Mit indigenem Wissen kolonialen Kontinuitäten begegnen
Du ließt mein Nachwort aus meinem Ökozid-Sammelband (oekom 2023)
Der Umgang mit der natürlichen Umwelt und nicht menschlichen Lebewesen weist auf eine eklatante moralische Verkommenheit hin. Diese zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass alles Verwertbare innerhalb der kapitalistischen Wertschöpfung zur Ware kolonisiert wird. Während Natur kaum mehr als Grundvoraussetzung der eigenen Existenz verstanden wird – was sie unbestreitbar ist –, wird dem bestialischen Quälen und Foltern von nicht menschlichen Lebewesen ebendiese Prämisse untergeschoben.

Europäische Expansion: Kolonialismus, Kapitalismus, Patriarchat und Zweiteilung
Die moralische Verkommenheit ist mit dem Mensch-Natur-Verhältnis längst nicht auserzählt. Als vernunftbegabte Wesen hatte Kant einst die Menschen beschrieben. Zugleich war er der Auffassung, dass Schwarze, PoC¹ und Indigene nicht gänzlich darunterfallen: »Allein die weißen Europäer, fähig zu voll entwickelter Kultur«.²
Diese eklatante Widersprüchlichkeit – zwischen (angeblicher) Vernunft und dem bis heute tiefsitzenden Rassismus – ist sinnstiftend für die Zeit der Aufklärung bzw. die europäische Moderne. Zum einen badet sicher der »weiße Mann« in der selbst zugeschriebenen Erhabenheit über alles »andere« in der Welt, und zum anderen sind ebendiese patriarchale Ideologie und die eng damit verbundene kolonialkapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung der Peripherie außerhalb des europäischen/kapitalistischen »Zentrums« die zugrunde liegende Weltanschauung der westlichen Aufklärung.

Die Ausbeutung weiter Teile der Welt durch weiße Europäer ist konstitutiv für den Aufstieg Europas zum kapitalistischen Zentrum der Welt und für die Entstehung der Moderne.³ Die bis heute als fortschrittlich gepriesenen westlichen Demokratien fußen auf ebendiesen Verhältnissen. Ohne die Unterdrückung, Ausbeutung, Versklavung sowie massenhafte Vergewaltigungen und Ermordungen von Abermillionen Menschen aus Regionen und Ländern des Globalen Südens sowie die schwere, weitreichende und langfristige Zerstörung von Natur und ganzen Ökosystemen wäre der – bis heute als selbst verständlich behauptete – Wohlstand in dieser Form unmöglich gewesen.
Nun könnte argumentiert werden, dass diese unverzeihlichen Verhältnisse Zeugnisse der Vergangenheit seien. Doch auch dies ist nicht richtig! Auch wenn es im 19. und 20. Jahrhundert zur Entkolonialisierung weiter Teile Amerikas, Afrikas, Asiens und der Karibik kam, bleiben die vom westlichen Kolonialismus aufgezwungenen Strukturen weiterhin erhalten. Koloniale Kontinuitäten zeigen sich unter anderem darin, dass Reichtum und Besitz noch immer ungleich verteilt sind. Während mehrheitlich weiße Menschen in Wohlstand leben und dafür die Natur zerstört wird, kämpfen insbesondere Indigene gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und Identitäten.
Am Beispiel der Kolonisierung der Amerikas lässt sich die Zweiteilung der hochkomplexen Welt skizzieren. Eine Binarität breitete sich über weite Teile des Globus aus: Kolonialherren herrschten über Kolonisierte. Diese Unterteilung kannte nur zwei Seiten: männlich und weiblich; »weiß« und »nicht weiß«; entwickelt und unterentwickelt; kultiviert und unkultiviert; rational und irrational/emotional; wertvoll und wertlos.
Während weiße Menschen, vor allem weiße Männer, der »wertvollen« Seite zugeordnet wurden, galten nahezu alle anderen Menschen als minderwertig bis wertlos.
Diese Einteilung lässt sich verkürzt auf drei Ebenen darstellen.
