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Du côté de chez Charles

Aktualität der Vergangenheit/Serie Douglas is cancelled/The Brutalist/Einaudi Summer Portraits/Nigel Slaters Alltagsbraten

Vor einiger Zeit besuchte ich Georg Stefan Troller zu Hause in Paris. Er wohnt unter dem Dach, besieht sich amüsiert die Gegenwart zu seinen Füßen und versucht vergeblich, seine Katze zu erziehen. Im Gespräch mit dem munteren Kollegen der Altersklasse Ü 100 verschieben sich die Jahrzehnte und er redet von Charles de Gaulle, als wohne der noch immer im Élysée-Palast auf dem anderen Ufer der Seine. Troller wollte ihm einmal eine Frage stellen, aber de Gaulle mochte keinen nahen Kontakt und schon gar keine Journalisten. Er scheuchte ihn mit seinen immens langen Armen einfach weg: “Mache er mir etwas Platz, Freund!” Zuvor, bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, hatte de Gaulle noch versucht, Adenauer und seinen Premierminister Pompidou herum zu dirigieren – wie so ein Marionettenspieler bemerkt Troller kichernd. De Gaulle sah sich eben als Präsident von ganz Europa.

Charles de Gaulle hat - darum denke ich an diesen Besuch - den Moment, an dem wir heute sind, kommen sehen. Amerika und Russland verbünden sich gegen Europa. Darum misstraute er der NATO, förderte die Frankophonie und setzte ganz auf Souveränität und Autonomie. Kern des von ihm ersonnenen, freien Europas war die deutsch-französische Freundschaft. Das Minimum an atomarer Abschreckung auf dem Kontinent, das nicht von Trump abhängig ist, verdanken wir ihm.

Lange Jahre schlummerte dieses Konzept in den Museen und Archiven des zwanzigsten Jahrhunderts. Verständlich: Wenn ein quicklebendiger Barack Obama im Weißen Haus amtiert, hat niemand Lust auf einen toten Franzosen in Uniform. Man kauft ja auch im Hochsommer keine Daunenjacke. Dennoch kommt der Winter und wir sind mittendrin.

De Gaulles Karriere ist, wie jene von Winston Churchill, geprägt von Katastrophen, völlig aussichtslosen Situationen und jeder Menge Flops. Oft hat er gelogen, dass sich die Balken biegen. Mehr über den Mann und seine Zeit, seine Medienstrategie hier:

https://wondery.com/shows/was-bisher-geschah/episode/15099-charles-de-gaulle-der-general-der-das-moderne-frankreich-schuf/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die meiste Zeit konnte de Gaulle nur bluffen. Wie Wolodymyr Selensky stand ihm im wesentlichen nur das Mittel der Rede zur Verfügung. Und er sprach wie ein Erwachsener für ein erwachsenes Publikum: Keine schönen Aussichten, keine Wohltaten in Sicht, sondern voll auf die Zwölf!

Heute ist es wieder Zeit dafür. Noch im Wahlkampf (die Älteren erinnern sich vielleicht an die Bundestagswahl 2025 vor einer Woche) wollte man sich damit übertrumpfen, welche Partei den Leuten mehr bringt und versicherte, alles werde smooth weiter gehen nach dem Motto: Permanente Gegenwart. Doch es ist Zeit für eine Neuberechnung der Route und eine ehrliche Analyse der Lage. Alle Chefinnen und Chefs freier Länder könnten schon bald auf dem Sessel im Oval Office sitzen und von Trump und Vance vorgeführt und dann Russland ausgeliefert werden. Heute kann man für das Team Trump/Vance sein oder für die offene Gesellschaft – beides zusammen geht nicht.

An einem Deal, an guten Argumenten oder Geld haben weder Putin noch Trump ein Interesse, ihnen geht es um totale Macht.

Man braucht ihnen gar nicht mehr zuzuhören. Nur rasche militärische und strategische Vorbereitung schützt uns und dafür wird man in ganz Europa Steuern erhöhen. Das private Vermögen vieler EuropäerInnen lässt so ein Opfer durchaus zu. Ich jedenfalls wäre froh, wenn mein Geld dazu dienen könnte, auch den Kindern ein Leben in Frieden zu sichern.

Möglich ist es: Im Rennen um den Covid-Impfstoff gab es das Projekt WarpSpeed und den gemeinsamen europäischen Fonds zur Bewältigung der Krise gab es auch. Nichts ist verloren.

