Zum Hauptinhalt springen

Die weiße Wolke

Über den Lärm der Zeit und die Stimmen der Toten, das kupfergrüne Dach am Dresdner Elbufer und meinen Roman über das Japanische Palais

Vor ein paar Jahren fotografierte ich einen Satz, den jemand mit schwarzer Farbe an eine Mauer in Lüneburg geschrieben hatte. Seither geht er mir nicht mehr aus dem Kopf: „Spürst du den Lärm der verstreichenden Zeit?“

Ich weiß nicht, ob er immer noch dort steht oder ob die Zeit selbst oder ein gezielter Sandstrahl ihn ausgelöscht hat. Für den Augenblick genügt es, die Fotografie zu betrachten. Die grauen Steine der Quaimauer mit den sich mühsam in der Waagerechten haltenden Wörtern; die heranwuchernden Brennesseln, die schon nach dem Fragezeichen greifen.

Zuerst dachte ich, es wäre eine Zeile aus einem Gedicht oder einem Lied von Element of Crime. Eine Weile suchte ich danach – ohne Erfolg. Offenbar war der Satz der oder dem Unbekannten selber eingefallen. Wie sagten früher die Lehrer zu uns? „Narrenhände beschmieren Tisch und Wände.“ Nein, ein Narr war da nicht am Werk gewesen. Und wenn doch, dann ein weiser Narr. Denn was da auf der Mauer stand, war keine Schmiererei, sondern ein Satz von geradezu philosophischer Klarheit.

Lag es an seiner beiläufigen Poesie, daß er sich in meinem Kopf einnistete? Wobei sich der genaue Wortlaut im Laufe der Jahre änderte. Erst jetzt, während ich die Fotografie betrachte, fällt es mir auf. Aus „Spürst du“ wurde „Hörst du“, aus „Lärm“ wurde „Rauschen“. Ohne daß ich die Worte aussprach, lautete der Satz in meiner Erinnerung: Hörst du das Rauschen der verstreichenden Zeit?

Auch diese lautmalerische Variante hat etwas für sich. Sie paßt zu der großen Straße, die nur wenige Meter entfernt über die Ilmenaubrücke führt und auf der es unentwegt rauscht. Früh der Berufsverkehr, am Nachmittag der Feierabendverkehr. Wann immer ich sie überqueren will, dauert es eine halbe Ewigkeit, bis der Strom der Autos für wenige Sekunden abreißt.

Und doch ist es der schwächere Satz. Als habe die Zeit jene Wucht abgemildert, mit der mich damals die schwarzen Buchstaben trafen. So wie der Lärm, den man nicht nur hört, sondern der auf einen einstürmt, sich auf einen wirft, den ganzen Körper ergreift.

Rauschen: das kann alles sein. Der Verkehr auf der Brücke, aber auch das Geräusch der Wellen. Wie heißt es in einem Gedicht von Jürgen Becker? „Das Rauschen tags, das ist die Autobahn, / gleich hinter den Kiefern. Gleich hinter den Kiefern, / nachts ist es das Meer.“

Der Lärm der verstreichenden Zeit: Spätestens am Ende des Jahres ist er nicht mehr zu überhören. Der Krach in den Straßen, das Zischen und Fauchen am Himmel. Als sollte die „Stille Nacht“ endgültig ausgelöscht werden.

Als Kind war ich immer erstaunt, daß es am ersten Tag des neuen Jahres so weiterging wie am Ende des alten. In meiner Vorstellung war der Januar in strahlendes Weiß getaucht. Ich sah eine verschneite Landschaft; eine neue Seite, die aufgeschlagen wird. Doch als es soweit war, geschah – nichts. Morgens wurde es so spät hell, abends so früh dunkel wie in den Tagen zuvor. Dazwischen das gleiche Dämmergrau.

Nicht, daß ich heute klüger wäre. Noch immer ertappe ich mich bei der kindlichen Erwartung, daß im Januar etwas Neues beginnt. Und mit dem alten Jahr all das zurückbleibt, was ein Ballonfahrer als Ballast bezeichnen würde. Aber dann ist das Jahr noch keine zwei Wochen alt, viel heller geworden ist es nicht – und schon hat mich alles wieder eingeholt, was ich im ersten Überschwang glaubte, hinter mir zu haben.

