Der Fluch der letzten Meter
Stillstand/Brief an Macron/Buch Großvater und Täter/ Serie 37 Sekunden /Maria Nicolau

Wenige Minuten vor der Einfahrt des ICE in den Frankfurter Hauptbahnhof bleibt der Zug stehen. Er ist jedes Mal so. Längst haben die Zugbegleiter die Einfahrt angesagt, auf den Bildschirmen steht schon die korrigierte Ankunftszeit in roten Zahlen – doch pünktlich zu dieser Zeit und in Sichtweite des Bahnsteigs stoppt der Zug auf dem Gleis. Nie sehr lang, einige Minuten nur, die alle schweigend und stehend verbringen. Es sind jene Minuten, die mich und viele andere den Anschluss kosten. Der Rest der Reise verläuft dann ganz anders, wegen jenes zeitlichen Bermuda-Dreiecks. Wie lange geht das schon so? Viele Jahre.
Das ist nur eine der vielen Formen des deutschen Zauderns. Jede und jeder kennt Beispiele aus eigener Anschauung. Neulich hat der Wiesbadener Kurier eine beeindruckende Liste (Öffnet in neuem Fenster) jener Projekte gemacht, die längst geplant, verabschiedet und zum Teil sogar finanziert sind – die aber nicht realisiert werden. Die Neugestaltung des Rheinufers ist beispielsweise dabei. Auch der Radweg nach Mainz ist so ein ewiges Vorhaben. Aber nichts tut sich.
Kein Mensch weiß, warum.
So ist das auch im Großen: Früher als in vielen anderen Ländern hat man hierzulande vom ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und den damit verbundenen Chancen gesprochen, aber bei der Umsetzung ? Stoppt man eben kurz vorher. Im Januar 2022 wird die Gefahr der russischen Aggression klar erkannt und verurteilt, die Zeitenwende wird beschworen – dann passiert nichts. Die Entschiedenheit, mit der Paris ein neues Verkehrsmodell umsetzt, mehr Platz für Räder und Fußgänger schafft, ist hierzulande unvorstellbar. Alles braucht Jahrzehnte, als müsse man jeder Geschwindigkeit misstrauen, außer auf der Autobahn. Es werden Erfindungen gemacht, viele Patente angemeldet, aber aus denen werden zu wenig innovative Produkte.
Die Wikinger fürchteten sich vor Seidr-Magie, unter anderem von der Göttin Freya praktiziert, welche die Krieger während der Schlacht im entscheidenden Augenblick lähmt und hindert: Das Bein war dann wie von unsichtbaren Bändern fixiert und die Finger ließen den Pfeil nicht los. So ein Fluch liegt über der Bundesrepublik.
Vor einigen Wochen hat die Staatsreform Kommission von Julia Jäkel, Peer Steinbrück, Andreas Voßkuhle und Thomas de Maizière dieses Problem untersucht. Ihr Bericht sollte erst im Herbst kommen, zum ursprünglichen Wahltermin, aber das Ende der Ampel und die vorgezogene Neuwahl führten zur Veröffentlichung eines Zwischenberichts (Öffnet in neuem Fenster). Es ist eine hochspannende Lektüre, die viele dieser Phänomene erklärt.
Das fand wohl auch die neue Koalition, denn wichtige Teile ihres Vertrags sind von dem Zwischenbericht inspiriert. Ich finde das gut, aber was stünde im Koalitionsvertrag, wenn die Kommission ihren Bericht nicht vorab veröffentlicht hätte?
Der Bundestagswahlkampf verdient auch noch mal eine eigene Betrachtung. Gute Ideen waren im Angebot, aber nicht bei denen, die gewonnen haben. Was sich die neue Bundesregierung vornimmt gleicht dem, was Robert Habeck vorgeschlagen hat, also einer der Wahlverlierer. War es überhaupt so glücklich, dass drei Männer kandidiert haben, die, was absehbar war, nach der Wahl von der Bühne gehen? Warum gab es nicht schon vor dem Wahlsonntag einen Wechsel der Gesichter und Generationen? Wieder hielt Seidr die Parteien davon ab, das Richtige zu tun. Statt neuer Gesichter, die nun eh gekommen sind, den Bundestagswahlkampf mit unbeliebtem Personal durchzuziehen – ein fataler Kurs. Es entsteht der Eindruck, dass nur noch eine politische Formation Veränderung im Angebot hat - die wollen allerdings das Grundgesetz quitt werden. Weil Wählerinnen und Wähler aber gern die Wahl haben, wird deren Attraktivität größer, je länger die anderen zaudern.