Zum einen wurden Geschlechter einem binären Überbau untergeordnet. Jegliche individuelle und/oder kulturelle Definierung und Variation von Geschlecht und Geschlechtsidentität, die nicht dem binären MannFrau Konstrukt entsprach, wurde im Zuge der Kolonisierung förmlich ausgelöscht. Während das Männliche als rational galt, wurde das Weibliche als emotional/irrational kategorisiert.
Zweitens fand die sogenannte Rassialisierung oder Rassifizierung⁴ der Menschen statt. Aufgrund äußerer Merkmale oder Zuschreibungen wurden Menschen in »nicht weiß« und »weiß« unterteilt. Weiße galten als überlegen, rational und zivilisiert, Indigene, Schwarze und PoC hingegen als unterlegen, irrational und primitiv.
Drittens wurde eine Einteilung zwischen den Menschen und der Natur vorgenommen. Die Natur wurde als vom Menschen losgelöst betrachtet und einem ökonomischen Wert als Ressource untergeordnet. Ökosysteme, Pflanzen und Tiere wurden als etwas angesehen, das angeeignet, verbraucht, über das verfügt und das, wenn nötig oder aus schlichter Willkür, zerstört wer den konnte.
Die Ignoranz des Westens
Du fragst dich nun vielleicht, was das alles mit dem Thema Ökozid zu tun hat.
Auch das Konzept des Ökozids entstammt einer westlichen Denkweise. 1970 schlug der Botaniker und Bioethiker Arthur Galston diesen Begriff vor und adressierte die großflächige Zerstörung durch das vom US-Militär ein gesetzte Agent Orange in Vietnam. In den Jahrzehnten danach etablierte sich dieser Begriff, um Umweltzerstörungen mit großem und folgenreichem Ausmaß zu definieren.
Die Strafbarkeit von Ökozid kann also als Versuch gedeutet werden, der kapitalistisch motivierten Zerstörungswut eine juristische Handhabe ent gegenzusetzen. Die Zerstörung – ein westliches Produkt – soll durch die juristische Bestrafung – auch ein westliches Produkt – sanktioniert werden.
Warum dies Thema sein sollte, wird klar, wenn ein Blick auf die westlich geprägten Naturschutzvorhaben gelegt wird. Was es bedeuten kann, wenn nach westlichem bzw. kapitalistischem Verständnis Naturschutz betrieben wird, lässt sich am Beispiel der Nationalparks bzw. des Green Grabbing erläutern.
Nationalparks als Gefährdung indigener Lebensweisen
Die Entstehung des weltweit ersten Nationalparks am Ende des 19. Jahrhunderts war vor allem dadurch begleitet, dass die dort lebenden indigenen Gemeinschaften vertrieben wurden. Bis heute wird dies als ein Meilenstein in der Geschichte des Natur und Umweltschutzes kommuniziert und das verursachte Leid großflächig ausgeblendet. Vertreibung und Ermordung waren angestammte Mittel, um das Vorhaben, Flora und Fauna vor den Menschen zu schützen, umzusetzen. Bis heute ist diese Art des Naturschutzes expandiert und gehört bei der Einrichtung von Nationalparks oder anderen Schutz gebieten zu den üblichen Praktiken.⁵
Es ist wichtig, darauf zu schauen, was diese Vorgänge weiterhin mit sich bringen. So handelt es sich dabei nicht nur um die Vertreibung von einem Gebiet in das andere. Zugehörige indigener Gemeinschaften wurden und werden gezwungen, sich in Siedlungen oder Städte einzugliedern. Die Aufgabe der Existenz geht so auch mit der Aufgabe der eigenen Identität einher. Lebensräume und Lebensgrundlagen, die oft über viele Jahrtausende bestanden, müssen aufgegeben werden.⁶ Es handelt sich dabei also nicht nur um eine Form der territorialen Veränderungen. Die Tragweite für die Gemeinschaften und insbesondere die Individuen zeichnet sich durch großes Leid aus. Die Folgen waren und sind vor allem die Zersplitterung der kulturellen Gemeinschaften und die Verarmung und Vereinsamung der Individuen.
