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Decision Days

Bundesbremsegesetz/Duette und Duelle/Was ist los in Frankreich?/Was ist Weisheit?

In der kommenden Woche soll das Notbremsegesetz kommen, ein historisches Datum: Die Bundesrepublik wurde im Geiste der Nachkriegszeit konzipiert, um zu verhindern, dass in Deutschland je wieder eine Zentralmacht entsteht, die totalitär entarten könnte. Daher sind Bund und Länder, Kreise und Kommunen, Parlamente und Ministerien, Gerichte und Regierungen auf das komplizierteste verquickt und verstrickt wie ein von Jorge Luis Borges ersonnenes Spinnennetz aus Gebrauchsanleitungen. Durchregieren unmöglich. Menschen regeln immer die Probleme, die sie gerade so überlebt haben, 1949 wollte man 1933 verhindern – dass ein in China grassierendes Virus zum deutschen Problem werden könnte, war unvorstellbar, also fehlen die politischen Instrumente zur sanitären Gefahrenabwehr. Hinzu kamen all die Jahre, in denen der Staat als Problem und identifiziert wurde, in denen Katastrophenschutz, Gesundheitsämter und solche Institutionen der Infrastruktur als Kostenfaktor betrachtet und kleinrationalisiert wurden. Nun muss hektisch zurückgerudert werden, wie eine Comicfigur im Ruderboot kurz vor den Niagarafällen.

In den Monaten vor der Bundestagswahl 1998 arbeitete mein damaliger Chef  Roger Willemsen (Öffnet in neuem Fenster) an einer Dokumentation über Gerhard Schröder. Es war schon absehbar, dass er gewinnen würde. Ich begleitete Roger zu einigen Terminen, in denen wir Oskar Lafontaine und Schröder zusammen beobachten konnten. Das war noch die Phase, in der zwischen die beiden „kein Blatt Papier passte“ ­– offiziell jedenfalls. Was aber deutlich zu sehen war: Bei jeder Wortmeldung von Schröder wurde Oskar unruhig, checkte die Unterlagen, scannte das Publikum, suchte Kontrolle. Offenbar war ihm nicht ganz wohl dabei, den Mann, der sein Kandidat war, unkuratiert los reden zu lassen. Für Oskar, so mein Eindruck, war Schröder der perfekte Frontmann, der attraktive Sänger einer um kommerziellen Erfolg bemühten Band. Er aber, der legendäre Lafontaine, war Komponist, Produzent und Ein-Mann Orchester. SaarländerInnen kennen das Muster: der Produzent Frank Farian aus Kirn ersann einst das Konzept der Gruppe „Boney M“, schreib deren Songs und sag sogar manche Passagen selbst, auf der Bühne aber stand der Sänger Bobby Farell. Das ging immerhin eine ganze Weile gut. Ich habe sogar noch ein Autogramm.

Der Rest ist bekannt: Zwischen Gerd und Oskar ging es sehr schnell sehr schief.  Das kostete die SPD das Kanzleramt, die Partei spaltete sich und ist nun so weit in Richtung Boden getaumelt, dass ein erneuter Aufstieg an ein Wunder Grenzen würde. Heute spazieren beide Parteien, immer noch von Argwohn und Ressentiment gegenüber der anderen durchsetzt, auf parallelen Wegen in Richtung des selben Ziels, der politischen Irrelevanz.

Warum geht es so oft schief, wenn Politiker zusammenarbeiten sollen? Warum möchte man es schon gar nicht mehr hören, wenn beschworen wird, wie eng das Paar auch in Zukunft alles abstimmen möchte, dass jegliche Rivalität gebannt sei? Warum ist es dermaßen wichtig, Erster zu sein, wo klar ist, dass einer allein nichts vermag.

In diesen Wochen beobachten wir 2 Paare in der Bundespolitik einmal Armin Laschet und Markus Söder und dann bei den Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck und während erstere dabei sind, sich miteinander und dann ihre politische Familie in den politischen Abgrund zu ziehen, weil keiner loslassen möchte, werden die beiden Grünen um so genauer beobachtet werden.

Es ist, als wäre politische Berichterstattung eine ARD-Naturdokumentation, in der die Hirsche um die Vorherrschaft eines Reviers kämpfen und die Zuschauer hören nur noch wie die Geweihe aufeinander klacken. Doch Politik ist kein Tierfilm. Die Art von Ämtern, um die es da geht, sind permanente, komplexe Konzerte, Interpretationen, bei denen es auf Ausgleich, Moderation und Inspiration ankommt. Bei einem Konzertabend ist es auch nicht optimal, wenn der Dirigent und der Solist sich anmeckern und fetzen.

Das triviale Schauspiel von Söder und Laschet ist um so entmutigender, als alle Erwachsenen heutzutage, in ihrer Rolle als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, im Verein, in der Nachbarschaft und erst recht als Eltern dauernd dazu aufgerufen sind, sich zu einigen und zu kooperieren. Warum soll ausgerechnet Politik nach anderen Regeln besser funktionieren?

