Planetare Grenzen
Als ich das angelehnte bodentiefe Fenster öffnete, sah ich den alten Mann im Lehnstuhl liegen. Er war darin eingesunken, erstarrt und steif, wie eine Requisite seiner selbst. Mund und Augen standen weit offen, die Haut war wachsbleich.
Ein Kribbeln erfasste meinen Körper, das in einem kleinen, schimmernden schwarzen Loch am Rande des Herzens zusammenlief, ein Gefühl von Trauer und Sinn zugleich – wie immer wenn ich ein totes Lebewesen fand. In diesem Gefühl sind alle gleich. Nur sein Knotenpunkt ändert sich, je nachdem welches Organ in seinem Versagen den Tod schließlich herbeigeführt hat.
Das Kribbeln hatte sich bereits angekündigt, als ich um das Haus herumgegangen war, nach einem angelehnten Fenster suchend. An der Tür hatte mir niemand geantwortet. Durch die Fenstergläser konnte ich nur Schemen erkennen. Sie waren, wie bei allen Häusern im Paradiesviertel, verspiegelt. Ich sah nur mich selbst: eine menschliche Gestalt, auf der ein dunkler Schatten lag.
Vor einem der Fenster stapelten sich Säcke mit Pflanzerde, als sollten sie statt in die Erde verbracht selbst etwas vor dem Eindringen verhindern. Ein aufgeschnittener Sack lag auf einer Schubkarre daneben, ein Teil der Erde bildete verstreute Inseln um die Schubkarre herum.
Und diese gute Erde hatte wohl sein altes Herz überanstrengt. Schubkarre um Schubkarre hatte er sie auf den Boden hinter dem Haus gefahren. Ich fragte mich warum. Es war ein so sinnloses Unterfangen. Der Boden war von der Dürre ausgetrocknet. In wenigen Tagen würde die Erde darauf zu Staub geworden sein, der vom heißen Wind aufgewirbelt und weggetragen wird.
Im Vorbeigehen griff ich in den Sack, in die Erde hinein. Ich kann nicht anders, es drängt mich manchmal geradewegs dazu, in Erde zu greifen, so wie jemand nicht widerstehen kann, immer wieder von einer Speise zu kosten. Es war gute Erde, nicht dieses Substrat, das man bei den lizenzierten Humussortimentern für den Innenraumanbau bekommt.
Es sei denn man ruft die Fadenförmigen an, dass sie zu Hilfe kommen und ihr kühlendes, feuchtigkeitsspendendes Geflecht unter der Bodenkrume wachsen lassen. Wenn sich die Risse im Boden wie Nähte schließen, weiß man, dass sie da sind. Dann wünsche ich mir, wieder bei ihnen und von ihren Fäden umgeben zu sein, unter der Erde, wenigstens für eine Nacht. Doch ihre Anwesenheit ist selten geworden. Man braucht sie nicht mehr.
Der Boden dient nur noch als Untergrund, auf dem Solarplexus aufgebracht werden, dunkel schimmernde Folien, die unter Sonnenlicht wie Asphalt aushärten und es in elektrische Energie umwandeln. Die Solarplexus werden immer leistungsstärker. Für ein Upgrade wird der alte Plexus mit einem Skalpell Stück für Stück wieder vom Boden getrennt, um dann die neue Folie aufzubringen.
Doch der alte Mann hatte keine neue Folie aufbringen lassen. Es waren nur die dunklen Flecken des alten Solarplexus zurückgeblieben. Vielleicht wollte er gar nichts pflanzen, sondern nur die Flecken unter der Erde verschwinden lassen.
Als ich das bodentiefe Fenster wieder hinter mir schließend den Raum betrat, war er von der Anwesenheit des Todes erfüllt. Man spürt und riecht ihn – es ist diese leicht säuerliche Note, wie etwas das langsam zu verderben beginnt. Und nichts davon drang nach außen, so wie es sich für ein Nullemissionshaus gehörte.
Der alte Mann war schon länger tot, man roch es nicht nur, man sah es auch, an der Haut – es zeigten sich bereits dunkle Flecken darauf. An den Flecken, an ihrer Größe und ihrer Färbung, kann man die Zeit ablesen wie an einer Uhr, die nach Eintritt des Todes zu Ticken beginnt. Sie zählte nun die Stunden von einem selbsterwirkten Ende aus. Der alte Mann schien auf den Herzinfarkt hingearbeitet zu haben, die Schubkarren voll Erde, die Anstrengung, das entfernte Live Saving System. Jedem Herzpatienten setzt man eine Kanüle in die Hautgefäße ein, aus der bei Gefahr ein gefäßerweiternder Stoff in die Blutbahn injiziert wird. Doch die Kanüle war nicht mehr mit den Hautgefäßen verbunden, sie lag auf dem Tisch neben dem Lehnstuhl.
