis.
Aber zurück zum Podcast: Die Themen sind mir bislang vorgegeben wurden, den inhaltlichen Zuschnitt haben wir gemeinsam erarbeitet, in die grundlegenden Recherchen habe ich mich dann mit großer Wonne gestürzt. Die erste Folge die nun online ist betraf dann mit Gudrun Ensslin auch gleich eine der durchaus prägenden Frauen der bundesrepublikanischen Geschichte, die politisch wie ästhetisch Eindruck gemacht hat (und bevor jemand das unbedingt so lesen will: das ist nicht positiv gemeint). Bei Ulrike Meinhof hat man die Radikalisierung in den selbstgeschriebenen Texten immer recht gut ablesen können, aber Ensslin als schwäbische Pfarrerstochter blieb immer rätselhaft.
In den vergangenen Jahren sind ein paar gute Bücher zu ihr erschienen, die Licht ins Dunkel gebracht haben: „Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin“ von Ingeborg Gleichauf hat einen stark emotionalen Ansatz, es wirkt fast wie der Versuch, das Abdriften einer guten Freundin im Nachhinein zu erklären, und immer wieder scheint ein verzweifeltes Verständnis durch, ein „Ja, sie hatte ja recht, aber doch nicht SO!“.
Bei „Gudrun Ensslin: Die Geschichte einer Radikalisierung“ von Alex Aßmann hingegen wird sie als Element ihrer Generation gesehen, als eine Getriebene ihrer familiären und Zeitumstände, wobei mir manchmal ihre Eigenmächtigkeit über sich selbst zu kurz kommt: Ensslin war eine Erwachsene, und niemand muss Terrorist sein. Dass Aßmanns Buch geradezu abrupt in dem Moment abbricht, wo Ensslin in den Untergrund geht, ist ein gelungener Kunstgriff, um die Menge der Quellen kleinzuhalten, dürfte viele Leser:innen aber etwas ratlos zurücklassen – hier beginnt schließlich das Leben, wegen dem man sie überhaupt kennt.
Was allen Schilderungen gemein ist, ist (wie für viele aus der Generation) der Schock durch den Tod Benno Ohnesorgs. Der 26-Jährige war am Rande der Demo gegen den Besuch des Schahs in West-Berlin vom Polizisten Karl-Heinz Kurras in den Kopf geschossen worden. Kurras wurde dafür nie verurteilt, auch, weil sich Polizei und Verteidigung in Falschaussagen absprachen – das wäre übrigens auch mal ein gutes Thema für eine selbstkritische Aufarbeitung, liebe Barbara Slowik (Öffnet in neuem Fenster). Auch die 60.000 gesammelten Mark für seine Verteidigung würden etwas historische Reflexion vertragen, lieber Jochen Kopelke (Öffnet in neuem Fenster).
Kurras, das wissen wir seit 2009, war Mitarbeiter der Stasi. Was mir immer wieder bei der Recherche durch den Kopf ging, aber weggeschoben werden musste weil es nicht zum Thema gehörte: Was, wenn Kurras schon 1967, vielleicht auch erst 1968 aufgeflogen wäre? 1965 war Kurras einmal in Verdacht gekommen, eine Stasi-Mitarbeiterin vor ihrer Festnahme gewarnt zu haben. Die Ermittlungen erhärteten den Vorwurf nicht, aber es ist klar, dass eine Enttarnung nicht völlig unrealistisch gewesen wäre.
Begeben wir uns also in diesen Bereich des „Kontrafaktischen“: Wir lassen ihn beginnen nach dem Schuss im Innenhof der Krummen Straße 66, als Einsatzleiter Helmut Starke (der im Prozess behauptet erst später dazugekommen zu sein) mutmaßlich der ist, der Kurras befiehlt, sich so schnell wie möglich davonzumachen. Eine medizinische Versorgung Ohnesorgs wird erst blockiert, der 20 Minuten nach dem Schuss eintreffende Krankenwagen bei mehreren Kliniken abgewiesen, als er schließlich Aufnahme findet, ist Ohnesorg längst tot. Das Stück Schädelknochen mit dem Einschussloch wird aus dem Kopf gesägt, die Haut darüber zugenäht, dieses durchaus wichtige Beweisstück wird nie wieder gefunden. In der Akte wird als Ursache ein „Schädelbasisbruch“ eingetragen. Noch in derselben Nacht darf Schütze Kurras sich den Toten noch einmal angucken.
