Seit dieser Woche sind wir in Venedig weniger als 50 000 Einwohner, genauer gesagt 49 997. Ist jetzt keine große Überraschung, sondern Mathematik (sonst nicht meine Stärke) - angesichts der Tatsache, dass Venedig jedes Jahr rund tausend Einwohner verliert.
Für die Medien, für die jede Nachricht über Venedig Gold wert ist, war das natürlich die Gelegenheit, um damit ganze Seiten zu füllen. Was allerdings nicht bedeutet, dass sie sich ernsthaft bemühen würde, über die venezianische Wirklichkeit zu berichten. Besonders stringent ging dabei die Nachrichtensendung von Sky 24 vor, als sie die Entvölkerung Venedigs mit einem Foto von Triest bebilderte:
Kurz: Im laufenden Wahlkampf ist die Unterschreitung der 50.000-Einwohner-Grenze nicht mehr als eine bunte Meldung im Vermischten. Kein einziger Artikel, der in den italienischen Medien erschienen ist, hat versucht, den Ursachen nachzugehen. Der Punkt ist, dass sich niemand ernsthaft für den Zustand von Venedig interessiert, wenn er nicht auch einen Nutzen daraus ziehen kann.
Den Lesern dieses Newsletters (und auch meines Venedig-Buches (Öffnet in neuem Fenster)) muss ich nicht erklären, dass der Niedergang Venedigs mit der Zwangsehe mit dem Festland begann, diesem Überbleibsel des Faschismus: Die Idee dieses Groß-Venedigs stammte von einer Gruppe geschäftstüchtiger Industriebarone, die zu Mussolinis Zeiten Venedig mit der Industriestadt Marghera und der Arbeiterstadt Mestre zwangsvereinigten.
Zu Mussolinis Zeiten lebten nur vierzigtausend Menschen auf dem Festland; Venedig hingegen zählte mit zweihunderttausend Einwohnern fast fünfmal so viele. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt: In Venedig leben heute weniger als fünfzigtausend Menschen, in Mestre dagegen hundertachtzigtausend.
Die Zwangsehe hat dem Festland allerdings auch nicht gut getan: Mit seinen trostlosen, siloartigen Hotels sieht Mestre aus wie ein sowjetischer Vorort, der versehentlich hierher verfrachtet wurde.
Obwohl Mestre die drittgrößte Stadt der Region Venetien ist, hat sie keine urbane Identität und kann sich nur damit rühmen, die italienische Stadt mit der höchsten Anzahl an Einkaufszentren und Drogentoten zu sein.
Dennoch verteidigen alle venezianischen Bürgermeister das bizarre Projekt des mit dem Festland "vereinigten" Venedigs wie das Dogma der Jungfräulichkeit. Nicht nur, weil die Mehrheit der Wähler auf dem Festland lebt, sondern auch, weil ohne die Zwangsehe mit Venedig alle Mittel des Sondergesetzes, die so nützlich sind, um die Stadt vom Festland aus zu regieren, ebenfalls versiegen würden: Mittel, die für den Schutz Venedigs bestimmt sind, aber in den Bürgersteigen von Mestre enden. Um so mehr richten sich unsere Hoffnungen auf die Tatsache, dass wir ja jetzt endlich nun als Insel anerkannt sind (Öffnet in neuem Fenster). Was das Umleiten der Gelder in Zukunft schwieriger gestalten sollte.
Das Problem von Venedig ist ein grundlegend politisches. Und noch immer hat niemand - abgesehen vom Stadtrat der Grünen Gianfranco Bettin, auf die größte und unmittelbarste Gefahr hingewiesen: die, vom Wasser verschluckt zu werden. Nicht in 100 Jahren, sondern in 30 Jahren.
Gestern, am 13. August, so vermeldet stolz der famose Smartcontrolroom der Stadt Venedig, dieses System allumfassender Überwachung (Öffnet in neuem Fenster), das in Echtzeit nachverfolgen (Öffnet in neuem Fenster) kann, wie viele Personen sich gerade wo in der Stadt aufhalten, haben 93 000 Touristen Venedig besucht, ähem, man könnte auch sagen, überrannt. Damit liegt die Zahl der Besucher Venedigs in diesem Jahr entschieden über denen von 2019 (das nur für diejenigen, die Venedig 2020 besucht haben, weil sie zu Recht ahnten, dass Venedig nie wieder so schön sein würde) - interessant aber ist, was das für das sagenumwobene Eintrittsgeld ( "Venedig will Eintrittsgeld von Touristen verlangen" (Öffnet in neuem Fenster) Spiegel, "Venedig verlangt ab 2023 Eintrittskarten" (Öffnet in neuem Fenster) ZDF, "Venedig sagt dem Massentourismus den Kampf an" (Öffnet in neuem Fenster) Kurier) bedeutet, nämlich gar nichts.