Bestehende und anstehende Nationalparks, Naturschutzgebiete, Reservate und andere Formen von Naturschutzvorhaben sind noch immer weitest gehend ungeschützt vor dem Zugriff profitgieriger Großkonzerne. Die Vertreibung indigener Gemeinschaften und Völker wird vom Ausverkauf der biologischen Vielfalt begleitet.⁷
Green Grabbing – Aneignung im »Namen« des Naturschutzes
Als Kritik an privater Aneignung im Namen des Umwelt und Naturschutzes wurde das Phänomen des Green Grabbing (grüner Land und Ressourcen raub) als politischer Kampfbegriff verwendet. Er etablierte sich später als wissenschaftlicher Erklärungsversuch neuer Konfliktdynamiken um Land und andere natürliche Ressourcen, die allem voran im Zuge globaler Klimapolitik auftraten.
Green Grabbing ist ein globales Phänomen des 21. Jahrhunderts und nimmt Bezug auf unterschiedliche natürliche Ressourcen,⁸ Regionen und Akteurskonstellationen.⁹
Als ein Phänomen der Land und Ressourcenerschließung (Aneignung) mit dem Ziel der Profitgenerierung mittels Naturschutzmaßnahmen reproduzieren darin eingefasste Vorgänge alte und neue Macht und Herrschaftsverhältnisse – durch gezielte Restrukturierung von Ressourcennutzung und zugang. In der Praxis zeigt sich dies durch die (Neu)Konstruktion von Nutzflächen und die Abwertung von Praxen – etwa von Indigenen, Kleinbäuer*innen, Pastoralist*innen, Sammler*innen und anderen sogenannten traditionellen Gemeinschaften – und münden häufig in die Vertreibung dieser aus ihren angestammten Lebensräumen.¹⁰ Daneben kommt es im Zuge dessen auch zur Einfriedung betroffener Areale, Enteignung, zur Kriminalisierung lokaler Gemeinschaften und Ermordungen von Personen, die sich gegen diese invasiven und menschenrechtlich nicht zu rechtfertigenden Eingriffe stellen. Auf die ökonomische Bewertung von »Flächen« folgt eine Abwertung bestehender Bewirtschaftung/Nutzung als (angeblich) degradierend, wohingegen agrarindustrielle Erschließungen aufgewertet werden.
Auslöser dieser Entwicklung sind »Angebote« kapitalistischer Verwertungslogik, versehen mit grünem Anstrich. Dies sind vor allem Konsumangebote, wie Ökotourismus und die Installation staatlich geförderter erneuerbarer Energiebauprojekte, Praktiken des Kohlenstoffhandels und der Emissionskompensation sowie die Suche nach genetischen Ressourcen für kommerzielle biotechnologische Erschließungen in biodiversitätsreichen Regionen.¹¹
Der Fundus für grüne Aneignungsvorgänge und Markterschließungspraktiken ist reichhaltig und macht Akkumulation und Expansion weiterhin lohnenswert.
Im Fokus dieser Entwicklungen stehen, neben Banken und Konzernen, auch Institutionen wie die Weltnaturschutzorganisation (IUCN), Natur bzw. Umweltschutzorganisationen wie Conservation International,¹² The Nature Conservancy¹³ und der World Wide Fund For Nature¹⁴ (WWF). Sie alle folgen der Logik der Finanzialisierung der Natur und sprechen dabei von Naturkapital, Biodiversitätskompensationen und Ökosystemdienstleistungen: Dies sind Ansätze und Methoden, die Lebensräume nach ihrer Leistung für Lebensqualität und als Grundlage des menschlichen Wirtschaftens nach ökonomischen Werten berechnen.