Seine Gesicht war kalt wie Glas. Mit sanftem Druck, um nichts zu zerbrechen, schloß ich ihm Augen und Mund, nicht der Insekten wegen – die gibt es kaum mehr – sondern aus Respekt dem Toten gegenüber. Er soll mit einem friedlichen Ausdruck gestorben sein: Sage ihnen, ich habe ein schönes Leben gelebt. Und tatsächlich schien den Mund jetzt ein leichtes Lächeln zu umspielen. Für immer. Es sprach eine Einladung aus, sich von ihm zu nähren. Alles Leben ist Nahrung für anderes Leben. Und so geht nichts verloren.
Dennoch überkam mich ein seltsames Gefühl der Traurigkeit. Was ist mit den Fragen, die man den Verstorbenen noch stellen wollte, nun aber unbeantwortet blieben? Haben Sie keine Angst Caspar, hätte ich zu dem alten Mann gesagt – und hatte mir dazu meine sanftmöglichste Stimme ausgemalt, denn im Paradiesviertel gibt es keine Fremden, schon gar nicht solche, die aussahen wie ich – ich möchte Ihnen nur eine Frage stellen. Was ist mit den planetaren Grenzen geschehen? Wie konnte ein richtiges Modell zu einer falschen Ideologie werden?
Ursprünglich sollte das Modell Grenzen angeben, innerhalb derer die Erde in einem Zustand bleibt, in dem Menschen ohne größere Turbulenzen leben können – so wie sie es seit den ersten Ackerbaukulturen kannten. Man nannte diesen Zustand safe operating space. Um dem safe operating space ein Gesicht zu geben, legte man Parameter fest – Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre, Verlust an Biodiversität, Veränderung des Stickstoffkreislaufs beispielsweise und setzte für diese Parameter Grenzwerte fest, die für den Erhalt des safe operating space nicht überschritten werden durften.
Außer ein paar Nerds hatte das niemand interessiert. Jetzt ist der safe operating space überall – er lächelt verführerisch von riesigen Plasmaleinwänden herunter, besetzt mahnend die Herzen der Kinder und berät dich kompetent, welches Produkt du als nächstes kaufen sollst. Dabei ist doch für aller Augen offensichtlich, dass man den safe operating space schon längst verlassen hat. Wieso ist keine Rede mehr von den kritischen Parametern? Warum schweigt man darüber? Was ist mit Ihrer wissenschaftlichen Arbeit geschehen, Caspar?
Statt einer Antwort beginnt im Unterarm des alten Mannes ein kleiner roter Punkt zu leuchten. Es ist der Sensor, vor dem mich Ada gewarnt hat. Jeder Mensch, sagte sie, trägt ihn im Unterarm. Er detektiert die Zerfallsprozesse nach Eintreten des Todes. So will das Oligopol verhindern, dass wie früher Menschen alleine in ihren Wohnungen verwesen. Wenn der Sensor auslöst, dann kommt in wenigen Minuten der OMEGA-Dienst, vermerkt die Umstände des Todes, generiert ein digitales Abbild des Toten für das Archiv, um dann den Leichnam unbemerkt und rückstandslos zu beseitigen. Nicht einmal ein Häufchen Asche bleibt übrig. Der Tod darf keine Spuren hinterlassen. Der Sensor ist unempfindlich gegen Berührung, man kann ihn also nicht versehentlich auslösen. Außer man hat Haut und Hände wie Du, Barbara. Der OMEGA-Dienst macht keinen Unterschied, ob ein Mensch lebt oder tot ist. Es zählt allein das Signal des Sensors. Also sei vorsichtig und berühre niemanden am Unterarm.
Ja, das bin ich. Vorsichtig. Die Flecken auf der Haut des alten Mannes haben den Bereich des Sensors erreicht. Ich streiche mit meinen chlorophyllgeäderten Händen sanft und spurlos über die Flecken, bis ich den Sensor erreiche. Der rote Punkt erlischt. Beim Verlassen des Zimmers lasse ich das bodentiefe Fenster einen winzigen Spalt offen. Vielleicht gibt es doch noch das eine oder andere Insekt, das nach Nahrung sucht. In der Erde.
Quellen
Steffen, Will et al: Planetary boundaries. Guiding human development on a changing planet. In: Science, 347-6221, 2015, 1259855-1–1259855-10. PDF-Download unter folgendem Link (Öffnet in neuem Fenster)
Foto: Joshua Rawson Harris / Unsplash