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Erste Signale

Verfallsdaten/Edition Paulskirche/Nigel Slater

Es gibt eine Person, die einmal dieses Land regieren wird. Sie weiß heute nichts davon, geht vielleicht noch zur Schule und schaut sich den Politikbetrieb auf TikTok an. Niemand kennt ihren Namen, aber dann wird es anders sein und die HeldInnen von heute und ihre Themen sind vergessen. Wie wird man sich dann an das frühe Frühjahr 2023 erinnern? 

Wenn man über Politik nachdenkt, neigt man zur gedanklichen Verlängerung des Bestehenden. Gesellschaften, der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat immer wieder darauf hingewiesen, fördern die Reproduktion: In der Geschichte der Menschheit ist es die Regel, dass Kinder in der Nähe ihres Geburtsorts bleiben und die Berufe der Eltern ergreifen. Zur Regel gibt es Ausnahmen und dieses Bild schließt auch nicht aus, dass es schon früh in der Menschheitsgeschichte gewaltige Migrationsströme gab. In solchen Kulturen reproduzierte sich eben der dauernde Umzug. 

Die Fantasie von der Beständigkeit ist vielleicht eine Reaktion auf die menschliche Erfahrung, dass der Wandel die einzige Konstante unseres Lebens  ist. Beim Betrachten von Fotos kann man feststellen, dass die Zeiten, in denen man sich selbst gleicht, eher kurz sind. Normal ist eine Vielfalt und Veränderung der Gestalt.  Aber unser Denken funktioniert anders, als sei die Gegenwart eine Ausnahme und bald schon werde es eine Rückkehr zu vertrauten Gefilden kommen. Ich erwische mich selbst dabei und erwarte beispielsweise, dass  es eines Tages im Bund wieder eine schwarzgelbe Koalition gibt und dann wieder eine rotgrüne, die die ablöst. Und wieder umgekehrt. 

In Wahrheit offenbart sich da ein Fehler im System: Die Vergangenheit fungiert als Default-Mode, als Muster, zu dem wir zurückstreben. An Schmerzen erinnert man sich ja bekanntlich nicht, daher empfinden wir die alte Zeit als gut, obwohl sie es gar nicht war. Zu viele Debatten der Gegenwart haben mit dem Drang zu tun, das Früher zu restaurieren und wie uralte Ponys auf einem Kinderbauernhof schnellstmöglich zum warmen Stall zurück zutraben. 

Darum sind Parteien, Medien und BürgerInnen immer so unvorbereitet. Dass der Überfall Russlands auf die Ukraine so ein großer Huch!-Moment war, sollte doch zu denken geben. Putin hatte das X-mal thematisiert, seit dem Minsker Abkommen war der russische Einmarsch dort eine reale Gefahr. Die Lehre  (auf LinkedIn würde man das learning schreiben)muss sein, Neues zu denken. Leider ist solch ein Ansatz nicht besonders attraktiv, denn die Branche der Zukunftsforscher ist eine eigene mediale Folklore. Und wer im Osten groß wurde, kann von Plänen erst recht nichts mehr hören. Sinnvoll ist es trotzdem. 

Es wäre doch schon viel gewonnen, wenn es eine politische Kommunikation, eine Strategie der Ampel gäbe. Die Ampel-Jahre, was werden die gewesen sein? Mehr noch: Höchste Zeit, in Schulklassen, Unikursen und sogar auf Festivals darauf aufmerksam zu machen, dass in einer freien Republik und offenen Gesellschaft immer wieder neue Leute gebraucht werden, um Politik zu machen oder das Gemeinwohl öffentlich zu gestalten. Dazu aufzurufen, sich in bestehenden oder neuen Parteien zu engagieren. 

Auch Institutionen sind dem Wandel unterworfen. Was ist es dem Deutschen Reich schlecht bekommen, am alten Modell feudaler Zersplitterung, an Zünften und Gilden festzuhalten, als England und Frankreich schon ganz andere Organisationsformen ausprobierten. Schon heute ist ein starker Nationalstaat wie Frankreich mit dem Management der Krisen überfordert. Macron kurvt solo durch Afrika, aber wäre es nicht besser, die Europäische Union würde sich überlegen, wie man mit den  Nachbarn südlich des Mittelsmeers Handel und Wandel strategisch  organisiert ? Im Moment ist da vor allem  eine rassistisch gefärbte Antizuwanderungspolitik, die schon viel zu viele Tote gefordert hat. 

Stattdessen wird der Diskursraum mit dem von Wutanfällen begleiteten Festhalten an Opas Auto, der Sprache von gestern und der Welt von früher zugestellt wie der Bürgersteig am Tag der Sperrmüllabholung. Diese Themen sind längst über ihr Verfallsdatum. Neue Ideen, neue Personen, neue Verfahren – all das ist längst da, man muss nur hinsehen wollen. 

Bismarck, Hindenburg, die Kaiser, Könige und Fürsten – unsere Städte sind voller Andenken an die Feinde von Demokratie und Freiheit. Die Personen, die schon lange vor unserer Zeit erkannt haben, dass die alte ständische Ordnung überwunden werden muss, sind hingegen vergessen. 

Eine neue Reihe von erschwinglichen und gut gemachten Taschenbüchern möchte das ändern. Ich darf diese Lektüre leider nur hier empfehlen, in meinem Newsletter, weil ich das Glück habe, zum Kreis der Herausgeber zu zählen. Das Projekt geht zurück auf eine Idee von Jörg Bong und als er mir vor vielen Jahren zum ersten Mal bei einem Spaziergang davon erzählte, schien mir die Realisierung zwar nicht unmöglich, aber sehr weit weg. Und nun war am vorigen Dienstag in der Frankfurter Paulskirche die festliche Präsentation (Öffnet in neuem Fenster)der Reihe – Elke Heidenreich und Marina Weisband waren da, es war ein Fest der Demokratie, der Geschichte und des Buches. 

Meine Beziehung zu Nigel Slater ist ambivalent. Manche Rezepte erscheinen mir, als habe er keine Zeit oder keinen Bock gehabt und einfach irgendwas zusammengeworfen. Was mich aber jedes Mal überzeugt, sind sein Stil und die Stimmung, die er vermittelt. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Jemand vom Kochen und vom Schreiben lebt, aber nie im Restaurant oder in einer Redaktion auftaucht, sondern immer zu Hause ist und auf Gäste wartet. Ich fühle mich mit seiner Sucht nach Notizbüchern und Handschrift verbunden und bewundere seine Kunst, so viel über englische Nachmittage zu schreiben, an denen kaum etwas passiert. Und dann gibt es auch Rezepte wie diese – einfach zum Jubeln!

https://www.theguardian.com/food/2023/feb/19/nigel-slaters-recipes-for-roast-chicken-with-herbs-grilled-red-chicory-with-blood-oranges (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

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