Neid und Negation
Seit zwölf Jahren, als ich zufällig einen taz-Artikel zum Prozess „Irving v. Penguin Books (Öffnet in neuem Fenster)“ las, beschäftige ich mich wissenschaftlich mit dem Phänomen Holocaustleugnung in nationaler wie internationaler Perspektive. Das hat mich gewissermaßen vorbereitet auf die flächendeckende Ausbreitung von Verschwörungserzählungen in den folgenden Jahren, denn auch die Holocaustleugnung ist natürlich die Behauptung einer solchen Verschwörung: Wäre Auschwitz erfunden, müssten sich nicht nur die Jüdinnen und Juden der Welt, sondern mit ihnen alle Regierungen, beide Blöcke des Kalten Krieges und die gesamte Wissenschaft abgesprochen haben. Und zudem ist sie natürlich immer antisemitisch, das erklärt sich von selbst.
Das Thema hat so seine Konjunkturen: Es kam mitunter auf, als die Piratenpartei politische Relevanz hatte, weil sich dorthin, wie zu jeder Jüngstpartei, auch die Randständigsten unter den politisch Heimatlosen verirrten, es wird immer wieder akut in der AfD, die bislang aber weitgehend darauf achtet, zumindest ihre Mandatsträger:innen auf Linie zu halten. Gestern kam es von unerwarteter Stelle in meinen Fokus: Die, sagen wir, Komödiantin Roseanne Barr sollte in einem amerikanischen Podcast den Holocaust geleugnet haben. Das Zitat, das als Videoschnipsel die Runde machte, war eindeutig:
„And nobody died in the Holocaust either. That's the truth, it should happen, six million Jews should die right now because they cause all the problems in the world, but it never happened, but it never happened!”
So wie es da steht ist es selbstverständlich Holocaustleugnung, verbunden mit Volksverhetzung und Aufforderung zu Straftaten. Die Äußerung für sich würde in Deutschland vermutlich für eine Freiheitsstrafe ausreichen. Aber es fehlt, wie so oft, der Kontext, und das bringt mich in die unangenehme Lage, Roseanne Barr verteidigen zu müssen, die 1988 die damals progressivste Sitcom der westlichen Welt erschuf – die erste, die sich ausdrücklich und schonungslos der Arbeiterklasse widmete und dabei den Blick auf andere Randständige nicht vergaß: die erste gleichgeschlechtliche Hochzeit im amerikanische Mainstream-TV lief dort. Seitdem ist viel passiert, Barr ist so scharf nach rechts abgebogen, dass ihr letztes, hochmiserables Stand Up Special „Cancel This!“ nicht auf Netflix o.‘Ä. gestreamt wurde, sondern auf dem Video-on-Demand-Portal „Fox Nation“.
Dennoch hat natürlich auch Barr ein Recht darauf, nicht aus dem Kontext zitiert zu werden. Und der ist eindeutig: Barr spricht im Podcast des (ebenfalls eher nach rechts tendierenden) Comedians Theo Von mit ihm über die Einengung von Meinungsfreiheit, also das Lieblingsthema dieser politischen Sphäre. Das Thema „Covid misinformation“ schwebt irgendwie im Raum, konkret geht es aber um die Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten und den Vorwurf, die Wahl sei gefälscht worden. Barr beklagt dabei mit einem (kaum hörbaren, aber angesichts ihrer sonstigen Haltung logisch erkennbaren) Sarkasmus das „Speech Mandate“, frei übersetzt die „Äußerungsanweisung“ der großen digitalen Plattformen, dass die Wahl sauber gewesen sei:
„Like for the real truth that, you know, and I'm glad that they did set up all these guidelines so that we only are allowed to speak the truth, and the truth is that Biden got 81 million votes by winning 36 counties. And that is just incredible, it really really is. […] I'm just glad that they were very careful to make sure that nobody could detract from that proven truth. […] They mandated that that was the truth and that nobody could say “Well what about no”. […] That's all a lie, the election was not rigged. 36 counties can give you 81 million votes, right, that's a fact.
Von: So it wasn't rigged?
Barr: Of course not! 36 Counties have 81 million people in them. See, that's the truth and don't you dare say anything against it or you'll be off YouTube, Facebook, Twitter, and all the other ones, because there's such a thing as the truth and facts and we have to stick to it.”
Es ist schwer, Barr im Geschriebenen wie im Gehörten zu folgen, aber es ist natürlich wichtig: Sie geht aus von der falschen Behauptung, Biden habe nur 36 Landkreise in den USA für sich entschieden (es waren 477) und interpretiert diese auch noch fehl: Counties in den USA haben höchst unterschiedliche Bevölkerungszahlen, von 64 Einwohner:innen (Loving County, Texas) bis 10 Millionen (L.A. County, Kalifornien). Aber das nur am Rande: Barr beklagt, dass die großen Plattformen ihre Unwahrheiten über die Präsidentschaftswahl als Verstoß gegen ihre Geschäftsbedingungen sperren würden, und sieht dies als Eingriff in ihre Meinungsfreiheit. Diese, ihre, Vorstellung, dass man nur eine Wahrheit äußern dürfe („Biden hat rechtmäßig gewonnen obwohl er nur 36 Counties geholt hat“), eskaliert sie dann dahingehend, dass es schon bald möglich sein könne, dass die Plattformen vorgeben, dass man dort nur noch äußern dürfe, den Holocaust habe es nicht gegeben und die Juden seien an allem schuld.
Natürlich ist das in allen Belangen abstrus, aber es wird eindeutig klar, dass Barr sich diese Aussage nicht zu eigen macht. Sie tut das nur im Gesamtzusammenhang von so vielen Unwahrheiten, Ambivalenzen und Anwandlungen von Selbstmitleid, dass es ohne tiefere Textexegese kaum verständlich ist – zumal Barr selbst schuld ist, dass man ihr solche menschenfeindlichen Äußerungen ohne weiteres zutraut (Öffnet in neuem Fenster). Die Angelegenheit wird jetzt ihren üblichen Gang gehen: Empörte, verkürzte Tweets werden viral verbreitet, gegenempörte Tweets von Barr-Fans schlagen zurück, Barr wird auf ihre eigene jüdische Identität verweisen (beide Eltern sind jüdisch, Barr ist eine bei der Einwanderung übernommene Abkürzung des Namen „Borisofsky“) und später tüchtigen Profit aus dieser Episode ziehen. Und Theo Von hat sicher ein paar tausend neue Abonnements für seinen Podcast.
Hurra.