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Die Treppe

Neben unserem Wohnhaus verbindet eine Treppe die Innenstadt mit den oberen Wohngebieten. Sie ist recht steil und lang, exakt 104 Stufen aus altertümlichen Granit sind es. In diesen Tagen, an denen es wieder warm ist, wird sie zu einem urbanen Freiraum. Unsere Küche und mein Arbeitszimmer erlauben einen perfekten Einblick, aber von der Treppe aus schauen die Leute nicht nach oben. Sie sind ganz bei sich.

Gestern saß eine junge Frau auf einer der Stufen und ein Freund brachte ihr bei, einen Joint anzufertigen. Er war sehr vorsichtig, es ist ja immer noch verboten. Er blickte also die Treppe hoch und die Treppe hinunter, war sichtlich auf der Hut und nervös. Ich sah ihnen vom geöffneten Fenster aus zu und musste doch irgendwann lachen. Dann machten sie sich eilig davon. Viele kommen allein, führen lange Telefonate und machen ihrem Herzen Luft. Alle migrantischen Sprachen unserer Zeit sind dann zu hören. Die Laute klingen anders, die Sorgen sind die gleichen.

Einige Menschen können dann mithören, aber als Anwohner der Treppe zählen wir nicht, es gibt eine Art Schweigepflicht. Publikum gibt es nur, wo man eines annimmt. An Sommerabenden wird auf der Treppe gefeiert. Wenn ich freundlich vom Fenster aus bitte, die Flaschen, Dosen und den ganzen Rest auch wieder mitzunehmen, dann passiert das auch. Wenn nicht, nicht.

Ferner ist die Treppe einer der wenigen Orte, an denen noch in Ruhe geraucht werden darf. Oder Schnaps getrunken. Viele setzen sich hin und schauen in aller Ruhe Videos. Sein, wie man ist. Aber das Gegenteil, die große Metamorphose, kann die Treppe auch: An vielen Vormittagen wird sie zum Sportgerät. Tätowierte Türstehertypen werden noch fitter und Menschen in den besten Jahren, die ihre Gestalt verändern möchten, können nach Herzenslust stöhnen, schwitzen und schnaufen.

Manchmal gibt es Momente der Wahrheit. Eines Nachmittags hörte ich einen jungen Mann im eifrigen Gespräch versunken, als er sagte, dass er nichts sagen möchte: "Ich will ja nichts sagen, aber..." Da unterbrach ihn seine Begleiterin in glockenheller, genervter Stimme: "Doch, Finn. Du sagst zu allem etwas. Du sagst immer zu allem etwas ..." Finn schwieg dann. Hat er es beherzigt?

Ein weiteres, unvergessliches Telefonfragment beschäftigt mich bis heute, was war da los? Eine Frau hatte hörbar Mühe, ihren/ihre GesprächspartnerIn zu unterbrechen: "Ey!", versuchte sie es, mehrmals, "Ey!" Bis sie eine Pause fand und streng folgende Ansage machte: "Ey, scheiß' auf deinen Fisch!"

Die Treppe ist nicht Schule, nicht Arbeit, aber auch kein beengtes Zuhause. Sie ist ein Refugium vor dem, was Charles Baudelaire l'horreur du domicile nannte – wenn einem die Decke auf den Kopf fällt. Und sie ist frei vom Zwang, etwas kaufen zu müssen. Die Treppe ist eine Pause von den Zumutungen der sozialen Welt und ein angenehmer Ort, der sich kaum verändert. An einem der Laternenpfosten klebt noch immer ein kreisrunder Aufkleber mit dem roten Schriftzug "Oskar" – Relikt aus dem Bundestagswahlkampf 1990. So führt mich die Treppe manchmal auf die Reise in eine kontrafaktische Vergangenheit: Was wäre gewesen, wenn? Ach, Oskar.

Es gibt ein Zitat des amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut, in dem er davor warnt, die Leute immer mit neuen Zielen und Erwartungen zu behelligen: Bildung, Wohlstand, Familie – was soll denn noch alles in so ein Leben passen? Die meisten Menschen, so Vonnegut, möchten und verdienen some credit just for being alive.

Dann denke ich immer an die Treppe, die Treppe der Freiheit.

Vergesst die Karriere, vergesst die Beamtinnenlaufbahn, die große romantische Liebe, die Ehe und die Kinder, liebe Leute, ich setze mich jetzt ins Café, gründe einen Club und schreibe!

Simone ist heute noch so revolutionär wie damals und dieser Podcast zu Leben und Wirkung von Simone de Beauvoir ist die pure Inspiration! Da ergeben sich ganz verblüffende Momente: Man hört Dialoge und Textauszüge, die wie ein aktueller Kommentar zu unseren Debatten über geschlechtsspezifisches Rollenverständnis und Care-Arbeit klingen – dann sind es Zitate aus dem Jahr 1963. Wir sind weit gekommen, einerseits, anderseits bleibt auch noch viel zu tun.

https://www.radiofrance.fr/franceinter/podcasts/simone-de-beauvoir-itineraire-d-une-jeune-fille-rangee (Öffnet in neuem Fenster)

Wie schwer ist diese Mischung aus Sozialkritik und Comedy! Das Thema – die Resozialisierung nach langer Haft – ist völlig aus der Mode, das Milieu kommt sonst in Serien nie vor. Besonders spannend ist diese Geschichte auch nicht, aber so perfekt gespielt, so komisch und menschlich, dass man gar nicht aufhören mag, weiter zu schauen.

Und wie gut, dass der deutsch-französische Kultursender auch als europäische Plattform funktioniert, auf der sich auch britische Produktionen aufstöbern lassen. Und alles inklusive zur üblichen Rundfunkgebühr, die, wenn man sich einmal anschaut, was auf den jeweiligen Mediatheken alles angeboten wird, wirklich ein guter Deal ist.

https://www.arte.tv/de/videos/RC-023753/back-to-life/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die Sache mit Johanna von Orléans, der Brexit – es gibt viele Gründe, gegen das Vereinigte Königreich eine gesunde Skepsis zu hegen, aber es gibt auch andere. Wenn Nigel Slater gut drauf ist, dann zählt das unbedingt zu den anderen. Nicht zu kompliziert, nicht zu heftig, sondern wie schlafwandelnd kann man das zubereiten und festlich ist es dennoch.

https://www.theguardian.com/food/2023/may/30/nigel-slater-midweek-recipe-pan-fried-chicken-with-thyme-and-lemon (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Wenn Sie den "siebten Tag" gerne lesen und einen finanziellen Beitrag leisten möchten und können, dann geht das hier:

PPS: Die Lesungen aus Montaignes Katze gehen munter weiter. Am 8.Juni lese ich in Hamburg in der Buchhandlung Felix Jud, Ulrich Wickert moderiert und wir unterhalten uns. Und am 14. Juni in der Stadtbücherei Sankt Ingbert, (dann allerdings ohne Uli).

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