Weltbiodiversität: Fataler Zustand
Zu Beginn des Jahres 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat (IPBES)¹⁵ »seinen ersten globalen Bericht zum Zustand der Biodiversität und der Ökosystemleistung«.¹⁶ Ein zwischenstaatliches Gremium, das »über den Zustand und die Trends der natürlichen Welt, die sozialen Auswirkungen dieser Trends, ihre direkten und indirekten Ursachen und, was wichtig ist, die Maßnahmen, die noch ergriffen werden können, um eine bessere Zukunft für alle zu gewährleisten«,¹⁷ forscht.
Über einen Zeitraum von drei Jahren kamen 150 Wissenschaftler innen aus allen Teilen der Welt – unterstützt von 350 Autorinnen – zusammen und werteten über 15.000 wissenschaftliche Publikationen aus.¹⁸ Das Ergebnis: Die weltweite Biodiversität ist in einem besorgniserregenden Zustand.¹⁹ Etwa eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht; das Artensterben beträgt aktuell mindestens das Zehn bis Einhundertfache des Durchschnitts der letzten zehn Millionen Jahre; die Anzahl aller lebenden Korallen hat sich seit 1870 halbiert; im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter existieren weltweit nur noch 68 Prozent der Waldflächen; die menschliche Einflussnahme hat 75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Meeresfläche verändert; 85 Prozent der Feuchtgebiete sind in den letzten 300 Jahren verschwunden; die bis zum Jahr 2020 zu erreichenden AichiBiodiversitätsziele²⁰ des Convention of Biological Diversity (CBD)²¹ wurden deutlich verfehlt.
Diese Kernaussagen sind alarmierend und bieten nicht zuletzt einen Teil des Fundaments für das weltweite Aufbegehren und Erstarken sozialer Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion. Doch weit vor dem Erscheinen dieser mehrheitlich weißen Bewegungen haben sich Ange hörige indigener Gemeinschaften unter Einsatz ihrer Gesundheit und ihres Lebens gegen die Zerstörung von Lebensräumen und Ökosystemen engagiert.
Im Grunde geht es für Indigene seit dem Beginn der Kolonisierung – deren Anfang um das Jahr 1492²² in den Amerikas verortet wird – um die Verteidigung ihrer Lebensgrundlagen. Eng damit verbunden ist der Erhalt intakter Ökosysteme und ihrer immanenten Biodiversität.
Indigene Gemeinschaften als Wächter*innen biologischer Vielfalt
Viele indigene Gemeinschaften leben bis heute in direkter Interaktion mit ihrer natürlichen Umgebung. Eine Vielzahl noch intakter Ökosysteme mit ausgeprägter biologischer Vielfalt sind in Gebieten zu verorten, die von indigenen Gemeinschaften bewohnt werden. So befinden sich 80 Prozent aller noch existierenden Tier und Pflanzenarten auf indigenen Territorien, deren Anzahl gerade mal fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.²³ Die weltweit von indigenen Gemeinschaften bewohnten Gebiete machen ein Viertel der gesamten Landfläche des Planeten aus.²⁴ Angesichts des rasant voranschreitenden Artensterbens gewinnen diese Gebiete mehr und mehr an Bedeutung – nicht zuletzt zur Erhaltung noch vorhandener biologischer Vielfalt. Gleichzeitig geraten sie zunehmend in das Visier weiterer Erschließungsvorhaben, basierend auf westlicher Erschließungsideologie und dahinterliegenden Profitinteressen. Während indigene Lebensweisen noch immer der Abwertung und Delegitimierung ausgesetzt sind, unterliegen die Zusammenhänge zwischen indigenen Territorien und intakten Ökosystemen offensichtlich keinen Zufällen.
So ist die Schlussfolgerung selbsterklärend, bei zukünftigen Klima und Umweltschutzvorhaben auf die Strukturen, Praktiken, Wissenschaften und Lebensweisen indigener Gemeinschaften und Völker Bezug zu nehmen und sie darüber hinaus in die Überlegungen und in die Umsetzung vorne anzustellen.
