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Bin grad im Zug, verstehen Sie mich?

Geheimnisschutz im ICE/Buch Grand-Papa/Film La Vérité/ Rezepte

Sein Laptopbildschirm zeigt das Anmeldefenster einer Bundesbehörde. Sein Name steht dort zu lesen. Ich sitze schräg dahinter, perfekte Sicht. Dann erreicht er seinen Gesprächspartner. Und nun erörtert der Mann vor mir diverse Projekte, äussert seine Skepsis und macht sehr viele Witze. Eine tour d’ horizon nennt man solche Gespräche, die keinen engeren Zweck verfolgen. Der Kollege, mit dem er spricht hat ihm manches mitzuteilen, was mein Reisegenosse artig wiederholt, damit alle etwas davon haben. Es ging um die Erfahrungen mit Toll Collect und um Tricks und Tipps in behördeninternen Abläufen. Die Würze solcher Gespräche sind die kleinen Bosheiten über die lieben Kollegen und auch an denen fehlt es nicht. Ich erfahre das alles also auch und neben mir, zufällig getroffen, ein Freund, der beim Spiegel arbeitet.

Alle, die oft im Zug unterwegs sind, kennen solche Geschichten von verratenen Geheimnissen im Großraumwagen. Ich habe schon mal mitgelauscht, wie eine Frau auf dem Weg zu ihrem Freund war, den sie der Untreue verdächtigte. Sie wollte bei Nachbarn klingeln und ihn in flagranti erwischen. Und das erzählte sie einer Freundin. Der ganze volle Wagen fieberte mit. Mehrfach hätte ich, als ich noch nach Frankfurt pendelte, Aktien von Firmen shorten können, deren Banksachbearbeiter neben mir saß und am Telefon arg schlechte Nachrichten zu verkünden hatte.

Es ist schon bemerkenswert, mit welcher naiven Seele die Menschen hierzulande unterwegs sind. In Frankreich ist es ein großes Tabu, in der Öffentlichkeit zu telefonieren. In jedem Zug kommt die Durchsage, Gespräche nur zwischen den Abteilen zu führen, um niemanden zu stören. und der meistgesprochene Satz französischer Telefongespräche ist sicher: Nicht am Telefon!

Aber die Sorglosigkeit höherer Bundesbeamter ist nur ein Aspekt veränderten Kommunikationsverhaltens. Das tiefer liegende Problem ist das Verschwinden der Grenze zwischen privat und öffentlich. Für die Generation meiner Großeltern war es noch ein bedenkenswerter Akt, vor die Tür zu treten. Was habe ich da an, wie benehme ich mich, wie falle ich nicht oder eben nur angenehm auf? Das war anstrengend, aber heute hat die Privatsphäre die Öffentliche kolonisiert. Vielen fällt es erkennbar schwer, sich in einer Gruppe mit fremden Personen zu bewegen, etwa in einem Bahnhof oder einer Messehalle. Zwei Personen wollen eilig durch eine Tür, aber die Gabe der Sprache versagt im öffentlichen Raum: Statt einen Fremden anzusprechen – Lassen Sie mich freundlicherweise durch? – wird gedrückt und gefuchtelt, den Blick dabei stets zu Boden gerichtet. Für viele ist jeder noch so öffentliche Ort perfekt, um in Kuschelklamotten die Lieblingsserie zu schauen. Ganz egal ob eine halbe Großstadt um sie herum will. Sofa ist überall.

Dabei ist es mir ganz gleich, wie jemand angezogen ist – ich weiß oft genug selbst nicht, was ich gerade anhabe ohne hinzuschauen. Aber irgend eine kulturelle Grenze zwischen draußen und drinnen, vor allem einen Begriff dafür dass das, was draußen passiert, auch mich angeht, ist für eine demokratisch verfasste Republik lebenswichtig. Sagte sinngemäß schon Sokrates: Du freust Dich, Bürger Athens, einer Republik, zu sein, kümmerst dich aber mehr um deine Privatangelegenheiten als um die öffentliche Sache?