Im November scheiterte die Ampel, bis dato ist kein neuer Kanzler gewählt worden. In all diesen bewegten Monaten ist die Bundesrepublik außenpolitisch abwesend, aber richtig schlimm ist das nicht. Europa wird ganz gut von Ursula von der Leyen vertreten - und von Emmanuel Macron. Mit seinem speziellen Draht zu Trump - die beiden telefonieren täglich per privatem Mobiltelefon - bleibt wenigstens ein Gesprächskanal bestehen. Als Trump sich gegen Selensky wandte, erinnerte Macron den Amerikaner an seine besseren Geister: „Die Ukraine den Russen schenken? Das bist doch nicht Du!“ In der Frage der Hilfe der Ukraine lässt Macron nicht nach, während viele Europäer zaudern und zögern. Ich weiß, in Frankreich nervt er viele Landsleute, laufen seine Reden ins Leere. Aber in Deutschland, wo wir stabile, fleißige, auch kluge KanzlerInnen haben, aber keine Redner oder Visionäre, tut er gut. Als Anne Urbauer, einst betreuende Redakteurin von Roger Willemsen bei der “Woche”, nun journalistische Legende aus München, mir erzählt hat, dass Sie Macron in dieser Hinsicht einen Brief schreiben möchte, einfach, um mal danke zu sagen – habe ich nicht gezögert, mit zu unterschreiben. Wer auch möchte, hier entlang:
https://weact.campact.de/petitions/offener-brief-an-emmanuel-macron (Öffnet in neuem Fenster)In wenigen Tagen erscheint ein ganz besonderes Sachbuch. Der Journalist Lorenz Hemicker geht in ihm der Geschichte seines Großvaters Ernst nach. Es ist aber noch mehr: Eine moderne deutsche Familiengeschichte und ein Reisebuch ist es auch.

Ernst war ein Täter der NS-Zeit und am Massaker im Wald von Rumbula in Litauen beteiligt. Hemicker rekonstruiert mit großer Präzision den Lebensweg und die Taten dieses ganz normalen Deutschen. Diese Recherche allein liest sich sehr spannend. Hemicker erspart seinen Leserinnen und Lesern kein grausiges Detail und keine deprimierende Beobachtung. Immer wieder muss man pausieren, um durchzuatmen. Es gibt da diesen Satz, den Ernst während seiner Vernehmung einem Hamburger Richter gesagt hat: “Das kann man den armen Menschen doch nicht antun!” Er meint aber nicht ihre Ermordung, sondern die Vorstellung, dass die Juden in die tiefe Grube, die er für sie ausgehoben hat, springen müssen. Ernst Hemicker sah also eine Rampe vor. Auf ihr konnten die Juden von Riga barrierefrei zum Grund hinabsteigen, um dort erschossen zu werden.
Hemicker möchte mit seinem Vater nach Riga fahren, aber dazu kommt es nicht mehr. Später macht er sich alleine auf den Weg, trifft Zeitzeugen und schildert die Belastung, die das blutige Erbe noch heute darstellt. Nebenbei ist es auch eine Hommage an den verstorbenen Vater, den Sohn von Ernst und eine Meditation über deutsche Väter überhaupt. In Zeiten rechtsradikaler Umfrage Erfolge ein unverzichtbares Buch!
Im Jahr 2004 sank ein Fischkutter vor der bretonischen Küste, nur wenige Sekunden dauerte das. Kein Notruf, keine Rettungsboote, mit Mann und Maus untergegangen! Die einzig denkbare Erklärung führt tief in die Welt der militärischen Geheimnisse.
Eine neue Serie geht den Ereignissen von damals nach und belebt das Genre der europäischen Polit-Serie neu, denn dieses Unglück war erstens vermeidbar und sollte dann vertuscht werden. So erinnert uns “Nur 37 Sekunden” daran, dass in unserer offenen eben auch geschlossene Gesellschaften wohnen. Es gelingt sehr gut, die Stimmung, die Farben, auch die Technik der Zeit nachzuempfinden – sowie Spannung und Drama aufzubauen, ohne zu den üblichen Netflix Rezepten zu greifen. Mathieu Démy spielt auch mit, der Sohn der großen Agnès Varda – immer ein Garant besonderer Qualität.
https://www.arte.tv/de/videos/117138-001-A/nur-37-sekunden-1-6/ (Öffnet in neuem Fenster)Durch einen Artikel in Le Monde habe ich von dem immensen Erfolg des katalanischen Kochbuchs von Maria Nicolau (Öffnet in neuem Fenster) erfahren. Nicolau beobachtet und kritisiert eine Spaltung der kochenden Menschheit: Die einen haben die Sache mehr oder weniger aufgegeben, also an Lieferdienste und Buden delegiert, die anderen wandeln in den hohen Sphären der Molekularküche oder sind auf dem Weg dorthin. Aber was kocht man dann zuhause? Nicolaus Buch ist auch eine Autobiografie: Ihre Arbeit in der katalanischen Gastronomie hat ihr immense Erfolge beschert, zollte aber auch einen hohen gesundheitlichen Preis. Das, sagte sie sich, muss auch anders gehen. und schrieb es auf.
Das ist auch eine gute Analogie zur professionellen Politik: Die meisten schauen sich das nur am Fernseher an, die wenigen anderen werden davon so beansprucht, dass die Gesundheit leidet. Auch das könnte anders gehen.
In Erwartung einer deutschen Fassung des Buches, hier schon mal ein Video der sympathischen Katalanin.
https://youtu.be/_yI_q3UDcOE?si=klEYsKfvPaaUmCN5 (Öffnet in neuem Fenster)Und cuina salvatge, wilde Küch,e geht natürlich auch auch bei Paprika, Auberginen und Co.
https://youtu.be/xF1-driSGkk?si=LdaFv_j602lO-doi (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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