Komische Zufälle
In dieser Woche ging es etwas hektisch zu. Erst wird Matteo Messina Denaro festgenommen und dann stirbt auch noch Gina Lollobrigida. Die es dem Mafiaboss sehr übel genommen hätte, ihr den stilvollen Abschied zu verhageln, weil sich in den Redaktionen alles nur um seine Festnahme drehte.
Als "Gina Lollobrigida" bezeichneten Mafiosi übrigens einst den Boss Genco Russo (Öffnet in neuem Fenster), weil er Interviews gab und sich fotografieren ließ - und sich damit für den Geschmack von Cosa Nostra zu sehr zur Schau stellte.
Messina Denaro ist vor allem der Lieblingsboss der Journalisten, die ihn mit ihren Wundergeschichten zu einem Mythos aufgeblasen haben. Mit Histörchen über seinen Alfa 164, mit Maschinengewehren bewaffnet, per Knopfdruck vom Fahrersitz aus zu betätigen, mit seinen Frauengeschichten, mit denen er das sizilianische Sprichwort Lügen strafe, dass befehlen besser sei als vögeln und mit seiner Prahlerei, dass er mit seinen Toten einen Friedhof füllen könnte.
Bemerkenswert an Messina Denaro ist jedoch vor allem sein Erpressungspotential gegenüber der italienischen Politik und dem italienischen Staat. Und darüber reden – und schreiben – nur wenige gerne in Italien.
Über die Festnahme des krebskranken Messina Denaro habe ich im WDR (Öffnet in neuem Fenster) und im Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster) gesprochen und darüber für Focus geschrieben. Dass die Festnahme von Matteo Messina Denaro bevorstand, kursierte seit Monaten in den italienischen Medien, zuletzt verkündet im November zur besten Sendezeit von einem sizilianischen Eisverkäufer (Öffnet in neuem Fenster)in der Fernsehsendung „Non è l’arena“. Der Eisverkäufer Salvatore Baiardo ist deshalb interessant, weil er ein Helfershelfer der Bosse Filippo und Giuseppe Graviano (Öffnet in neuem Fenster) war (Baiardo wurde dafür verurteilt und hat die Strafe abgesessen) - und sich jetzt als "Sprecher" der Brüder betätigt.
Und was sagte dieser ominöse Eisverkäufer? Er sagte:
"Und wer weiß, vielleicht bekommen wir ja auch ein kleines Geschenk. Nehmen wir an, dass Matteo Messina Denaro sehr krank ist, und dass er selbst verhandelt, um sich zu stellen und eine aufsehenerregende Gefangennahme zu veranlassen, und vielleicht kommt ja durch seine Verhaftung jemand ohne viel Aufhebens aus dem Gefängnis, der eine lebenslange Haftstrafe absitzt ... Das wäre eine tolle Sache für ihn."
Die Brüder Graviano waren zusammen mit Messina Denaro an den Attentaten 1992-1993 beteiligt und wurden 1994 in Mailand verhaftet - zwei Monate vor Berlusconis Wahlsieg. Immer wieder haben sie sich sogar vor Gericht enger Beziehungen zu Silvio Berlusconi gerühmt, was stets als Erpressungsversuch gewertet wurde. Und jetzt ist (dank Draghi!) eine Justizreform im Gange, die tatsächlich für Mafiosi mit der Abschaffung der lebenslangen Haft ohne Aussicht auf Hafterleichterungen enden könnte. Alles Zufälle?
Dazu Salvatore Borsellino, der Bruder des ermordeten Antimafia-Staatsanwalts: „Nicht, dass diese Gegenleistung in der Abschaffung der lebenslangen Haft für Mafiosi besteht und die Verhaftung von Messina Denaro in einigen Jahren, wenn nicht schon früher, die Entlassung der Brüder Graviano aus der lebenslangen Haft bedeuten könnte - obwohl sie nicht mit der Justiz kooperiert haben.“
Messina Denaros letzte Wohnung befindet sich nur im sieben Kilometer von seinem Geburtsort Castelvetrano entfernt: in Campobello di Mazara, 11 745 Einwohner. Jeder kennt jeden und Überwachungskameras überall. Die Bar gegenüber von Messina Denaros Wohnung wurde überwacht, weil hier vor kurzem hier Dutzende Mafiosi festgenommen wurden. Was Messina Denaro (dessen Name oft von manchen saumseligen deutschen Redakteuren oft zu "Denaro" verkürzt wird) kurioserweise keineswegs beunruhigte. Vielleicht weil die Überwachungskameras auch schon wieder ausgestellt waren, als er hier einzog?
