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Wir sind die Utopie

Ich glaube nicht mehr ans gute Ende, an die Utopie oder den Himmel. Aber genauso wenig glaube ich an den Kollaps, die Apokalypse, das Ende. Beides geht von einem Bild der Welt aus, von dem ich mich verabschiedet habe.

Es ist ein Bild, das im Kopf von weißen Männer vor vielen Jahrhunderten entstanden ist, ein Bild aus der Rationalität, in der es das Konzept „perfekt“ gibt, letztlich Computersprache: 1 und 0 – eine Binarität, nach der unreife Menschen sich sehnen, die die Welt aber nicht kennt.

Die Welt kennt nur die Beziehung, kennt nur die fließenden Übergänge, kennt nur die Verwobenheit.

Ungefähr zwei Kilogramm Bakterien leben im menschlichen Körper, würde man sie zählen, wäre ihre Zahl etwa so groß, wie die unserer Zellen. Dazu kommen Viren und Pilze, mit denen wir in Symbiose leben. Die Mitglieder eines Haushalts teilen etwa ein Drittel der Mundbakterienstämme, letztlich also das gleiche Mikrobion, und wo Austausch stattfindet, ist Verbindung. Und was ist mit den Bäumen, deren Sauerstoff ich atme, die mein CO2 atmen – wie nah oder fern ist diese Verwandtschaft?

Ohne Bäume könnte ich vielleicht noch leben, es gibt ja noch Algen, die Sauerstoff produzieren – ohne Bakterien würde ich sterben. Sind sie also ein Teil von mir? Bin ich ein Teil von ihnen? Oder sind wir Teile von einander?

Was von mir bleibt, was ich bin, ist ein Geflecht aus Beziehungen, in das ich eingespannt bin – physikalisch, biologisch und sozial. Vieles endet natürlich mit dem Tod, aber jeder der einen Kompost hat, weiß auch, wie viel Neues daraus entsteht.

Was das für mich bedeutet: dass Befreiung und Untergang wenig mit der Zukunft zu tun haben, dafür umso mehr mit der Gegenwart. Ich kann mich in jedem Moment entscheiden, die Beziehungen zu meinen Mitmenschen, meiner Mitwelt zu pflegen. Das heißt, mich für das Glück anderer zu freuen, weil es dann mein Glück ist. Das heißt, andere zu unterstützen, weil ich mich damit selbst unterstütze. Das heißt, für ein Gleichgewicht zu sorgen, weil sich Geben dann anfühlt wie Nehmen.

Ich höre die Zynischen schon sagen: Klar, ist leicht das so aufzuschreiben in deinem komfortablen Leben. Und ja, das stimmt sicherlich. Es ist leichter, so zu handeln, wenn ich ausgeruht bin, satt und sicher. Deswegen mache ich auch gerade eine Woche frei. Doch ich habe auch auf meinen Recherchen unzählige Menschen kennengelernt, die diese Art zu leben, gerade in Momenten der Not pflegen.

Als erstes kommt mir Riyaz Rawoot in den Kopf. Er hat während einer brutalen Dürre in Kapstadt eine kleine Quelle für Zehntausende Menschen zugänglich und zu einem Ort der Erholung gemacht, einfach indem er eine simple Regel aufstellte: Jede Person hilft der Nachfolgenden beim Befüllen ihrer Wasserkanister. Riyaz hat daran nichts verdient, er hat es einfach genossen, die Menschen so zu erleben. (In unserem Buch „Zwei am Puls der Erde“ haben wir darüber ausführlich geschrieben. Ich habe euch das entsprechende Kapitel hier (Öffnet in neuem Fenster) online gestellt.)

Wenn ich mein Handeln nicht mehr an der Zukunft ausrichte, nicht mehr auf ein Ziel, dann befreit mich das. Ich unterwerfe mich nicht mehr irgendwelchen Zwängen, mache keine faulen Kompromisse mehr. Ich orientiere mich an meinen Werten, meiner Menschlichkeit, denn sie sind die Richtschnur für richtiges Handeln im Hier und Jetzt.

Im Alltag bringt mich das laufend in den Konflikt mit unserem unmenschlichen System, verwickelt mich in Widersprüche. Einen Teil davon kann ich aushalten. Irgendwann braucht das jedoch mehr Kraft, als der Ansatz, die Dinge um mich herum zu verändern.

Aushalten heißt in diesem Fall, mich aus meinen Beziehungen rauszuziehen. Verändern heißt, in meine Beziehungen reinzugehen, und auch Konflikt ist Beziehung – gut gehalten und gelöst, stärkt auch er die Verwobenheit. Und ja, auch wenn der Strom ausfällt, das Essen knapp wird, und Krankheiten grassieren, kann ich mich immer noch dafür entscheiden, menschlich zu handeln. Es ist nur schwieriger. Aber gerade dann kommt es darauf an.

„Nicht-Ort“ bedeutet das Wort “Utopie” – und gute Beziehungen sind das Utopischste, das ich kenne. Denn sie sind keine Orte. Sie sind die Räume dazwischen.

Die Räume, die wir teilen.

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