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Blauer Punkt im All

Aus der Ferne betrachtet ist die Erde ein winziger blauer Punkt im All. Ist man Bewohner dieses winzigen Punktes, wandelt er sich zu einem hochkomplexen System. Das stellt Denken und Handeln vor besondere Herausforderungen.

Erde als blauer Punkt im All

Pale Blue Dot

Unendliche Weiten des Weltalls. Wir schreiben das Erdenjahr 1990. Die Raumsonde Voyager 1 bewegt sich auf den Rand des Sonnensystems zu, nachdem sie ihre Hauptmission, die Untersuchung von Jupiter, Saturn und ihren Monden, erfüllt hat. Sie befindet sich ca. 6 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, als dort dem Astronomen Carl Sagan die Idee kommt, die Sonde um 180° zu drehen, sie sozusagen einen Blick zurück in ihr Heimatuniversum werfen zu lassen.

Die Sonde nimmt „eine Serie von 39 Weitwinkel- und 21 Teleaufnahmen“ auf und sendet sie zurück zur Erde. Eine Aufnahme davon soll 2001 zu einem der zehn besten Fotos der Weltraumwissenschaften gewählt werden. Sie zeigt, in Dunkelheit eingebettet, einen winzigen blassen blauen Punkt, so winzig, dass er nur 12 % eines einzigen Bildpunkts ausmacht. Dieser blasse blaue Punkt ist die Erde. Das Foto inspirierte Sagan zu seinem 1996 erschienenen Buch Pale Blue Dot (dt.: Blauer Punkt im All). Darin schreibt er:

„Es ist uns gelungen, dieses Bild [aus dem tiefen Weltraum] aufzunehmen, und wenn man es betrachtet, sieht man einen Punkt. [Dieser Punkt] ist hier. Er ist unser Zuhause. Wir sind das. [...] Unser Planet ist ein einsames Körnchen im großen Dunkel des Weltalls. [...] Es wurde gesagt, dass Astronomie eine bescheiden machende, und ich möchte hinzufügen, eine charakterbildende Beschäftigung ist. Vielleicht gibt es keinen besseren Beweis für die Aberwitzigkeit menschlicher Vorstellungen als dieses aus großer Entfernung aufgenommene Bild von unserer winzigen Erde. Für mich unterstreicht es unsere Verantwortung, dass wir freundlicher und mitfühlender miteinander umgehen und diesen kleinen blauen Punkt, das einzige Zuhause, das wir je gekannt haben, bewahren und wertschätzen.“

Die Gaia Hypothese

Mehr als zwanzig Jahre zuvor, Mitte der 1960er Jahre, gab der blasse blaue Punkt Sagan und Kollegen Rätsel auf. In den letzten vier Milliarden Jahren hatte sich die von der Sonne abgegebene Energie um 30 % erhöht. Folglich hätte es vor vier Milliarden Jahren auf der Erde wesentlich kälter gewesen sein müssen – und zwar so kalt, dass es kein flüssiges Wasser hätte geben dürfen. Hatte es aber, wie man aus Sedimentablagerungen ablesen konnte. Das Klimasystem der Erde war also erstaunlich stabil gewesen, trotz der ansteigenden Sonnenenergie. Sagan schloss daraus, dass sein blasser blauer Punkt über irgendeine Form von Regulationsmechanismus verfügen musste.

Zur gleichen Zeit forschte der britische Chemiker und Erfinder James Lovelock an Möglichkeiten, wie man Leben auf anderen Planeten aufspüren könnte. Er ging von der Hypothese aus, dass sich potenzielles Leben an der Zusammensetzung der Atmosphäre eines Planeten ablesen ließe. Denn wie sich auf der Erde zeigte, war die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre zum großen Teil ein Produkt der Biosphäre. Im Lauf von Hunderten Millionen Jahren hatten photosynthetisierende Organismen die Atmosphäre mit Sauerstoff angereichert, bis dieser einen Anteil von fast 21 % an der Erdatmosphäre erreichte, während das zuvor reichhaltig vorhandene Kohlendioxid zu einem Spurengas reduziert worden war – ein Zustand wie er auch heute noch vorherrscht.

Als Sagan mit Lovelock das erstaunliche Phänomen des stabilen Erdklimas diskutierte, hatte dieser plötzlich eine Eingebung: Wenn die Atmosphäre zu großen Teilen ein Produkt der Biosphäre war und das Klimasystem im wesentlichen von der Zusammensetzung der Atmosphäre abhing, dann war vielleicht die Biosphäre selbst ein wesentlicher Regulierungsmechanismus für das über vier Millionen Jahren hinweg stabile Erdklima. Die Grundidee der Gaia-Hypothese war geboren:

„[...] dass Leben und seine nicht-lebendige Umwelt ein sich selbstregulierendes System bilden, das das Klima auf der Erde und die Zusammensetzung der Atmosphäre in einem bewohnbaren Zustand hält. [Lenton: 2016]

Gemeinsam mit der Mikrobiologin Lynn Margulis arbeitete Lovelock in den 1970er Jahren die Gaia-Hypothese aus: Die Erde als eine Art von Superorganismus, der seinen Zustand durch biosphärische Mechanismen unabhängig von äußeren Einwirkungen stabil hält.