In diesem Dreieck in Westsizilien, auf den wenigen Kilometern zwischen Castelvetrano, Marsala und Trapani fühlte er sich sicher - was auch daran liegt, dass diese Ecke Siziliens voller Geheimlogen steckt, die eng mit der Mafia zusammenarbeiten. Westsizilien wird als „eherner Sockel“ der Mafia bezeichnet: In Italien ist die enge Verbindung zwischen Freimaurer-Logen und elitären Mafia-Zirkeln schon lange bekannt – und kontinuierlich Gegenstand von Ermittlungen.
Matteo Messina Denaro ist einer der wichtigsten Geheimnisträger der Mafia. Als letzter noch flüchtiger Mafiaboss aus der Generation der stragisti, jener Mörder, die an den Attentaten gegen die Antimafia-Staatsanwälte Falcone und Borsellino 1992 und an der Attentatsserie 1993 in Rom, Mailand und Florenz beteiligt waren, weiß er, wer die Auftraggeber zu den Attentaten waren. Es waren Attentate, die zum Ziel hatten, die öffentliche Meinung in Italien zu beeinflussen. Nur ein Jahr nach den Attentaten betrat Berlusconi 1994 die politische Bühne, von der er bis heute nicht abgetreten ist.
Wegen möglicher Beteiligung an Attentaten haben mehre Staatsanwaltschaften die Ermittlungen gegen Berlusconi und seine rechte Hand, den wegen Unterstützung der Mafia verurteilten Forza-Italia-Gründer Marcello Dell'Utri wieder aufgenommen. Außerdem haben sich in letzter Zeit die Indizien für die Beteiligung neofaschistischer Terroristen verstärkt, was für das Ansehen der rechten Meloni-Regierung, die ihre Ursprünge aus dem Neofaschismus nie verleugnet hat, auch nicht gerade förderlich ist.
Messina Denaro gilt auch als Hüter der wichtigsten Dokumente der Mafia, etwa des „Archivs“ der Mafia des 1993 verhafteten Bosses Totò Riina oder der "roten Agenda“, jener „Blackbox der Mafia-Massaker 1992-93“, von der Messina Denaro zumindest über eine Kopie verfügen soll. In diesem Taschenkalender hatte der ermordete Antimafiastaatsanwalt Paolo Borsellino die Beobachtungen notiert, die er nach der Falcone-Ermordung bei Begegnungen mit Ministern und hochrangigen Beamten gemacht hatte und über die er vor Gericht aussagen wollte. Seit Borsellinos Ermordung ist die rote Agenda verschwunden, obwohl die Aktentasche unbeschädigt auf dem Rücksitz seines Autos gefunden wurde. Filmaufnahmen zeigen, wie ein Polizist die Tasche aus dem noch brennenden Auto holt und wegträgt.
Messina Denaro weiß auch, warum Falcone nicht in Rom ermordet wurde, wo er sich ohne Leibwächter bewegte, sondern es zur Änderung des Plans kam und dieses Attentat auf so eklatante Weise in Palermo stattfinden musste. Außerdem ist Messina Denaro über die Attentatspläne gegenüber Nino Di Matteo (Öffnet in neuem Fenster) informiert, als die Mafia bei den Palermitanischen Bossen 600 000 Euro sammelte, um 150 Kilo Sprengstoff zu finanzieren, weil die Bosse und "Teile des Staatsapparats" beschlossen hatten, Di Matteo aus dem Weg zu räumen, der mit seinen Ermittlungen zu unbequem geworden sei.