Heute sind die Zeiten andere als beim alten General und was wir brauchen, ist nicht ein Mann allein. Aber wie wäre eine Ansprache für Europa in mehreren Stimmen, wenn beispielsweise Kommissionspräsidentin, Président, Kanzler, Präsident von Polen, die Könige von England, Spanien und Schweden sowie Nato-Chef und EZB-Präsidentin gemeinsam vor die Medien treten, jede und jeder ein Absatz? Neue Zeiten, neue Formate. Noch haben wir die Zeit. Aber nicht viel: Georg Stefan Troller soll das alles ja noch kommentieren können.

In der vorigen Woche war Hugh Bonneville noch der biedere Mr Brown in Paddington 3, heute sehen wir ihn per Arte-Mediathek in einer britischen Satire über Medien und den digitalen Wahnsinn. Es geht um einen anstößigen Tweet, aber der ist natürlich nur der Auslöser und nicht die Ursache seiner Probleme. Erstklassige Besetzung, perfektes Tempo und ziemlich komisch ist es auch!

https://www.arte.tv/de/videos/115971-001-A/douglas-is-cancelled-1-4/ (Öffnet in neuem Fenster)

In dieser Woche habe ich mir dann auch mal The Brutalist angesehen und es nicht bereut. Ich wäre sonst auch in der Pause verschwunden, life is short, aber ich blieb. Der Film hat mit dem, was derzeit in den Kinos zu sehen ist, nichts gemein, denn er ist dezidiert uncool und verlangt seinem Publikum ein echtes Engagement ab. Es ist emotionales Kino mit melodramatischen Elementen, in der Tradition von Fassbinder. Ein Teil des Films trägt den Titel meines modernen Lieblingsbuchs, The Enigma of Arrival von VS Naipaul. Der hatte diese Zeile wiederum von Giorgio de Chirico zitiert, der 1912 eines seiner Bilder so genannt hat.

Das Neue ist selten geworden in den Künsten und schon deswegen lohnt sich der Besuch. Einziger Störfaktor war der nachgemachte ungarische Akzent der Adrien Brody-Figur in der deutschen Synchronisation.

https://www.youtube.com/watch?v=-ci8Kd2Krpw (Öffnet in neuem Fenster)

Dieser Protagonist erinnerte mich an jemanden und bald fiel mir auch ein, an wen: Die Figur des Künstlers Laszlo in Serge Clercs Klassiker aus dem Jahr 1984 Die Nacht von Mocambo (Taschen Comics).

Nur zum Ende hin kamen zwei Szenen, die ich überflüssig fand. Es war, als würde ein Koch seinem Gericht nicht vertrauen und noch mal eine Portion Ketchup über alles gießen, sicher ist sicher.

Bei mir räumt Kino immer den Kopf auf – das gelingt The Brutalist ganz hervorragend und in dieser Woche war das kein Luxus.

Seit meinem Besuch bei Ludovico Einaudi in seiner Mailänder Wohnung vor fünf Jahren verfolge ich seine Arbeit besonders intensiv. Damals sprach er über seine künstlerischen Entscheidungen, über Risiken und institutionelle Unabhängigkeit. Das machte mir Mut für meinen eigenen Pläne zur Selbstständigkeit – dieser Newsletter ist ein Produkt des damaligen Gesprächs. Wie vielen Künstlern fällt es ihm schwer, in Worte zu fassen, was ihn umtreibt. In einer Pause machte ein Fotograf einige Bilder und weil das immer ein langweilig ist, öffnete Einaudi die Fenster seines Arbeitszimmers und spielte eines seiner Stücke, le onde. Dann dachte man, das ganze Viertel Brera würde die Schwerkraft überwinden und in den blauen Himmel schweben.

Nun hat er ein neues Album veröffentlicht. Ich brauchte eine Weile, um hinein zu finden, aber nun höre ich es pausenlos.

https://www.youtube.com/watch?v=ZQP_G0VTSPw&t=160s (Öffnet in neuem Fenster)

Mittlerweile erreichen mich viele Zuschriften zum Thema Sonntagsessen und Erinnerung. Manchmal schreiben auch Menschen, die mit dem Kochen wieder beginnen möchten. Niemand verbindet derzeit die Sphären der Erinnerung, der Stimmungen, des Alltags, der Küche und des Texts so virtuos wie Nigel Slater. Seinem Instagram-Account habe ich entnommen, dass er einen Teil des Februars in Japan verbracht hat. Hier ein aktuelles Rezept aus der Kategorie weekday roast – man spürt schon bei seiner Beschreibung den Londoner Feierabendverkehr, den kalten Regen und die Freude am heimischen Abendessen.

https://www.theguardian.com/food/2025/feb/24/roast-squash-bun-five-ingredient-pasta-nigel-slater-recipes-end-of-winter (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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