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Die Saison für politische Phantasie

Selenskyj/Stuckrad/Obama/Japan-Huhn

In den letzten Tagen flog der ukrainische Präsident durch die Welt, wie ein Superstar der internationalen Politik. Der Krieg ist noch nicht gewonnen, er bekommt Waffen und Geld in einem Ausmaß, das vor einem Jahr unvorstellbar war. Nun ist auch von Kampfflugzeugen die Rede, modernen F16-Jets – also genau dem Zeug, dessen Lieferung noch vor einem Jahr sicher ausgeschlossen wurde. Doch nachdem man der Ukraine Panzer bewilligt hat, war mir zumindest völlig klar, dass sie auch eine Luftwaffe erhalten werden, wie jeder andere souveräne Staat der Welt auch.

PolitikerInnen aller Couleur möchten ein Foto mit Selenskyj und völlig zurecht: Er hat der Welt bewiesen, was Politik vermag – und nur Politik. Wirtschaft, Medien oder Zivilgesellschaft hätten in der Stunde des russischen Überfalls ohne politische Führung, ohne Koordination, Kommunikation und die richtige Symbolik nur wenig ausrichten können. Das nächtliche Video (Öffnet in neuem Fenster), in dem Präsident, Premierminister und Minister ihre Anwesenheit in Kiew dokumentieren, we are all here, ist dafür das historische Dokument. Dieser politische Überlebenswille hat das damals spärlich ausgestattete Militär motiviert und die Ukraine und letztlich Europa gerettet. 

Dieses Jahr ist eine einzige Lektion in Selbstüberraschungen gewesen: An einem Tag im Winter überwies ich, der nie einen einzigen Tag Uniform trug, eine größere Summe, damit sich die Ukraine Abwehrdrohnen kaufen kann. Die Zeitenwende verschiebt die Grenzen unserer politischen Vorstellungskraft oder besser: zentriert sie neu.  

Neue Ambitionen blühen auf: Man sieht ja, dass fossile Energie und autoritäre Systeme harmonieren, also ist der Umstieg auf Erneuerbare ein Gebot der politischen Vernunft. Es ist gut dokumentiert, wie Russland die sozialen Medien nutzte, um eigentlich überall im Westen die öffentliche Meinung zu beeinflussen und das Klima zu vergiften: Darum gehören diese Plattformen effektiv reguliert oder besser, man schafft gleich öffentlich-rechtliche Angebote, europaweit, für soziale Netzwerke, die diese Bezeichnung auch verdienen. Eine unsoziale Gesellschaft, in der Vermögen ungleich verteilt ist und die Oligarchen herrschen, ist instabil und neigt dazu, von inneren Spannungen mit Angriffskriegen abzulenken: Darum ist es an der Zeit, für mehr Vermögensgerechtigkeit zu sorgen.

Diese Themen gehören zu den Ursachen des russischen Überfalls. Eine weitere ist der Nationalismus. Trotzdem halten es begnadete PolitikerInnen in ganz Europa immer noch für eine gute Idee, das eigene Miniland gegen das nächste Miniland abzugrenzen, wie im Marx Brothers Klassiker Duck Soup, als Freedonia gegen Sylvana zu punkten suchte. Dreiviertel der professionellen politischen Mühen Europas werden darauf verwendet, Menschen abzuhalten, hierherzukommen oder diejenigen, die sich auf den Weg gemacht haben, schlecht zu behandeln. Es ist längst Zeit für Partnerschaften rund um das Mittelmeer mit legalen Möglichkeiten, hier oder dort zu arbeiten. Noch eine weitere Lektion hielt dieses Jahr bereit: Die Unterstützung für Putin ist lauwarmer als gedacht. Eigentlich sind nur noch wenige deutsche Persönlichkeiten, die üblichen Verdächtigen, so richtig mit Herzblut auf seiner Seite. Der berühmte globale Süden bleibt abwartend, keine internationalen Brigaden für Bakhmut.

Man sollte also, statt immer zwanghaft auf Identität zu schauen, der Idee von der universellen Anziehungskraft der offenen Gesellschaft, von Menschen- und Bürgerrechten, die einfach überall gelten, noch mal eine Chance geben.