Einer, der so viel weiß wie Messina Denaro, ist für das Netz aus Geheimdiensten, untreuen Staatsdienern und Politikern natürlich nicht nur nützlich, sondern auch gefährlich. Folglich werden sie beruhigt sein, dass er nach seiner Verhaftung sagte: „Ich werde nicht aussagen.“
Messina Denaro weiß, dass er, falls er es sich anders überlegen würde, damit rechnen müsste, im Gefängnis umgebracht zu werden. Im Prozess um die Trattativa kam heraus, dass Geheimagenten in der Hochsicherheitshaft ein- und ausgingen (und vielleicht noch -gehen) – um die dort einsitzenden Bosse zu kontrollieren und mögliche Geständnisse im Keim zu ersticken. So wie es bei dem Boss Antonino Gioè geschah, der in seiner Zelle stranguliert aufgefunden wurde. Als Palermos Generalstaatsanwalt den Hintergründen nachging, fand er auf seinem Schreibtisch im Justizpalast einen Drohbrief aus dem Umkreis der Geheimdienste, in dem nicht nur seine Wohnung detailliert beschrieben, sondern er auch aufgefordert wurde, sich wieder in „Reih’ und Glied zu stellen“ und die „Intelligenz der anderen“ nicht zu unterschätzen.
Jetzt sitzt Messina Denaro im Gefängnis von L‘Aquila, in der für Bosse vorgesehenen Hochsicherheitshaft. Erste Reaktion der dort einsitzenden Camorrabosse: „Messina Denaro ist verkauft worden.“ Die dort ebenfalls einsitzenden Bosse der Cosa Nostra, Filippo und Giuseppe Graviano, die zusammen mit Messina Denaro an den Attentaten 1992-1993 beteiligt waren, verloren jedoch kein einziges Wort.
Wer sich für die bizarren Hintergründe über die Zusammenhänge zwischen dem "Staatsapparat" und der Mafia (in Italien und Deutschland) interessiert, findet mehr davon in meinen drei Mafia-Romanen (Öffnet in neuem Fenster).
Gina Lollobrigida habe ich in der ZEIT einen Nachruf gewidmet.
https://www.zeit.de/2023/04/gina-lollobrigida-italien-schauspielerin-tod (Öffnet in neuem Fenster)Ihr verdanke ich auch eine Lektion fürs Leben. Denn als wir uns zum in der ZEIT beschriebenen Interview trafen und es wegen der Fotos in Schwarz-Weiß zu besagtem Wutausbruch gekommen war, versuchte ich Konversation zu treiben, bis der Fotograf endlich die Blitzlichtanlage aufgestellt hätte. Ich begann mit Gina Lollobrigida über das Wetter zu sprechen, über die Zumutungen des römischen Straßenverkehrs, und dann hörte ich mich sagen: "Ihr Sohn ist übrigens in demselben Jahr geboren wie ich."
Ich bereute den Satz, noch bevor er verklungen war. Hatte ich etwa den Verstand verloren? Wozu lebte ich seit Jahren in Italien? War ich übergeschnappt? Hatte ich nicht immer gesagt: Von Italienerinnen lernen heißt siegen lernen? Weil Italienerinnen ihre Weiblichkeit nicht als Fluch betrachten, sondern als Segen? Egal, ob man acht oder achtzig ist?
Gina betrachtete mich. So wie eine Pythonschlange ein Hühnchen betrachtet. Dann lächelte sie. Paillettenfunkelnd. Und sagte genüsslich: Ach, so jung sind Sie?
Und hier noch mein persönliches Highlight der Woche:
Als Romanistikstudentin hätte ich nie zu träumen gewagt, dass mein Buch eines Tages in dicken Stapeln in meiner Pariser Lieblingsbuchhandlung liegen würde.
"Venise n'est pas à vendre" (Öffnet in neuem Fenster), die französische Übersetzung von "Als ich einmal in den Canal Grande fiel" ist jetzt überall in Frankreich erhältlich! Und l'Écume des Pages (Öffnet in neuem Fenster) ist die einzige der vielen alten Buchhandlungen von Saint-Germain, die noch nicht von irgendeiner Louis-Vuitton-Hermès-Luxusboutique verdrängt wurde.
Aus Paris grüßt Sie herzlich, Ihre Petra Reski
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