Zum Hauptinhalt springen

Die Lüge, die sie uns erzählen

Die Sonne scheint, auf der Wiese blühen die Krokusse, am Wochenende schwebte der erste Zitronenfalter an mir vorbei. Ja, da ist auch ein Gefühl von: Yes, der Winter ist fast überstanden. Und gleichzeitig die Frage: Zitronenfalter im Februar, ist das richtig?

Es gibt kaum etwas Schöneres als den Frühling, es wieder warm wird. Doch im Bauch sitzt dieses flaue Gefühl.

Wenn die Falter zu früh schlüpfen, sterben sie, bevor die Vögel brüten. Dann gibt es zu wenig Nahrung für die Eltern, das heißt, weniger Küken, das heißt weniger Beute für größere Tiere, das heißt weniger Nachwuchs. Das Netz des Lebens reißt, die Verbindungen reißen – weil unsere Verbindung gerissen ist.

In der Philosophie der Aufklärung war das eine gute Idee, den Menschen aus dem Kosmos zu nehmen. Ein guter Schritt, um uns vor der Kirche und den Monarchen zu retten, stattdessen bekam jeder Mensch unveräußerliche Rechte, wurde zum Individuum. Unsere Vernunft wurde zum göttlichen Funken umgedeutet, der uns außerhalb und überhalb der Natur stellte. Und da stehen wir seitdem, mit der Kettensäge in der Hand.

Doch wir haben nicht nur die Verbindung zu unserer Mitwelt gekappt, sondern auch zu unseren Mitmenschen.

Menschen teilten Güter im Allmendeprinzip, halfen sich gegenseitig dabei, ihre Ernten einzufahren und Dächer zu bauen, weil sie wussten: heute brauchst du Hilfe, morgen Ich. Alle alten Weisheitstraditionen kennen einen Satz wie: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Heute bekomme ich oft zu hören: Das revolutionäre an dem Satz sei ja, dass man sich erstmal selbst lieben müsse, um andere zu lieben. Die Anbetung des eigenen Ichs als Weisheit – was für eine arme Welt. Was für ein einsames Leben.

Es gibt tausend historische Ursprünge für diese Entwicklung, und wie gesagt: Schutz der Person super Sache, doch diese Philosophie wird missbraucht.

„There is no such thing as society”, meinte Margaret Thatcher. Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen, sagte die ehemalige Premierministerin, die Bergarbeiterstreiks brutal von der Polizei niederschlagen ließ. Und das ist das Credo des Neoliberalismus.

In unterschiedlicher Form wird es erzählt von FDP, SPD und CDU aber auch den Grünen. Es ist das Lied von der „sozialen“ Marktwirtschaft, von der Lohnarbeit, von der Konsumwirtschaft, in der immer und überall gilt: Damit ich mehr bekomme, müssen andere weniger haben, im Zweifel die Schwächeren, also Menschen, die Bürgergeld beziehen, Zugewanderte, alleinerziehende Mütter.

Jede gegen Jeden und so gehen wir gemeinsam einsam über die Klippe.

Unser politisches System basiert auf Konkurrenz, Stimmen bekommt man vor allem, indem man die Gegner runtermacht, das heißt: Politiker profitieren davon, wenn sie verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufhetzen.

Der Journalismus basiert auf dem gleichen Prinzip, Konflikt zieht Aufmerksamkeit, bedeutet also Klicks und Abo-Abschlüsse. Instagram, TikTok und X haben das zur Meisterschaft gebracht, sie füttern uns mit Inhalten, die uns in die verbalen Schützengräben treiben.

Eine Freundin postete kürzlich nach einem Gerichtsprozess ein Video, in dem sie erzählte, welche Strafe sie für einen Protest bekommen hatte. Darunter innerhalb kurzer Zeit: 317 Kommentare, größtenteils Hass.

Und das diese Fixierung auf die Vernunft. Dem Mann wurde sie immer zugesprochen, der Rest der Welt als irrational zugesprochen. Dabei ist das so eine dumme Perspektive. Die Vernunft kann gut trennen und kategorisieren – das heißt, sie hilft bei mathematischen Problemen und beim Einkauf im Supermarkt. Den Rest der Zeit ist sie ziemlich nutzlos. Wenn es um Beziehungen geht, um die Pflege von kranken Angehörigen, um Freude, Tanzen, Musik und Sport, also alles, was das Leben lebenswert macht. Und trotzdem setzen wir die Vernunft über alles.

Das ist Wahnsinn. Man muss kein Eso sein, um zu wissen: Uns verbindet viel mehr, als uns trennt. Wir wollen alle in Sicherheit leben, eine Tätigkeit ausführen, die sich sinnvoll und selbstwirksam anfühlt, und eine gute Zukunft für unsere Kinder bauen.

Und nicht nur wir Menschen teilen so viel, sondern alle Lebewesen auf diesem Planeten, das beweist ja gerade die Klimakrise. Wenn wir unsere Lebensgrundlagen – also die lebendige Umwelt – zerstören, dann vernichten wir uns auch selbst. Wir hängen von ihnen ab, hängen mit ihnen zusammen.

Selbst mit der verdammten Fruchtfliege teilen wir Menschen 60 Prozent unserer Gene, weil wir halt schlichtweg die gleichen grundlegenden Bedürfnisse haben. Und selbst für acht Milliarden Menschen ist genug da auf diesen Planeten, wenn wir wieder teilen würden.

In der Biologie heißt das „Symbiose“, in der Sozialwissenschaft „Kooperation“. Scheissegal, wie wir es nennen, es ist überlebenswichtig.

Doch Politiker:innen, die Springer-Presse, Lobbyist:innen und andere bläuen uns Tag für Tag das Gegenteil ein:

„Du bist deines Glückes Schmied.“

„Geiz ist geil.“

„Kauf dich glücklich.“

Diese Menschen profitieren davon, wenn wir vereinzelt in unseren Wohnungen sitzen, uns übereinander aufregen und manipulierbar bleiben.

Dabei gebe ich keinem Einzelnen die Schuld. Nicht Scholz, nicht Habeck, selbst Lindner nicht. Wir sind ja alle mit der Lüge vom abgetrennten Ich großgeworden – manche mehr, manche weniger. Unser System beruht darauf. Doch wir müssen diese Lüge überwinden. Nicht nur, weil die Geschichte vom getrennten Ich falsch ist. Sondern auch, weil es nicht gesund und nicht nachhaltig ist, und lange hält das unser Planet nicht mehr aus.

Ich habe das große Glück, etwas zu tun, was sich sinnvoll und wirksam anfühlt. Bezahlt werde ich dafür nicht, denn es ist in unserem System nicht monetarisierbar – Arbeit am Gemeinwohl steigert das BIP nicht, ist in der herrschenden Logik also wertlos.

Damit ich trotzdem weitermachen kann, bin ich auf Unterstützung angewiesen. Bist du dabei?

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Raphael Thelen - Klima und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden