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Fünf Jahre

In Pandemie-Zeiten habe ich mir bestimmte Waldrunden angewöhnt, die ich immer noch gehe. Zu Beginn der Seuche, als der erste teilweise Lockdown kam, begleitete mich das bedrückende Gefühl, mit untauglicher Ausrüstung in einen tief dunklen Sturm zu ziehen. Ganz in meiner Nähe, von allen unbemerkt entwickelte der hessische Finanzminister Thomas Schäfer, den alle als Fels in der Brandung beschrieben, innerhalb weniger Tage eine Psychose, die ihn in den Suizid trieb. Solch eine Krise war das damals.

Unsere heutige Lage ist in mancher Hinsicht eine späte Folge der Pandemie. Gerade junge Leute, hat eine Studie der London School of Economics (Öffnet in neuem Fenster) ermittelt, tun sich seitdem schwer damit, Politik und Verwaltung zu vertrauen. Die Regierung Trump und die MAGA-Bewegung haben viele Wurzeln in der Impfgegner-Szene. Bekanntlich ist der Gesundheitsminister Robert Kennedy jr diesem Milieu zuzuordnen. (Über den der unterhaltsame demokratische Berater James Carville einmal sagte, in einer barmherzigeren Gesellschaft wäre RFK jr längst einer geschlossenen Anstalt anvertraut worden. Auf der Straße habe der nichts verloren.)

Der entschlossene Kampf der Trump-Administration gegen wissenschaftliche Institutionen aller Art speist sich aus der damals entstandenen Konfliktlinie, in der Wissenschaftler plötzlich als arrogante Elite diffamiert wurden. Ich erinnere mich noch an das letzte Telefonat mit Ulrike Guérot, die gerade damit begonnen hatte, gegen die Covid-Maßnahmen zu agitieren: Ich habe noch nie soviel Erfolg gehabt! berichtete sie mir erfreut. Dann begann ihr Weg in den Dschungel der Gegenaufklärung.Nach meinen letzten Infos ist sie heute beim putinfreundlichen BSW aktiv. Viele sind in den letzten fünf Jahren abgedriftet, später auch zu objektiven Unterstützern des russischen Angriffskriegs geworden. Ich jedenfalls habe die politische Energie und Aggressivität der Impfgegner und Virusleugner völlig unterschätzt. Niemand möchte vorzeitig sterben, Impfungen retten Leben, also ist niemand gegen Impfungen – so meine schlichte und falsche Überlegung. Viele misstrauen der mühsam ausgehandelten Vernunft und dem Prozess des Ausgleichs divergierender Interessen, sie sehnen sich nach einer Welt, in der Ordnung herrscht.

Auch unser Alltag hat sich seitdem deutlich verändert, vom kontaktlosen Bezahlen zur digitalen Konferenz. Die Welt der Arbeit hat sich seitdem völlig verändert, ich finde zum Guten. Aber weil die meisten guten Jobs und Hinweise eher nebenbei, wie zufällig ergeben, vermute ich auch, dass die Kreise so eher verschlossen bleiben. Wer draußen ist, der bleibt es auch.

Eine weitere Spätwirkung sind die unkontrolliert ihr Gift verbreitenden sozialen Medien: Damals Horrorstories über Nebenwirkungen von Impfungen, heute über andere Themen, immer die gleichen Desinformationen: Ukraine ist der Angreifer, der russische Krieg ist Frieden, Klimawandel ist ein Hoax, jeder Ausländer hat ein Messer in der Tasche und so weiter. Das war ein Versäumnis nach Covid: Man hätte damals schon die sozialen Medien wesentlich strenger regulieren müssen. Heute dominieren sie die Medienökologie und geben im Stundentakt neue Themen vor. Eines Tages wird uns die völlig ungehemmte Nutzung von Tik Tok , X und co vorkommen wie jene Röntgenapparate, die einst in Schuhläden standen, um die Passform neuer Schuhe abzubilden. Würde man heute nicht mehr so machen, mit dem Daumen fühlen genügt ja auch.

Die Allianz Musk-Trump-Putin hat die durch die Pandemie aufgetretenen Fragmentierungen und Unsicherheiten nicht hervorgebracht, aber konsequent ausgenutzt. Viel anzubieten haben sich nicht, aber sie sind entschlossen. Ihre Gegner, also die offene Gesellschaft, waren das lange nicht.