Indigene Gemeinschaftsschutzgebiete (ICCAs)
»Indigene Völker und lokale Gemeinschaften auf der ganzen Welt schützen und pflegen ihre kollektiven Territorien, Ländereien und Gewässer als eine Frage des Überlebens, der Gesundheit und des Wohlbefindens. Diese Territorien und Gebiete, bekannt als ICCAs, sind Wiegen der biologischen und kulturellen Vielfalt und entscheidend für alles Leben auf der Erde.«²⁵
Die Indigenous Community Conservation Areas (ICCAs) oder auch »Territories Of Life« sind Gebiete, in denen indigene Gemeinschaften selbstverwaltet leben. Diese Gebiete zeichnen sich durch eine starke Beziehung zwischen der ansässigen indigenen Gemeinschaft und einem bestimmten Lebensraum bzw. Territorium oder Ökosystem aus.
Das Verhältnis zu diesen Lebensräumen ist identitätsstiftend, das Wohler gehen und der Lebensunterhalt sind abhängig von diesen. Entscheidungen und deren Umsetzung liegen in erster Instanz bei der indigenen Gemeinschaft. Die partnerschaftliche Mitarbeit von Institutionen und Organisationen ist möglich, steht in der Entscheidungsgewalt jedoch der indigenen Selbstbestimmung/verwaltung hintenan.²⁶ Allen ICCAs ist gemein, dass sie zur Erhaltung intakter Ökosysteme und der biologischen Vielfalt beitragen. In der Regel muss dies keiner expliziten Schutzagenda unterliegen, da das Praktizieren kultureller Werte mit der Sicherung von Lebensraum und Ökosystem einhergeht.²⁷
Traditionelles ökologisches Wissen
»Dieser kulturelle Kanon, der von Generationen von Wissensträgern entwickelt wurde, mag oberflächlich betrachtet einfach erscheinen, stellt aber in Wirklichkeit eine ausgeklügelte Symbiose von Philosophie und Praxis dar, die Werte und Handlungen miteinander verbindet, um eine Formel für gegenseitiges Gedeihen zu erhalten, eine Integration, die von westlichen Modellen der Nachhaltigkeit noch nicht erreicht wurde.«²⁸
Die kulturellen Werte indigener Völker entspringen jahrtausendealten Praktiken und lassen sich in das sogenannte Traditionell Ecological Knowledge (TEK) einordnen. Diese Wissenschaft baut auf fundiertem empirischen Wissen und materiellen sowie spirituellen Praktiken auf.²⁹
Der Einbezug von TEK, auch Native Science genannt, ist essenziell für eine Wissenschaft, die aus den Krisen um Klimaerhitzung, Ökosystemzerstörung und sozialen Ungleichheiten führen soll.
Der verschleierte Geist der Moderne ist vom Verlust der Orientierung und der Wurzeln geprägt.³⁰ Für eine »partizipatorische Wissenschaft des Lebens« ist es grundlegend, die Wissensschaffung wieder an die lebendigen Prozesse anzubinden und bestehendes Erfahrungs und überliefertes Wissen einzubeziehen. Zukünftige Vorhaben können so von dem Wissen um ökologische Nachhaltigkeit profitieren und eine Abkehr vom Wirtschaften in der Matrix einer wachstumsbasierten Ideologie antreten. Dabei geht es nicht nur um den Einbezug der Native Science. Primär muss eine indigene Souveränität ermöglicht werden, um indigenes Wissen wiederzubeleben und die Gemeinschaften durch auflebende Verbindungen zu stärken.³¹
Rights Of Nature
Inspiriert vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal und dem permanenten Völkertribunal, wurde das Internationale Tribunal für die Rechte der Natur (RoN) 2014 von der Global Alliance for the Rights of Nature³² (GARN) gegründet. Die Idee ist, neben den beiden erstgenannten Tribunalen ein weiteres wichtiges Instrument für die Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Darüber hinaus soll insbesondere der Natur, dem nicht menschlichen Leben, dadurch eine Stimme verliehen werden. Obwohl Entscheidungen des Tribunals rechtlich nicht bindend sind, ist es ein Instrument, um zerstörerische Praktiken öffentlichkeitswirksam zu thematisieren. Zentraler Anknüpfungspunkt dieses Ansatzes des Umweltrechts ist die Betrachtung der Natur. Danach wird Natur nicht nur als Ressource verstanden, »sondern als ein lebendiges Subjekt mit eigenen Interessen und Rechten«.³³ Dies bietet die Möglichkeit für neue Perspektiven in der Rechtsprechung sowie eine Neuausrichtung menschlicher Ethik. Vor allem die philosophische Überzeugung, dass die Menschenrechte allein durch die Existenz eines Menschen ihr/ihm zugutekommen, wird als Argument aufgeführt.³⁴
Auch für jene Menschen, die diesem Verständnis von Natur sowohl unter ethischen als auch juristischen Gesichtspunkten nicht gänzlich zustimmen mögen, sollte dieses Konzept Anknüpfungspunkte bieten. Ganz pragmatisch betrachtet, geht es dabei schließlich um den Erhalt biologischer Vielfalt, intakter Ökosysteme und somit um den Erhalt von Lebensraum und Lebensgrundlagen von uns Menschen.