Es wäre schon ein Anfang, darauf zu achten, was man wo so von sich gibt. Natürlich soll der Reisende, der frühmorgens mit seiner leicht dementen Mutter telefonieren möchte, keine Sorge vor Geheimnisschutz und mithörenden Freunden des Kreml haben. Aber ein Jurist einer Bundesbehörde?

Hier kann ich manche Spielregeln der feuilletonistischen Publizistik einfach vergessen. Ich kann gute Bücher von guten Freundinnen und Freunden empfehlen oder auch solche, die schon etwas länger auf dem Markt sind.

Und ich kann sogar auf ein Memoir hinweisen, auf dessen Buchrücken ein lobendes Zitat von mir steht. Der Verlag hat mich darum gebeten, die Autorin kenne ich persönlich nicht.

Das Buch erinnert an die Geschichte der Menschen im Elsass im Zweiten Weltkrieg, über die man sowohl in Deutschland als auch in Frankreich viel zu wenig weiß. Das Elsass ist eine der Herzkammern Europas und es ist höchste Zeit, dass das einmalige Schicksal der Region und der Familien eine zeitgemäße Betrachtung erfährt. Hier geschieht es in einem präzisen, schonungslosen Stil, in dem die bewegende Phänomenologie einer komplizierten und daher ganz normalen Familie beschrieben wird. Ein Buch, das noch lange beschäftigt.

https://www.amazon.de/Grand-papa-Roman-Natalie-Buchholz/dp/3328602178 (Öffnet in neuem Fenster)

Das französische Kino ist ein Wunder der Überlebenskunst. In ganz Europa ist die Kino-und Filmbranche mehr oder weniger untergegangen und lebt allenfalls noch in einer Nische, wie Vinylplatten. In Frankreich aber hat der Staat diesen Sektor klug geschützt. Es gibt nicht nur herausragende Kunstwerke, sondern auch Filme für Millionen. Die durchschnittliche Familie geht mindestens einmal in der Woche ins Kino. Dabei ist es eine kleine und übersichtliche Branche, eigentlich eine Familienangelegenheit. Und wie in allen Großfamilien gibt es Geheimnisse, Feindschaften und Liebesgeschichten. Davon handelt der wunderbar introspektive, humorvolle und selbstkritische Film La Vérité, eben bei Arte eingestellt. In Frankreich war es schon Showdown genug, dass Deneuve und Binoche erstmals gemeinsam vor der Kamera stehen. Man kann auch manches lernen: Eine Diva bekommt nie den für sie passenden Tee.

https://www.arte.tv/de/videos/118573-000-A/la-verite-leben-und-luegen-lassen/ (Öffnet in neuem Fenster)

Zur Rentrée, da sind sich alle französischen Medien einig, braucht man etwas Ordentliches zu Essen. Zu lange sollte die Zubereitung freilich auch nicht dauern - es geht ja alles wieder los und niemand hat mehr Zeit bis Weihnachten. Ich fand auf Insta dieses sympathische und schnelle Rezept.

https://somethingnutritiousblog.com/honey-dijon-chicken/?mcp_token=eyJwaWQiOjEwNjA2NzQsInNpZCI6MTM2MTEyMTM5NywiYXgiOiJmMDllMmRjY2JlZWU2YWU5NDU5ZWMxZGVhMzE1N2U1YyIsInRzIjoxNzI3MzcxMjY5LCJleHAiOjE3Mjk3OTA0Njl9.m5kbJFjFZBfLogGOPiHms0maXdVHlYeLXaLLMPVsjBY (Öffnet in neuem Fenster)

Aber es ging in dieser Saison in Frankreich kulinarisch-medial auch weit ernster zur Sache. Im landesweiten Kochwettbewerb auf M6 hat eine Köchin namens Peggy Berthiot das Rezept für Poulet Gaston Gérard modifiziert und statt Weißwein Bier verwendet. Da war was los. Der Weinabsatz sinkt, es ist ein Drama. Wenn er nun auch noch bei traditionellen Rezepten durch die Erzeugnisse von Mikrobrauereien verdrängt wird, dann bonne nuit. Wegen des dummen europäischen Geoblockings kann ich nicht zur Seite des Senders verlinken, Umweg über Facebook.

https://fb.watch/uRkUU30hWg/ (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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