Wir haben also eine Situation, in der die Berliner Polizei weit jenseits der Legalität versucht, einen der ihren zu schützen, die Berliner Politik springt ihnen bei und der Axel-Springer-Verlag, der zwei von drei in der Stadt verkaufte Zeitungen druckt, natürlich auch, indem er am Tag nach dem Schuss den Ton setzt:
„Gestern haben in Berlin Krawallmacher zugeschlagen, die sich für Demonstranten halten. Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“
Was nun, wenn in diese Situation irgendjemand nochmal in die Personalakte von Kurras geguckt hätte, der Verfassungsschutz irgendwelche Indizien durchgestochen hätte oder ein schon überführter Stasi-Mitarbeiter plötzlich ausgepackt hätte? Durchaus möglich, dass das alles geändert hätte: Ohnesorg wäre für einen großen Teil der veröffentlichten Meinung plötzlich ein Todesopfer der DDR, ein Toter im asymmetrischen Krieg des real existierenden Sozialismus. Die Solidarität des antikommunistischen Blockes der Bundesrepublik wäre ihm und seiner schwangeren Witwe sicher gewesen – ob sie das nun gewollt hätte oder nicht.
Das hätte auch zu politischen Umwälzungen geführt: CDU und SPD hätten ihr Herz für die Demonstrationsfreiheit entdecken müssen, die sie damals nur allzu gern einschränken wollten, weil diese plötzlich akut aus dem SED-Staat bedroht wurde. Und der Sozialistische Deutsche Studentenbund, ohnehin in seiner Mehrheit der DDR gegenüber kritisch eingestellt, hätte deutlicher erklären müssen, was seinen Sozialismus von dem Sozialismus unterschied, der einen der ihren ermordet hatte. Und die RAF, zu deren Gründungsmythos immer auch der Mord an Ohnesorg gehörte, hätte sich von Anfang an gleich von zwei deutschen Schweinesystemen abgrenzen müssen - und hätte damit auch in späteren Phasen vermutlich nicht die Unterstützung der DDR bekommen, die sie tatsächlich genossen hat.
Auch die deutsche Polizei hätte sich unangenehmen Fragen stellen müssen: Wie konnte es sein, dass ein Stasi-Mann so bedingungslose Solidarität bis weit außerhalb des Erlaubten erhalten konnte? Wieso hatte man sich vor ihn gestellt? Die Aufarbeitung wäre ironischerweise deutlich gründlicher gewesen als sie es nun bis heute geblieben ist. Es wären vermutlich in der Folge sämtliche Polizeibeamt:innen noch einmal ausgiebig durchleuchtet worden, vielleicht hätte es auch eine „Red Scare“ wie in den USA gegeben und damit eine erzwungene Aufspaltung der Wahrnehmung zwischen den eigenen bundesrepublikanischen Linken und dem realen Sozialismus.
Mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Vielleicht hätte sich auch eine Deutung durchgesetzt, nach der Kurras irgendwie ja doch aus den falschen Motiven alles richtig gemacht habe. Und dann hätte sich überhaupt nichts geändert, und Benno Ohnesorg wäre immer noch sinnlos tot und die Verantwortlichen für Tat und Vertuschung in Amt, Würden und Pensionen.
Den Podcast “Was bisher geschah” mit Jochen Telgenbüscher und Nils Minkmar und, im Hintergrund, auch ein bisschen mir, gibt es überall zu hören wo man Podcasts hören kann. Die Folge über Gudrun Ensslin z.B. hier:
Wondery (Öffnet in neuem Fenster)
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