Ein Ökozidgesetz, das diese Dimensionen mitdenkt, könnte das Potenzial entfalten, aus den Jahrhunderte währenden und bis in die Jetztzeit anhalten den Fängen kolonialer Kontinuitäten auszubrechen oder zumindest Teil dieses unumgänglichen Prozesses zu sein, sollen die Anliegen um Klima und ökologische Gerechtigkeit ernsthaft forciert werden.
Die Strafbarkeit von Ökozid kritisch betrachten.
Schlussbetrachtung
Die oben aufgeführten Einlassungen und Beispiele zeigen, dass es ausgeschlossen ist, den zunehmenden sozialökologischen Kollapserscheinungen adäquat, nachhaltig und gerecht zu begegnen, solange Länder und Regionen des Globalen Südens vom Wirken und Willen des Globalen Nordens (gezwungener maßen) abhängig sind. Auch die Fusion von ökonomisiertem Naturschutz und »Entwicklungszusammenarbeit« weist überschaubare bis mangelhafte Fortschritte auf. Eher lässt sich konstatieren, dass koloniale Kontinuitäten weiter fortbestehen und sich in Naturschutzprojekten gar intensivieren können. Ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit und darin eingefasster Ereignisse und Strukturen ist es schier unmöglich, die Problembegegnungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen.
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Die Geschichte hat gezeigt, dass Ansätze, die der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen sind bzw. entspringen, letztlich doch mehrheitlich und merklich zu weiterer Zerstörung führen.
Der Ansatz des Ökozidgesetzes, die Natur vor invasiven menschlichen Eingriffen zu schützen, indem Täter*innen hart bestraft werden, läuft spätestens dann Gefahr, Teil kolonialer Kontinuitäten zu werden, wenn das Augenmerk auf die Begebenheiten gelegt wird, dass wirtschaftliche Akteur*innen nicht selten in unlauteren bis hin zu korrupten Verbindungen zu politischen Administrationen und juristischen Institutionen stehen. Die Unterminierung von Gesetzen bzw. ihrer Auslegungen gehört zu etablierten Praktiken entsprechender Akteur*innen.
Von diesem Standpunkt aus ist es mehr als folgerichtig – wie im Kommentar von Mark Benecke deutlich geworden –, dass Gesetze keine Allheilmittel sind. Es kann nicht einzig darauf vertraut werden, dass das Bestrafen und Sanktionieren von wahrhaftigen Umwelt und Klimaterrorist*innen – die in den transnationalen Konzernzentralen der Welt ihr Unwesen treiben – weitreichend und langfristig dazu führen, dass die Zerstörung planetarer und lokaler Ökosysteme und Lebensgrundlagen von Menschen und Tieren ein Ende nimmt.