Übrigens waren große europäische Figuren wie Helmut Kohl und François Mitterrand Meister in der Konzeption und Pflege langfristiger Kooperationen, auch mit Konkurrenten und Rivalen. Mitterrand schlug sich mit den Kommunisten herum, konnte aber auch mit Figuren der Rechten. Kohl wiederum ertrug während seiner gesamten Laufbahn die Nähe zu Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher, die ihm beide ehrlich wenig, sich selbst aber umso mehr zutrauen. Und Kohl wusste es ganz genau. Aber das seltsame Trio hielt, wie auch Brandt Wehner Schmidt. Und alle hätten jederzeit gute Gründe gehabt, die anderen zum Teufel zu wünschen.

In Frankreich wird das Thema auf eine ganz spezifische Art interessant. Dort regiert Emmanuel Macron ohne innerparteiliche Rivalen, aber auch nur, weil er seine Partei ja selbst gegründet hat. Die anderen Lager scheinen wie von einem Fluch befallen: Sie zerfallen bei Tageslicht. Kaum ist ein Kandidat des linken Lagers unterwegs, trifft er schon auf zwei andere. Aktuell tummeln sich dort, grober Überschlag, der ewige Jean-Luc Mélenchon, der einstige Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo, der einstige Kandidat der Sozialisten Hamon, der einstige Premierminister Bernard Cazeneuve, der einstige Premierminister Manuel Valls sowie der Grüne Yannick Jadot. Die murmeln alle „Élysée…“ wenn sie die Augen schließen und sich etwas wünschen dürfen. Ein Treffen ist anberaumt, um sich zu einigen, aber die Chancen stehen nicht so gut.

Auch bei den Erben der Gaullisten tut sich einiges, aber, machen wir es kurz, niemand hat hier oder dort das Format, Macron gefährlich zu werden. Alle Abgehängten, Unzufriedenen und leider die jüngeren Protestwähler sammeln sich bei Marine Le Pen, deren Wahlkampf aus Nichtstun besteht, die Leute kommen auch so zu ihr.  So weit, so bedrückend. Das alles aber ändert sich dieser Tage. Völlig unerwartet erscheint ein ganz anderes politisches Flugobjekt im Luftraum über dem Élyséepalast, der ehemalige Premierminister Edouard Philippe, heute Bürgermeister in Le Havre. 

Sein Aufstieg ist nicht politisch, sondern kulturell befördert. Mit seinem besten Freund Gilles Boyer hat er ein Buch über seine Zeit als Regierungschef geschrieben, „Impressions et lignes claires“ lautet der Titel, Eindrücke und Grundsätze. Es ist eine Mischung aus Anekdoten, Reflexionen und Vorschlägen, die wie ein gutes Gespräch unter Freunden daher plätschern. Es überrascht weniger durch konkrete Vorschläge als vielmehr durch den Ton, den freien Geist, den das Buch atmet. Die beiden schreiben über Politik, wie ganz normale Leute darüber reden: Mit etwas Humor, viel Skepsis, aber eben auch einer präzisen Kritik der herrschenden Verhältnisse. Das Buch ist ein immenser Verkaufserfolg geworden. In nur einer Woche wurden über 12.000 Exemplare verkauft. Philippe ist außerdem Akteur in einer Langzeitdokumentation "Mon pote de droite" (Öffnet in neuem Fenster) des Filmemachers Laurent Cibien. 

Die beiden sind Schulfreunde, Cibien eher ein Linker, hat vor Jahren damit begonnen, die politische Laufbahn seines Kameraden vom konservativen Lager zu begleiten. Es ist ein spannender, auch charmanter Film, in dem viel gelacht wird. Da war natürlich noch nicht abzusehen, dass der einmal die Regierung führen wird. In diesen Wochen wird nun der dritte Teil erwartet, in dem Philippe als Premierminister amtiert. Der Grund seines Erfolgs ist kulturell: Er verzichtet darauf, sein Publikum mit großen Reden einzulullen, sondern pflegt eine geradezu Merkelsche Zurückhaltung. Eine Wohltat in der französischen Politik, die oft genug in einen Wettbewerb im Loslabern ausartet, niemand erträgt es mehr.

Nun gibt es bei Philippes politischer Karriere gegenwärtig einen gravierenden Hinderungsgrund: Es ist schlicht kein Platz mehr frei. Der Amtsinhaber ist jemand, dem Philippe seine Loyalität zugesagt hat. Hatte Macron freilich auch, bevor er seinen einstigen Chef François Hollande politisch überholte und ihm im Amt nachfolgte.

Was  ist Weisheit?

 Ich bin selten einverstanden mit David Brooks, aber da er hier gleich zu Beginn Michel de Montaigne zitiert, bin ich geneigt, ihm zuzustimmen:

https://www.nytimes.com/2021/04/15/opinion/wisdom-attention-listening.html (Öffnet in neuem Fenster)

PS

Vor vielen Jahren hielt ich an der Universität Konstanz ein kleines Seminar über Medienjournalismus, es war sehr inspirierend. Einer der Teilnehmer kam zu spät, war sehr schüchtern, schrieb aber spontan die besten Texte. Das war Sebastian Esser, der heute diese Plattform steady betreibt. Er wies mich drauf hin, darauf hinzuweisen, dass man hier auch finanziell unterstützen darf - also keine falsche Zurückhlatung, werden sie förderndes Mitglied (Öffnet in neuem Fenster)!

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