Manchmal kann ein Buch überall ausliegen, überall besprochen werden und doch eine apokryphe Existenz führen. Das ist die Gefahr bei Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Noch wach? Es geriet mitten hinein in die x-te Staffel der inneren Kämpfe des Springerverlags und die Ausläufer der #metoo-Bewegung und nutzte diese Konjunktur verständlicherweise in der Werbung. Aber zu beiden Komplexen hat das Buch nur bedingt etwas zu sagen und sorgte daher für Enttäuschung. Seine Bedeutung liegt woanders.

Der heute nahezu vergessene Marcel Reich-Ranicki hatte einen kleinen Trick auf Lager: Wenn man ihm referierte, worum es in einem Roman geht – perfekte Darstellung des amerikanischen Vorstadtlebens der sechziger Jahre z.B. - dann wartete er ab und erklärte, das würde ihn null interessieren. Die Gedanken, Gefühle, Leidenschaften und Schicksale in den Personen, die John Updike beschreibt, die hingegen bewegten ihn. So ging es mir bei Noch wach? Die Beschreibung einer endenden Freundschaft, die Beziehungen innerhalb einer Selbsthilfegruppe und vor allem die Geschichten aus einem Hotel in Hollywood – mittendrin und doch Provinz wie das Saarland – die sind Stuckrad besonders gelungen, bewegend und inspirierend. Meine Branche betreffend erfasst er sehr gut diese nervtötende, diskursive Mischung aus Zukunftsobsession und Mittelmäßigkeit. In diesem Roman ist alles Präzision und urbane Gegenwart. Auch wenn einem Döpfner, Reichelt und all das völlig wurscht sind, ist dieser Roman eine Bereicherung. Seit Soloalbum ist Stuckrad ein Chronist unserer Gewohnheiten, Manierismen und unserer Sprache. Und ebensolang schon regen sich alle darüber auf, dass so einer so irre viel Aufmerksamkeit bekommt. Aber das Buch gibt es her. Für mich ist er unser Houellebecq, nur besser gelaunt.

Die Idee ist denkbar einfach: In den Fußstapfen des großen Studs Terkel - dem legendären praktischen Soziologen und Radiojournalisten aus Chicago - erkundet Barack Obama die Arbeitswelt von heute. Er trifft Menschen aus den verschiedensten Branchen, fragt nach Mühen und Freuden, Kontinuitäten und Diskontinuitäten und stellt uns vor, wie es ist, war und werden wird. In seiner einzigartigen Mischung aus Neugier und Haltung analysiert und warnt er, ohne je in Alarmismus zu verfallen. Es ist eine simple Idee, ein nahe liegendes Thema, das alle beschäftigt und ergibt doch etwas völlig Neues!

https://www.netflix.com/watch/81261207?trackId=254015180 (Öffnet in neuem Fenster)

Kulinarisch ergeben sich für mich immer wieder Gewissensfragen: Ich weiß, dass die Herstellung von foie gras, der klassischen französischen Gänseleberpastete mit meiner Vorstellung von Tierwohl nicht vereinbar ist, zugleich ist meine Begeisterung dafür und die emotionale Bedeutung dieses Festtagsgerichts weit älter als meine Fähigkeit, klar zu denken. Ich vermute, dass es religiösen Menschen ähnlich geht, wenn sie gefragt werden, ob sie davon überzeugt sind, dass das, was in der Bibel steht auch stimmt? Man weiß genau, wie es sich rational verhält, aber Vernunft ist eben nicht alles im Leben. Weiterer Selbstwiderspruch: Ich bin ein Befürworter von Universalismus und ein Kosmopolit, zugleich aber von der Überlegenheit der französischen Küche unbeirrbar überzeugt und wenn ich etwas anderes trinken muss als Wein rund um Bordeaux, finde ich das kompliziert. Wenn mein Freund Jean-Luc Bannalec/Jörg Bong mir von den Weinen der Bretagne vorschwärmt, muss ich erst staunen, dann lachen. Aber der Weg ist das Ziel und ich gebe mir Mühe. Heute also ein japanisches Huhn-Gericht, das in der Schlichtheit der Ingredienzen ein Versprechen birgt: Dieser Klassiker soll allen in der Familie schmecken.

https://www.nytimes.com/2023/05/03/magazine/chicken-egg-rice-bowl-recipe.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Wenn Sie den siebten Tag gerne lesen und das Geld dafür investieren können und möchten, dann hier entlang:

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