Dieser Band möchte vermeiden, das Konzept der Strafbarkeit von Ökozid zu glorifizieren. Mindestens aber sollen die enthaltenen Beiträge darüber auf klären, welchem grundlegenden Problem es zu begegnen gilt: Die Überheblichkeit des Westens, Problemstellungen, die der kolonialkapitalistischen Ideologie entspringen, mit derselben Logik zu begegnen, die ursächlich für Leid und Zerstörung sind, hat bis dato nicht dazu geführt, dass globale ökologische und Klimaungerechtigkeiten aufgelöst werden konnten.
Es stellt sich also die Frage nach der tatsächlichen Wirksamkeit bzw. Umsetzbarkeit, wenn das Ziel zwar der Schutz von Ökosystemen vor dem Menschen ist, die beteiligten Organisationen und andere (wirtschaftliche, staatliche und private) Akteure jedoch altbekannte Praktiker*innen des Green Grabbing sind.
Es lässt sich konstatieren: Indigene Gemeinschaften und Organisationen zeigen Alternativen auf, um der Zerstörung der letzten noch intakten Lebens räume und Ökosysteme entgegenzutreten und zugleich die Rechte indigener Völker und anderer lokaler Gemeinschaften zu achten und zu schützen.
Die in internationalem Recht verankerte Strafbarkeit von Ökozid bedarf unbedingt der Beachtung dieser und anderer problematischer Motivationen und Ausgangspunkte für Klima und Umweltschutzvorhaben.
Auf jene zu hören, die es ganz offensichtlich besser können, ist längst überfällig …
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Mehr zum Thema Umweltzerstörung und gemeinschaftsgetragene Lösungsansätze findest du in meinem Sammelbänden „Ökozid“ und „Vergesellschaftung“.
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Solidarisch, Tino
1 People of Colour.
2 Beckmann, Andreas (2020): War Philosoph Immanuel Kant ein Rassist?, 17.12.2020 [https://www.deutschlandfunk.de/wissenschaftsgeschichtewarphilosophimmanuel (Öffnet in neuem Fenster) kantein100.html (Öffnet in neuem Fenster)].
3 Siehe dazu Quijano, Anibal (2000): Kolonialität der Macht Eurozentrismus und Lateinamerika [https://www.turia.at/titel/quijano_s.php]. (Öffnet in neuem Fenster)
4 »Rassifizierung – auch bezeichnet als Rassialisierung oder Rassisierung – bezieht sich auf die Wissensebene von Rassismus. Rassifizierung beschreibt sowohl einen Prozess, in dem rassistisches Wissen erzeugt wird, als auch die Struktur dieses rassistischen Wissens«: Informations und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA): Glossar. Rassifizierung [ (Öffnet in neuem Fenster)https://www.idaev.de/recherchetools/ (Öffnet in neuem Fenster) glossar?tx_dpnglossary_glossary%5Baction%5D=show&tx_dpnglossary_glossary%5 (Öffnet in neuem Fenster) Bterm%5D=168&tx_dpnglossary_glossarydetail%5Bcontroller%5D=Term&cHash=4 (Öffnet in neuem Fenster) b8982f62774cf72f7a01102dda8353c (Öffnet in neuem Fenster)].
5 Sarah Gilbertz (2013): Vertreibung im Namen des Naturschutz, 06.02.2013 [https:// (Öffnet in neuem Fenster) www.wissenschaft.de/gesellschaftpsychologie/vertreibungimnamenvonnaturschutz/] (Öffnet in neuem Fenster).
6 Survival International: Die große grüne Lüge [https://survivalinternational.de/kampagnen/diegro%C3%9Fegr%C3%BCnel%C3%BCge] (Öffnet in neuem Fenster).
7 Ebd.
8 Land, Wasser, Fisch und Jagdrechte, Kohlenstoffsenken und Pflanzengene.
9 Backhouse, Maria (2019): Green Grabbing, in: Wörterbuch Land und Rohstoffkonflikte, S.124.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Conservation: Conservation International Protects Nature Like This. The food we eat, the water we drink, the air we breathe – it all comes from nature [https://www (Öffnet in neuem Fenster). (Öffnet in neuem Fenster) conservation.org/ (Öffnet in neuem Fenster)].