Die Erde als System

Die Gaia-Hypothese legte den Keim für die noch junge Disziplin der Erdsystemwissenschaft, so Erle C. Ellis, Umweltwissenschaftler an der University of Maryland, in seinem Buch Anthropozän – das Zeitalter des Menschen. Sie habe „zu einer völlig neuen Auffassung vom Leben auf der Erde“ geführt. Zwar zeigte sich, dass nicht, wie in der Gaia-Hypothese angenommen, biosphärische, sondern geochemische Mechanismen langfristig das Klima regulierten. Dennoch blieb „die Grundannahme, dass die Erde ein komplexes, dynamisches System darstellt, das von Rückkopplungen zwischen ihren einzelnen Sphären stabilisiert wird“ eine wichtige Inspiration. Mit dieser Grundannahme „wurden die Klimastabilität und andere selbstregulierende Mechanismen als komplexe, aus den Wechselwirkungen zwischen den Komponenten resultierende Systemprozesse verstanden“.

Ändern sich Rückkopplungen bzw. die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten, indem sie sich verstärken oder abschwächen, hat das bis zu einem gewissen Punkt keinen Einfluss auf den Zustand des Systems. Wird dieser gewisse Punkt aber überschritten, kippen Teile des Systems in einen völlig anderen Zustand. Derartige Punkte werden als Kipppunkte bezeichnet. Das Überschreiten von Kipppunkten ist ein irreversibler Prozess. Er lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

Ein Beispiel für ein Teilsystem, das einen Kipppunkt erreichen kann, ist die atlantische Umwälzzirkulation, durch die warmes Wasser des Südatlantik in den Nordatlantik strömt. Tim Lenton, Erdsystemwissenschaftler an der University of Exeter, beschreibt sie als ein Teilsystem, das zwei stabile Zustände kennt: Ein oder Aus. Schwächen sich die positiven Rückkopplungseffekte ab, wird die Umwälzzirkulation nicht einfach nur schwächer, sondern kippt an einem bestimmten Punkt vom Zustand Ein in den Zustand Aus – mit Auswirkungen auf weitere Teilsysteme der Erde, zum Beispiel auf den Monsunregen in Westafrika und Indien.

Der Geist im System

Den blassen blauen Punkt im All als ein System zu verstehen, als ein hochkomplexes Gebilde mit Rückkopplungseffekten und Kipppunkten, stellt für den menschlichen Geist eine enorme Herausforderung dar. Lenton sieht das in der Art und Weise begründet, wie wir zu denken gewohnt sind – linear und in einfachen kausalen Zusammenhängen:

„Such closed loops can be difficult to get your head around, because we are educated to think ‚linearly’ in terms of a cause having an effect and that’s it – end of story.“.

Ein solch schlichtes Gemüt wäre kein Problem, wenn es weiterhin in einfachen, lokal begrenzten Stammesgesellschaften leben würde. Mittlerweile sind jedoch vor allem die Menschen in den Industriegesellschaften durch die Summe ihrer technischen Möglichkeiten zu einem globalen Faktor geworden, der Einfluss auf das Erdsystem nimmt. Klima- und Biodiversitätskatastrophe sind Beispiele dafür.

Die Konsequenz daraus wäre, dass mit den globalen Wirkungen kollektiven menschlichen Handelns eine Neukonfiguration des menschlichen Geistes einhergeht: Weg von der einfachen Kausalität, hin zum systemischen Denken.

Anmerkungen

Man schätzt, dass Voyager 1 „in etwa 40.000 Jahren den aktuell rund 17 Lichtjahre von der Sonne entfernten Stern Gliese 445 (Sternbild Giraffe) in 1,6 Lichtjahren Entfernung passieren“ [Wikipedia] wird. Der Kontakt zur Sonde wird dann schon für sehr lange Zeit abgebrochen sein.

„Voyager 1 führt eine Datenplatte aus Kupfer mit sich, die als Schutz vor Korrosion mit Gold überzogen ist, die sogenannte ‚Voyager Golden Record’. Auf ihr sind Bild- und Audio-Informationen über die Menschheit gespeichert.“ [Wikipedia] Falls da draußen noch anderes Leben sein sollte und Lust hat, mit uns Kontakt aufzunehmen.

Quellen

Wikipedia: Voyager 1. https://de.wikipedia.org/wiki/Voyager_1 (Öffnet in neuem Fenster)

Wikipedia: Pale Blue Dot. https://de.wikipedia.org/wiki/Pale_Blue_Dot (Öffnet in neuem Fenster)

Sagan, Carl: Blauer Punkt im All. Unsere Zukunft im Kosmos. München: Droemer/Knaur, 1996

Lenton, Tim: Earth System Science. A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2016

Ellis, Erle C.: Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung. München: oekom, 2020

Foto: NASA

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