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Im Hungerstreik

Als Wolli in den Hungerstreik getreten ist, war der Boden noch gefroren. Wenn er durchs Camp lief, knirschte es unter seinen Schuhen. Jetzt ist fast Sommer und Wolli hungert immer noch.

Er sagt, er hört erst auf, wenn Olaf Scholz öffentlich ausspricht, dass die Klimakrise eine Bedrohung für unsere Zivilisation ist. Er hungert für Ehrlichkeit über den Zustand unserer Welt.

Ich habe den Hungerstreik lange ignoriert, weil ich ihn zu bedrückend fand, bin dann vor ein paar Tagen zum ersten Mal hingefahren und habe mich mit Wolli unterhalten.

Auf dem Rückweg erzählte ich einer Freundin davon in einer Nachricht. Sie antwortete: „Hältst du es für eine konstruktive Strategie?“

Ich habe seitdem viel über die Frage nachgedacht und gemerkt, wie sie mich zunehmend wütend macht. Denn sie impliziert, dass die Klimakrise etwas sei, was wir kontrollieren können. Ein Ding, ein Problem, ein Gegner, den wir überwältigen könnten. Doch das ist Quatsch. Die Klimakrise sind wir. Nicht du und ich als Individuen, aber die Antwort, die wir kollektiv geben auf die Frage: Warum sind wir hier?

Wir leben in einer Zeit, in der Egoismus und Konsum zu Tugenden erhoben wurden, das Anhäufen von Privilegien ist das höchste Ziel. Das geht auf Kosten unserer Mitwelt, und je nachdem wo wir in der Hackordnung stehen, beuten wir auch andere Menschen aus, um selbst mehr zu haben. Wir im Westen stehen in dieser Hackordnung weit oben und gelten damit als Gewinner, denn Materialismus ist der Sinn des Lebens in unseren patriarchalen Gesellschaften, und das Klima damit letztlich eine spirituelle Krise.

Damit meine ich nicht Räucherstäbchen und Klangschale, sondern die Antworten, die wir auf die existenziellen Fragen des Lebens geben: Was ist richtig? Was ist falsch?

Wolli hat darauf eine Antwort gefunden. Eine radikal ehrliche. Er ist bereit, seine Privilegien aufzugeben, alles, was er hat – letztlich sein komplettes Ego, sein Sein, sein Leben. Er liefert sich komplett der Entscheidung eines anderen Mannes aus.

Er und die anderen Hungerstreikenden – Adrian, Richi und Titus – treiben damit etwas auf die Spitze. Sie machen etwas sichtbar, was wir alle verstehen müssen, die wir uns um die Welt sorgen: Es ist nicht möglich, gegen dieses System Widerstand zu leisten, wenn wir nicht bereit sind, unsere Leben grundlegend anders zu gestalten.

Das gilt für etwas, worüber ich früher schon geschrieben habe: Wenn wir gegen dieses System, das zu massenhaftem Sterben führt, Widerstand leisten wollen, ohne uns kooptieren zu lassen, dann geht das nicht, ohne Privilegien aufzugeben, das heißt: finanzielle Einbußen, Verlust von gesellschaftlichem Ansehen, Stress.

Und es heißt auch: Wir müssen grundlegend anders bewerten, wie wir leben wollen. Die Hungerstreikenden tun das Gegenteil von Konsumwahn, sie geben sich selbst her. Sie tun das Gegenteil von verängstigtem Warten, sie gehen mutige Schritte, sind bereit sogar den letzten zu gehen. Sie tun das Gegenteil von Egoismus, sie opfern sich für die Allgemeinheit.

Indem die Hungerstreikenden ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, bejahen sie das Leben. Sie sind bereit, sich zu opfern, um etwas zu schützen, was Größer ist als sie selbst.

Anders als Olaf Scholz, der – mit dem Streik konfrontiert – sagte, dass die deutschen Ingenieure das Problem schon in den Griff bekommen würden, was nichts anderes heißt als: er will seine eigene Macht schützen. Das ist das Weiter-so, das ist der Weg des globalen Sterbens, dass ist die Welt der „Strategien“, des Glaubens daran, dass sich diese Krise mit ein paar klugen Gedanken lösen ließe. Das ist die Bequemlichkeit.

Wenn Scholz nicht einlenkt und die Wahrheit ausspricht, wird einer der Hungerstreikenden in den kommenden Tagen sterben. Wollis Werte sind kritisch, Richi ist auch instabil und Adrian hat seinen Streik gerade noch mal verschärft.

Es fällt mir schwer, mir das wirklich vorzustellen. Ich gucke raus, sehe die blühenden Bäume im Garten, die Sonne und höre die Vögel singen, und die Situation wirkt absurd. Aber das sind die Zeiten, in denen wir leben.

Ich will, dass Wolli lebt. Ich will, dass alle Hungerstreikenden leben. Ich will, dass alle Menschen leben. Aber dafür muss sich viel verändern. Dafür müssen wir Menschen im Westen grundlegend verändern, wie wir leben. Dafür müssen wir anfangen, grundlegende Fragen anders zu beantworten: Was ist richtig? Was ist falsch?

Die Antwort muss nicht lauten: Wir gehen alle in den Hungerstreik. Die Antwort muss auch nicht lauten: Von jetzt an wird unser Leben richtig scheisse.

Wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückgucke und dann auf die Zeit, bevor ich das mit der Klimakrise verstanden habe – mein Gott, ist mein Leben schöner geworden, weil ich nicht mehr diesen Leistungsterror lebe, nicht mehr dieses ewige Vergleichen mit anderen, nicht mehr diese Ego-Nummer.

Stattdessen: Selbstbestimmung, tiefe innige Beziehungen, Selbstwirksamkeit und eine Aufgabe, die mich erfüllt.

Die Hungerstreikenden konfrontieren uns alle mit einer Frage, der wir uns im Alltag viel zu wenig widmen, für deren Beantwortung wir uns alle viel mehr Zeit nehmen sollten:

Wofür will ich leben?

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