Die Corona-Times haben auch gezeigt, mit welchen Instrumenten man aus solche einer globalen Krise wieder hinaus findet. Sicher, es gibt den Effekt zunehmender Vereinsamung im lockdown und durch die Digitalisierung - aber eben auch die Erfahrung von Solidarität, Nachbarschaftshilfe und eine neue Wertschätzung des öffentlichen Diensts. Und es entstanden ganz neue politische Instrumente: In Europa war das etwa der gemeinsame Schuldenfonds zur Bewältigung der Pandemie-Folgekosten und zum Ankauf von Impfstoffen. Den werden wir nun erneut auflegen müssen. Auch die exzellente europäische Forschungslandschaft war eine großes Plus: In Oxford und in Mainz wurden die rettenden Impfstoffe entwickelt und im Rekordtempo unter die Leute gebracht. Aktuelle Studien haben festgestellt, dass die Impfungen Millionen von Menschen das Leben gerettet haben. In fünf Jahren, wenn ich wieder die Waldrunde gehe, kann ich dann über das Jahrzehnt nachdenken, in dem erst die Pandemie, dann Putin besiegt wurde und ein politisches Europa entstand. Stay tuned.

Ich bin immer auf der Suche nach Serien, die auch bei einem Sohn im Teenageralter ankommen könnten. Da er und seine Freunde auf diesem Gebiet recht versiert sind, ist das schon eine Herausforderung. Seine Empfehlungen beziehen sich meist auf japanische Animes im Original mit englischen Untertiteln, zu sehen auf Plattformen aus Dubai mit naja, nicht eben familientauglicher Werbung. “Den Porno einfach wegklicken, Papa”. Doch bei dieser deutschen Produktion, die über das ZDF zu Apple kam, hatte ich ihn.

https://www.youtube.com/watch?v=dA6dtYcykKs (Öffnet in neuem Fenster)

An manchen Büchern kommt man einfach nicht vorbei, andere entdeckt man durch größten Zufall und wieder andere erregen Aufmerksamkeit, weil die Autorin persönlich den Kontakt gesucht hat. Im Fall des Essays von Jutta Reichelt ist das ein Glück, denn in der Flut und weiten Flotte der Neuerscheinungen hätte ich dieses elegante Motorboot sicher übersehen. Es beginnt wie ein Hitchcock-Klassiker: Die Protagonistin führt ein modernes, ganz normales Leben, weist dabei aber seltsame Symptome auf. Ihre Familie ist bundesdeutscher Durchschnitt, auch wenn es zuhause zeitweise ganz schön kühl zuging.

So what, denkt sie, andere haben es doch schwerer gehabt. Dann, wieder, verkettet durch Zufälle oder Schicksal, führt ein Satz zum nächsten: Der Weg der Erkenntnis führt über Sprache, gesprochene und geschriebene. Bald öffnet sich eine Tür nach der anderen: Die Rama-Fernsehwerbung-Familie (Öffnet in neuem Fenster) war bloß eine Illusion. Aber welcher Erinnerung kann sie trauen? Gibt es nicht zig Beispiele für falsche Erinnerung?

Wir verfolgen diese Spurensuche und den Prozess der Aufklärung des Missbrauchs wie in einem Krimi. Dabei sind immer, wie im Jazz, mehrere Motive und Improvisationen zu erkennen. Die wichtigste Frage stellt sich die Protagonistin selbst: Kann das wirklich mir passiert sein? Gab es in meinem Leben ein ganz anderes?

Seit vielen Jahren warnt der französische Politiker Raphaël Glucksmann vor Putin und der Gefahr, die durch Trump ausgeht. Heute ermessen wir, wie richtig er damit lag. Seine Auftritte bieten Klartext und sind von unabweisbarer Dringlichkeit. Das antitotalitäre Denken ist bei den Glucksmanns Familiensache, sein Vater André war ein bedeutender Denker der nouveaux philosophes. Er wird in Frankreich mehr und mehr geschätzt. Er wäre der perfekte Partner für eine erneuerte SPD.

https://www.youtube.com/watch?v=jsttagT4K3U (Öffnet in neuem Fenster)

Es gibt Gerichte, die ewig aus der Mode kommen und plötzlich wieder auftauchen, wie Nessie. Dabei ist la blanquette immer ein Erfolg: Wenn ein Bistro das als Tagesgericht anbietet, ist es sofort ausverkauft. Lange habe ich mir eingebildet, dass die Zubereitung eine besonders schwierige Sache ist, die man nur der Großmutter anvertrauen oder zumuten darf. Aber es geht - der nächste Kälteschock kommt bestimmt, dann lassen sich lange Sonntage gut überstehen.

https://madame.lefigaro.fr/cuisine/la-recette-du-dimanche-une-blanquette-pour-la-fete-des-grands-meres-20250301 (Öffnet in neuem Fenster)

Aber neben den Klassikern soll auch immer Raum für Neues sein, dieser frühlingshafte und fleischlose Eintopf scheint auch eine sehr gute Idee zu sein

https://www.theguardian.com/food/2025/mar/08/white-bean-leek-and-artichoke-stew-vegan-recipe-meera-sodha (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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