Natürlich, ich weiß es ja. Wie fadenscheinig dieses Gewand ist, in das wir die Wirklichkeit kleiden, um sie uns irgendwie begreiflich zu machen. Wie untauglich die Begriffe sind, mit denen wir zu umschreiben versuchen, was wir nicht fassen können. Unsere Vorstellung von Zeit als ein Fortschreiten, Dahinfließen, ein Vergehen. Je älter ich werde, um so öfter entdecke ich die Löcher im Gewebe. Was ist schon vergangen?

Aber ja: die Tage verstreichen, und auch das Jahr kommt an sein Ende, mit Korken und Raketen. Doch was heißt das schon?

Man spricht von Vergangenheit, von Gegenwart und Zukunft. Aber in manchen Momenten ist mir das Vergangene so gegenwärtig wie die Luft, die ich atme. Es steht mir so klar vor Augen, als wäre es nicht Jahrzehnte her, sondern bloß ein paar Minuten.

In einem solchen Moment schrieb ich vor einiger Zeit diesen Satz: „Jedes Jahr im Advent, wenn ich die Krippenfiguren aus der verstaubten Schachtel nehme, sehe ich das Gesicht meiner Großmutter vor mir.“

Es war der Anfang einer Erzählung über die Weihnachtsfeste meiner Kindheit. Während ich sie schrieb, stand wieder alles vor mir: die Krippenfiguren, die 1945 den Angriff auf Dresden überstanden hatten, das Lied von der Pfefferkuchenfrau, das wir Jahr für Jahr unter dem Dröhnen des leicht verstimmten Klaviers schmetterten. Und die gebeugte Gestalt meiner Großmutter: ihre weißgrauen Locken, die tausend kleinen Fältchen, ihr verschmitztes Lachen.

Es war, als hätte mir Marcel Proust eine seiner zauberhaften Madeleines auf die Zunge gelegt. Nichts von all dem, was ich damals Am Jacobstein erlebt hatte, wie die stille Straße in Radebeul hieß, in der meine Großeltern jahrzehntelang wohnten, war vergangen oder vergessen.

So geht es mir immer wieder. Manchmal kommt es mir so vor, als wären alle Augenblicke irgendwo in meinem Inneren noch da.

Während ich diese Sätze schreibe, fallen mir die Fichtenstämme ein, die ich gestern am Waldrand liegen sah. Das Rund der hellen Schnittfläche, der man die Jahre ablesen kann, die der Baum dem Himmel entgegenwuchs. Als Kind glaubte ich, daß auch wir Menschen Jahresringe haben. Ich nur ein paar, aber mein Vater unvorstellbar viele. Daran mußte ich denken, als ich gestern meine Hand auf das konzentrische Muster legte und darüber nachdachte, was das ist: Zeit.

Jetzt bin ich so alt wie damals mein Vater, als er mir die Sache mit den Jahresringen erklärte. Aber was wir Zeit nennen, ist mir immer rätselhafter geworden. Die Sekunden, die sich zu Ewigkeiten dehnen; die Stunden, die in Windes­eile zu ein paar hastigen Atemzügen zusammenschnurren. Wer könnte das je begreifen?

Nie werde ich den Blick meiner kleinen Tochter vergessen, als ich ihr das Märchen von Dornröschen vorlas. Daß die Königstochter hundert Jahre lang schlief und beim Erwachen noch immer so jung war wie an dem Tag, als sie sich an der Spindel stach – sie konnte es kaum glauben. Erstaunt betrachtete sie das von einer Dornenhecke überwucherte Schloß mit den ebenfalls schlafenden Dienern und Pferden, den schlafenden Fliegen an der Wand und dem Küchenjungen, der schließlich doch noch seine Ohrfeige bekommt. Eine Insel der Zeitlosigkeit und Stille, unberührt vom „Lärm der verstreichenden Zeit“.