An dieser Seelle möchte ich mich ganz unumwunden zu einer meiner Schwächen bekennen, die mir der Venezianer an meiner Seite immer vorwirft, nämlich immer (immer!!!) skeptisch zu sein. Ich denke aber, dass Skepsis nichts schlechtes sein muss, zumal in einem Land, das ein Sprichwort wie "Pensi il peggio, pensi bene" prägte: Nimm das Schlechteste an, und du liegst richtig.
Im fernen März 2019 (in jener unschuldigen Zeit, als wir naiverweise noch nichts von der Pandemie ahnten) schrieb ich über das Eintrittsgeld in meinem Blog:
Okay, ich kann gut verstehen, dass es ein Schock ist, wenn man tausend Euro für zwei Wochen Mittelmeer-Kreuzfahrt (inklusive Flug und Vollpension) bezahlt hat und dann erfahren muss, dass einem in Venedig drei Euro Eintrittsgeld abgeknöpft werden sollen. Aber da müssen Sie jetzt durch.
Allen anderen Venedig-Besuchern kann ich versprechen, dass es wahrscheinlich ohnehin an dem in Italien eher gering ausgeprägten Organisationseifer scheitern wird. Italiener sind ja bekanntlich seit der Spätantike unangefochtene Meister der byzantinischen Bürokratie, weshalb die Liste der Ausnahmen (Öffnet in neuem Fenster) länger ist als die der Regeln.
Und wie der Stadtrat Marco Gasparinetti jetzt vorrechnete (Öffnet in neuem Fenster), lag ich mit meiner Skepsis völlig richtig, weil von den 93 000 Besuchern praktisch alle zu Kategorien gerechnet werden, die vom Eintrittsgeld "befreit" sind:
Denn wenn von diesen 93 000 schon mal 70 000 abgezogen werden müssen, weil sie in den 32 000 Hotelbetten und den 38 000 Airbnb's übernachten, bleiben nur noch rund 23 000 Besucher übrig. Und von denen sind von der Zahlung des "Eintrittsgeldes" schon mal die Ausflügler befreit, die in der Region Veneto übernachten (der klassische Tagestourist also), die vermutlich die Mehrheit der 23 000 ausmachen. Befreit sind auch die Besitzer von Zweitwohnungen in Venedig, das sind 20 000 (laut der Daten des Finanzministeriums). Bleiben also, wenn überhaupt, nur eine Handvoll übrig. Aber wie soll man die ausfindig machen, in dem Gedrängel und wer soll die kontrollieren? Commissario Brunetti?
Und deshalb müssen wir den Kampfgeist der Venezianerinnen und Venezianer unterstützen- vor allem der Bürgervereinigungen wie diejenigen, die sich für die Autonomie Venedigs einsetzen, wie Movimento Venezia Autonoma (Öffnet in neuem Fenster), wie Gruppo25aprile Venezia (Öffnet in neuem Fenster), wie Italia Nostra - Venezi (Öffnet in neuem Fenster)a, Gruppo WSM Viva San Marco Venexia (Öffnet in neuem Fenster), Venessia.com (Öffnet in neuem Fenster), wie We are here Venice, (Öffnet in neuem Fenster) wie OCIO - Osservatorio CIvicO indipendente sulla casa e sulla residenzialità (Öffnet in neuem Fenster) und viele, viele andere.
Wir kapitulieren nicht, wir Widerständler wollen mit der Fahne in der Hand sterben, wie die Partisanen.
In diesem Sinne grüßt Sie Ihre Petra Reski (die in Mathematik eine Niete war, bis wir zur Logik kamen, da kriegte ich eine Eins, das muss jetzt auch mal gesagt werden, weshalb mein Mathematiklehrer nicht verstand, warum ich Mathematik abgewählt habe.)
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