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Im Nebel der Gegenwart

Der Blindflug/Glückstank, bitte vollmachen/Fauda S4/Spitzenhuhn vom Spitzenkoch

In der Nähe meiner Heimatstadt Saarbrücken liegt ein beschaulicher Hügel, die Spicherer Höhe. Es ist der Schauplatz der ersten blutigen Massenschlacht der Moderne, im August 1871 und ein Erinnerungsort der deutsch-französischen Kriege. Man kann dort noch eine Tafel lesen, die Frankreich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs anbringen ließ, und die das Ende von Krieg als Mittel der Politik verhieß. In jenen Jahren wurde auch der Arc der Triomphe in Paris umgewidmet. Soldaten sollten nie wieder hindurch marschieren, ob siegreich oder nicht: Man funktionierte das Ding zum Grab für den unbekannten Soldaten um, Durchmarsch verboten. Frankreich und das Deutsche Reich zogen also - jedenfalls die mächtigen Kreise in beiden Ländern - aus der Kriegserfahrung von 14-18  entgegensetzte Schlüsse. Frankreich sagte Nie wieder, vernachlässigte die Rüstung und stärkte die Verteidigungsfähigkeit an der Maginot-Linie und in den deutschen Machteliten sann man auf Rache. Warum sah man in Paris nicht, was sich jenseits des Rheins zusammen braute? Weil man es nicht sehen wollte? Weil es außerhalb menschlicher Vorstellungskraft lag, anzunehmen, dass wieder jemand einen Weltkrieg anzetteln möchte? Weil man annahm, dass die guten Gründe die schlechten Impulse immer übertrumpfen, wenn die Akteure nur vernünftig abwägen? Oder weil man sich besser damit fühlt, von anderen das Gute zu erwarten.

Es sind die selben Fragen, die sich uns im Bezug auf die Ukraine stellen. In Le Monde war ein lesenswertes Porträt der berühmten Historikerin Hélène Carrère d'Encausse (Öffnet in neuem Fenster), die als die führende Russlandexpertin des Landes galt, eine intellektuelle Autorität und secrétaire perpétuel (sie bevorzugt die männliche Form des Titels) der Académie Française. Sie, so gibt sie in dem Stück zu, hat den Einmarsch Russlands in die Ukraine noch am Morgen des Kriegsausbruchs für unmöglich gehalten. Und seitdem bewegt sie sich "im Nebel". Da ist sie immerhin in bester Gesellschaft, dürfte viele Deutsche treffen. Hier stellen sich die Fragen genauso: Warum haben zu wenige gesehen, dass das viele Geld, das Russland für den Verkauf seiner Energie bekam, nicht in den Aufbau einer pluralen und offenen Zivilgesellschaft ging? Deutschland machte Putin zu einem der reichsten Männer der Welt, warum sah kaum jemand hin, was er damit anstellt? Warum  verbuchte man die seit Jahren schriller werdenden Monologe des russischen Präsidenten unter bizarrer Folklore, der schon keine Taten folgen werden ? Ein wichtiger Begriff das Interesse: Weil Putin und seine Clique so wenig Interesse daran haben müssten, einen Krieg vom Zaun zu brechen, werden sie es schon nicht tun. So war das Menschenbild bis vor einem Jahr. Was antworten wir denen, die uns eines Tages fragen werden, wie wir so blind sein konnten? 

Mehr Sport, weniger trinken und auf dies und das Verzichten - die meisten guten Vorsätze zum Jahresbeginn haben etwas von religiösen Exerzitien zur Reinigung der Seele und sind mir einigermaßen fremd. Es ist ebenso möglich, die Sorge um sich als aktives Bemühen um Glück und Zufriedenheit zu begreifen, etwa in der Pflege von Freundschaften. Nicht zu vergessen, um es in der anschaulichen Sprache von Walter Kohl zu sagen, den "Glückstank" regelmäßig zu füllen. Daran erinnert dieser schöne Artikel aus dem Atlantic

https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/01/harvard-happiness-study-relationships/672753/ (Öffnet in neuem Fenster)

Der junge Mann, den wir zunächst als verängstigten und unsicheren Charakter kennenlernen, entwickelt sich zu einem üblen Verräter. Was stellt er nicht alles an: Er lügt, trickst, plant und dann bedroht, schlägt und foltert er eine der sympathischsten Figuren der Serie. Es sind schwer auszuhaltende Szenen. Das Geniale an der vierten Staffel der israelischen Serie Fauda ist, dass die Geschichte sich dann weiter entwickelt. Es dauert nicht lange, und genau dieser Täter tut uns leid. Er wird in seiner Verwundbarkeit und Humanität sichtbar, zappelt selbst in diesem höllisch komplizierten Theater der Gewalt, zu dem die Situation im Nahen Osten verkommen ist. Wir sehen israelische Agenten, die aus persönlichem Frust und Nervenschwäche die Kinder von anderen in Lebensgefahr bringen und Palästinenserinnen, die ihr Leben für Israel riskieren. Es ist eine atemberaubende Geschichte, über die man lange nachdenkt und derzeit die beste künstlerische Reflexion unserer politischen Gegenwart. 

https://www.netflix.com/watch/81589995?trackId=14170286 (Öffnet in neuem Fenster)

Auf dieses inspirierende Video wäre ich gar nicht selbst gekommen, ein Leser hat es mir empfohlen -vielen Dank. Besonders interessant finde ich die Massage des Huhns und die Füllung, 

https://www.youtube.com/watch?v=R9Q-WpxxATs (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Nun startet auch die Saison der Lesungen wieder, ich lese/erzähle am 7. Februar in Marbach, am 13. Februar in Paderborn und am 1. März in Lüneburg, die Details gibt es hier (Öffnet in neuem Fenster). Falls Sie auch etwas vereinbaren möchten, schreiben Sie bitte an Frau Seydler im Verlag S.Fischer. 

PPS: Neulich erreichte mich ein Briefumschlag ohne Absender, adressiert war er an die Steady-Zentrale, die diesen Newsletter vertreibt. Enthalten waren einige 5-Euro-Scheine, sonst nichts. Danke also auf diesem Weg. Wer noch nicht unterstützt und es gerne möchte, kann hier 

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