13 The Nature Conservation [https://www.nature.org/enus/ (Öffnet in neuem Fenster)] (Öffnet in neuem Fenster). 14 WWF [https://www.wwf.de/] (Öffnet in neuem Fenster).
15 Intergovernmental SciencePolicy Platform in Biodiversity and Ecosystem Services.
16 IPBES (2019): The global assessment report on Biodiversity and ecosystem services summary for policymakers [https://www.ipbes.net/sites/default/files/202002/ipbes_ (Öffnet in neuem Fenster) global_assessment_report_summary_for_policymakers_en.pdf (Öffnet in neuem Fenster)].
17 Ergebnisse der 7. Vollversammlung von IPBES vom 29. April bis 4. Mai 2019 in Paris, in: Newsletter 1/19 [https://www.deipbes.de/img/IPBES_Newsletter_August_2019.pdf (Öffnet in neuem Fenster)] (Öffnet in neuem Fenster).
18 Ebd.
19 IPBES: Globales IPBESAssessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen [https://www.deipbes.de/de/GlobalesIPBESAssessmentzuBiodiversitatundOko (Öffnet in neuem Fenster) systemleistungen1934.html] (Öffnet in neuem Fenster).
20 Zielerklärungen für den weltweiten Biodiversitätsschutz.
21 CBD (2020): Aichi Biodiversity Targets, 18.09.2020 [https://www.cbd.int/sp/tar (Öffnet in neuem Fenster) gets/].
22 Im Zuge der europäischen Expansion gilt dieses Jahr als der Beginn der Kolonisierung der Welt.
23 Mamo, Dwayne/Berger, David Nathaniel/Bulanin, Nikita/GarcíaAlix, Lola/ Jensen, Marianne Wiben/Leth, Signe/Alvarado Madsen, Ena/Parellada, Alejandro/ Petersen, Lærke Marie Lund/Rose, Geneviève/Thorsell, Stefan/Wessendorf, Kathrin (2020): The Indigenous World 2020, S.6 [https://iwgia.org/images/yearbook/2020/IWGIA_ (Öffnet in neuem Fenster) The_Indigenous_World_2020.pdf (Öffnet in neuem Fenster)].
24 Corpuz, Victoria Tauli (2005): Indigene als Sensoren der Weltpolitik – Bilanz aus Sicht der Betroffenen, 29.04.2005 [https://www.gfbv.de/de/news/indigenealssen (Öffnet in neuem Fenster) sorenderweltpolitikbilanzaussichtderbetroffenen325/ (Öffnet in neuem Fenster)].
25 IUCN (2019): ICCAs for biological and cultural diversity, 31.05.2019 [https://www (Öffnet in neuem Fenster). (Öffnet in neuem Fenster) iucn.org/news/protectedareas/201905/iccasbiologicalandculturaldiversity] (Öffnet in neuem Fenster).
26 Kothari, Ashish (2006): Community Conserved Areas, in: Parks Magazine 16(1), 2006.
27 UNEP: Report. A handbook for the Indigenous and Community Conserved Areas Registry Archived [https://www.unep.org/resources/report/handbookindigenous (Öffnet in neuem Fenster) andcommunityconservedareasregistry0 (Öffnet in neuem Fenster)].
28 Gregory Cajete (2018): Native Science and Sustaining Indigenous Communities, in: Traditional Ecological Knowledge: Learning from Indigenous Practices for Environ mental Sustainability, S.35.
29 Ebd.
30 Ebd.
31 Ebd.
32 International Rights of Nature Tribunal [https://www.rightsofnaturetribunal.org/] (Öffnet in neuem Fenster).
33 History of the Rights of Nature Tribunal: About us and the history of the RoN Tribunals [https://www.rightsofnaturetribunal.org/aboutus/ (Öffnet in neuem Fenster)] (Öffnet in neuem Fenster).
34 Sheehan, Linda (2013): Realizing Nature’s Rule of Law through Rights of Waterways, in: Voigt, Christina: Rule of Law for Nature: New Dimensions and Ideas in Environ mental Law, S.5.