Eine ähnliche Empfindung hatte ich vor einigen Wochen, als ich in einer fremden Stadt durch eine Gasse lief und mein Blick auf ein Fenster fiel, im Erdgeschoß eines unscheinbaren Hauses. Viel war nicht zu sehen: ein paar Grünpflanzen, eine vergilbte Gardine mit Gänsen und Hühnern. Doch ich konnte nicht anders: ich mußte stehenbleiben und es betrachten wie ein Stilleben in einem Museum.

Während es zu schneien begann und die Flocken auf mich niedergingen wie die Federn der Gänse auf der Gardine, stellte ich mir das Zimmer vor, das dahinter lag. Das Tageslicht, das es nur spärlich erhellt. Die Finsternis, die es nachts bis in den letzten Winkel ausfüllt. Die Zeiger einer Uhr – so reglos wie die schwarzen Beine der Fliegen auf dem Fensterbrett.

Einige Jahre lang habe ich an einem Roman geschrieben. Er beruht auf der Lebensgeschichte meines Großvaters, eines Büchermenschen, der sich, wäre die Welt eine andere, vielleicht einen solchen Ort der Stille gesucht hätte, um nichts zu tun als zu lesen, zu schreiben und hin und wieder ein Glas Meißner Wein zu trinken. Aber die Welt ist nicht so – und schon gar nicht waren es die Zeiten, in denen er lebte.

Geboren 1913 in Dresden, geriet er mitten hinein in ein Jahrhundert voller Mord und Zerstörung, von Ideologien verseucht, geprägt von Menschenverachtung und einem unfaßbaren Vernichtungswillen. Der Lärm der Zeit war das Jubelgeschrei der Masse, die sich an sich selbst berauschte, das Kommandogebell der SS, das Krachen von Bomben.

Helmut Deckert wußte früh, was die Stunde geschlagen hatte. Als Student versah er Hitlers Machwerk „Mein Kampf“ mit empörten Randbemerkungen. Später flüchtete er sich an die Sächsische Landesbibliothek, die ihm wie ein Refugium vor dem Nazi-Ungeist erschien. Damals befand sie sich im Japanischen Palais, das August der Starke einst für seine Porzellansammlung vorgesehen hatte. Ein prächtiges Gebäude an der Elbe, unter dessen kupfergrünem geschwungenen Dach sich die Renaissancebände drängten.

Das Palais war ein Mythos meiner Kindheit, legendenumrankt wie im Märchen das Schloß von Dornröschen. Bei jedem Gang über die Augustusbrücke wies der ausgestreckte Zeigefinger meines Vaters darauf hin. Wenn ich an damals zurückdenke, ist mir das Kupfergrün so gegenwärtig wie das Rot der Straßenbahnen, das nach der Wende plötzlich aus dem Stadtbild verschwand.

Und doch: das Palais meines Großvaters gab es nicht mehr. Bei einem jener Luftangriffe, die 1945 das alte Dresden in Schutt und Asche legten, brannte es aus. Zwar baute man es nach dem Krieg wieder auf. Doch weil den neuen Machthabern die ehemalige königliche Bibliothek als feudales Relikt galt, verbannten sie diese an den Stadtrand. Ein ewiges Provisorium, das die Erinnerung an den Büchertempel am Neustädter Ufer noch heller erstrahlen ließ.

Als Kind wuchs ich mit den Erzählungen vom Japanischen Palais auf. Vor meinen Augen erstand das Bild einer glorreichen Vergangenheit, deren dunkler Flecken sich die Erzähler zutiefst schämten. Der dunkelste war das Bibliotheksverbot für Victor Klemperer, der als Jude zuerst nur den Lesesaal, später die Bibliothek nicht mehr betreten durfte.

Auch das düstere Nachspiel war längst zur Legende geronnen: der Untergang der Stadt im Bombenhagel, das brennende Palais. Und noch Jahrzehnte später erregte die Katastrophe im Tiefenkeller die Gemüter. Zu spät hatte man entdeckt, daß er voller Elbwasser stand. Klitschnaß lagen die Kostbarkeiten der Bibliothek in den angeblich sicheren Stahlschränken: die Maya-Handschrift, Dürers Skizzenbuch, Notenblätter von Bachs h-Moll-Messe.

