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Die kurzen Tage im längsten Jahr

Dialektik des Zeitempfindens/Annie Ernaux/ Festmenü nach Ottolenghi

In diesem Dezember unterliegt die Zeit einer eigenartigen Dialektik: Einerseits verliert sich das Jahr wie Wasser im Strudel einer sich leerenden Badewanne, andererseits scheint der Vorjahresdezember viel weiter weg als nur zwölf Monate. Damals galten Nordstream 2 als sinnvolles Projekt, Putin als Staatsmann und Berlin war der unangefochtene politische und wirtschaftliche  Mittelpunkt Europas. Die Republik glänzte noch im goldenen Restlicht der beliebten Merkel-Ära, die sympathische Truppe der Ampel sollte behutsam modernisieren, was die Kanzlerin in so guter Form hinterlassen hatte. Die ausklingende Pandemie war das wichtigste Thema, Deutschland konnte stolz auf Entdeckung und Entwicklung des guten Impfstoffs verweisen, dessen Verkauf auch noch so viele Steuern für das schöne Mainz einbrachte. Und Deutschland war eine bedeutende Fußballnation.

Die Bilder des folgenden, also diesen Jahres hätte man vorigen Dezember für Szenenbilder eines Alptraums gehalten: Ein grüner Wirtschaftsminster, der in Qatar Erdgas einkaufen muss; ein Sozialdemokrat, der ein Aufrüstungsprojekt von dramatischer Dimension auf den Weg bringt und ein liberaler Finanzminister, der gewaltige Schulden macht, um immense Beträge auszuzahlen. 

Und als wäre der Schock des Krieges nicht heftig genug, er offenbart uns auch ein ganz anderes Bild von der Vergangenheit. Die Republik war in Gefahr, die Wehrhaftigkeit völlig unterentwickelt und der Blick auf die Welt naiv, vom Wunsch an das Gute verzerrt und was viele für postheroischen Realismus  hielten, war nichts als Ignoranz. 

Frankreich erging es kaum besser: das Versagen der Kernkraftwerke, der Flop in Mali und das Scheitern von Macrons Telefondiplomatie sind Indikatoren für   eine veränderte Rolle in der Welt. 

Heute fasst man sich an den Kopf, wenn man die immense Vorlaufzeit bedenkt, die dem russischen Aggressor zur Verfügung stand, der aus seinen Absichten auch nie einen Hehl machte. So ergab sich neben dem politischen und ökonomischen vor allem ein anthropologischer Schock, eine Erschütterung des Menschenbilds: Menschen handeln, das war der bundesrepublikanische Konsens, nach Interessen. Was sie dabei jeweils für Werte und Ideen haben, was ihnen wichtig ist und was  sie lesen, schreiben und denken war egal, denn am Ende werden immer die materiellen und finanziellen Interessen entscheiden. Aber man schloss von sich auf andere. Darum war alles, was universelle Werte anging, aber auch der Bereich der Kultur, der Kunst, der Literatur und der Geschichtswissenschaft zum folkloristischen Rahmenprogramm der  großen Geschäftswelt degradiert worden. Aber siehe da, Putin und seiner Clique waren das Geld, die Handelsbeziehungen und der Respekt der Anderen weniger wert als ihre Ideologie.   Darauf war aber niemand vorbereitet. 

Ich bin auch erschüttert über das Niveau der öffentlichen Debatten. So eine Nabelschau, so eine permanente Belehrung der Menschen aus anderen Ländern, so ein Mittelmaß. Gefangen in endlosen Selbstgesprächen mit verblichenen Generationen, ohne jede universelle Phantasie. 

Zum Glück ist das alles lange her und ein frisches neues Jahr schon in Sichtweite. Es lässt uns gar keine Wahl, als uns in allen wesentlichen Bereichen neu aufzustellen.

Ich bin mir noch nicht sicher, ob Annie Ernaux mit ihrer Rede vor der Entgegennahme des Literaturnobelpreises all die immensen Hoffnungen erfüllt hat, die ich in sie gesetzt hatte, aber bemerkenswert ist sie auf jeden Fall. Sie zeigt ganz schlicht auch, was derzeit in Deutschland fehlt: Eine relevante literarische Landschaft, die Politik, Publizistik und Zivilgesellschaft aufmerksam studiert wird. Ernaux kam noch mal auf ihren Lebensweg zu sprechen, auf die befreiende, also politische Dimension ihrer Literatur und bekräftigte so auf besondere Weise diese französische Grundüberzeugung, dass Schreiben und Leben sich wechselseitig verbessern: Wenn man es nicht aufschreibt, sagt sie,  ist es bloß erlebt und nicht vollendet. 

https://www.youtube.com/watch?v=BWSDD2ubDRs&t=1654s (Öffnet in neuem Fenster)

Adventszeit und Weihnachtsfest sind Rituale aus einer noch agrarisch geprägten Gesellschaft, wo es in den Wintermonaten darum ging, die oft als drückend empfundene Untätigkeit durch Handarbeit, Basteln, Backen und Kochen zu ersetzen. Daher die Schnitzfiguren, die Dekoration, die ganze kunsthandwerkliche Energie, die eben auch ein Beitrag zu seelischen Ausgeglichenheit ist. Im Juni würde kaum jemand gerne stundenlang in der Küche stehen, um ein Festtagsmenü zuzubereiten, aber nun ist das anders. Hier die Vorschläge des großen Ottolenghi: 

https://www.theguardian.com/food/2022/dec/03/west-african-spiced-chicken-curry-leaf-carrots-apple-salad-recipes-yotam-ottolenghi-alternative-christmas (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

PS: Suchen Sie noch ein Weihnachtsgeschenk? Meike Schnitzler von der Brigitte empfiehlt: 

PPS: Vor anderthalb Jahren begann ich diesen Newsletter, sein Wachstum und der Zuspruch zu diesem Projekt haben alle Erwartungen weit übertroffen. Damit ich die Zeit habe, mich darum zu kümmern, ohne Werbe- oder sonstige Partner bemühen zu müssen, besteht die Möglichkeit, hier etwas beizutragen 

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