Wann immer die Rede auf das Japanische Palais kam, straffte sich der Körper meines Großvaters, und ein Leuchten trat in seine Augen. Doch wenn jemand den Tiefenkeller erwähnte, schien er auf seinem Stuhl zusammenzusinken, sein Gesicht wurde grau.

Als ich den Roman zu schreiben begann, hatte ich all das im Sinn. Vor allem ein Bild stand mir vor Augen. Es zeigte meinen Großvater als jungen Mann: blaß und hager, gezeichnet von den Hungerjahren. Ich habe es nie gesehen, aber es ist mir oft beschrieben worden: wie er und die anderen Bibliothekare die Leiterwagen voller Bücher durch die Trümmerlandschaft zogen, die einmal Dresden war.

In manchen Momenten ist mir das Vergangene so gegenwärtig wie die Luft, die ich atme. Das gilt nicht nur für das, was ich selbst erlebt habe.

Jahrelang habe ich mich in diese Geschichte vertieft, habe Aufzeichnungen gelesen und verkratzten Tonaufnahmen gelauscht, Briefe entziffert, schwarzweiße Fotografien betrachtet und in Stadtplänen und Adreßbüchern gestöbert. In dieser Zeit ist mir das Japanische Palais so vertraut geworden, als wäre ich vor dem Krieg dort ein- und ausgegangen. Mitten in der Nacht könnte man mich wecken, und es wäre mir ein leichtes, den Weg vom Großen Lesesaal zum Direktorzimmer zu beschreiben oder den Blick aus dem Fenster der Kartensammlung.

Nicht viel anders geht es mir mit den Bibliothekaren. Dem Direktor Martin Bollert, den die Nazis eiskalt abservierten, seinem einarmigen Nachfolger Hermann Neubert, dem Fassadenkletterer Hans Hofmann, der zerstreuten Dorothee von Watzdorf. Sie alle sind Romanfiguren geworden, und ihre Stimmen sind in meinem Kopf wie die Stimmen von alten Bekannten. Bin ich in Dresden, glaube ich sie zu sehen, wenn ich über die Brühlsche Terrasse gehe oder durch die Königstraße auf das Palais zu.

Der Roman ist noch unveröffentlicht (gedruckt werden nur die, die schreiben können). Vielleicht ist mir deshalb seine Welt auf eine Weise nahe, als ob es meine eigene wäre. Es ist, als hielte ich noch alle Fäden in der Hand. Ich habe noch nicht losgelassen, und deshalb läßt es auch mich nicht los.

Im vorigen Sommer stand ich wieder einmal im Hof des Japanischen Palais. Immer wieder war ich in den letzten Jahren dort gewesen, hatte aus einem der Fenster im zweiten Stock über die Elbe geblickt und mir den Tiefenkeller zeigen lassen. Jeden Stein, jede bemooste Brunneneinfassung hatte ich betrachtet.

Die steinernen Chinesen auf den Fassaden ringsum lachten mich an, als hätten sie mich erkannt. Ein leiser Spott funkelte in ihren Augen. Es fühlte sich an wie eine Heimkehr.

Ich setzte mich in den Schatten und genoß es, wieder hier zu sein. Die Sonne schien, und in dem blauen Viereck über mir stand eine Wolke: so weiß, daß es in den Augen schmerzte. Sogar diese Wolke war mir vertraut. Hatte ich sie nicht damals schon gesehen? An jenem fernen Sommertag, als mir Hans Hofmann vor dem Lesesaal das Buch in die Hand drückte ...

Ich hatte die Augen noch immer geschlossen und lauschte auf die Stimmen, die aus einem offenen Fenster zu mir drangen. Der Lärm der verstreichenden Zeit: in diesem Moment war er nicht zu spüren.

Diese Geschichte habe ich am 15. Januar 2023 an 415 Leserinnen und Leser verschickt. Wenn auch Sie meine Geschichten erhalten wollen, tragen Sie sich gern hier ein.

Ist Ihnen diese Geschichte etwas wert? Dann freue ich mich, wenn Sie meine freiberufliche Arbeit an „Wolken und Kastanien“ mit einer Mitgliedschaft unterstützen. Das geht schon zum Preis einer Tasse Kaffee im Monat.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Wolken und Kastanien und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden