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"Wo isch die Kassette?"

Das soziokulturelle Projekt "Projektion Peter und Paul" in Gauselfingen - Wochenende I

Ein Team aus zwei Musikern, einem Architekten und einer Dramaturgin fährt viele Kilometer, um sich mit dem Ort Gauselfingen zu beschäftigen. Wohin? Gauselfingen: Ein 1000-Seelen-Dorf auf der schwäbischen Alb mit einem merkwürdig opulenten Kirchengebäude aus den 60er Jahren. "Wo?" fragt auch unser jüngster Besucher, den wir schnell in unser Herz schließen, wegen seiner Neugier und weil er diesen schwäbischen Akzent hat, der bei Kindern einfach nur putzig ist. "Wo isch die Kassette?" fragt er und ich erkläre ihm bereitwillig meinen kleinen Kassettenrecorder, den ich mitgebracht habe, um herauszufinden, wie Gauselfingen klingt und wie diese Kirche klingt.

Ziel dieses ersten Wochenendes ist nämlich, erst einmal in Berührung zu kommen. Mit dem Ort und seinen Menschen, mit der Kirchengemeinde und speziell mit dem Kirchenraum St. Peter und Paul, der zur Projektionsfläche werden soll - ganz gegenständlich aber auch im übertragenen Sinne. Uns interessiert die Sinnfrage, die man an ein solches Kirchengebäude stellen kann, dessen Ausmaß mit der wohlhabenden Textilindustrie des 20. Jahrhunderts zu tun hat, aber nicht mehr viel mit der zahlenmäßig schwindenden Gemeinde. Uns interessieren aber auch die Freiräume, die daraus entstehen, weil es eben noch die Infrastruktur gibt um so ein Kirchengebäude. Wir treffen auf engagierte Gauselfinger, die uns bereitwillig aufschließen, Dinge besorgen, Pakete entgegennehmen, etwas über den Ort und die Kirche erzählen und auch ihr Herz öffnen.

Als hörbares Zeichen unserer Anwesenheit hat mein Musikerkollege Lukas Schäfer eine Klanginstallation vorbereitet, die im Kirchturm für die Dauer des Wochenendes das gewohnte Glockenläuten ersetzt. Er informierte sich dazu vorab über die fünf Glocken und ihre Beschaffenheit und Tonhöhe und übertrug die Töne auf einen Synthesizer. Das Ergebnis tönte wie ein märchenhafter Soundtrack stündlich aus dem Kirchturm und lockte die Gauselfinger auf ihre Balkone, Applaus inklusive. Im Kirchturm hatten wir drei Lautsprecher installiert, die durch offene Lamellen nach draußen gerichtet waren. Abenteuerlich war (mal wieder) die logistische Herausforderung, die Gerätschaften auf die Glockenebene des Kirchturms zu verfrachten, da das letzte Stück nur durch in der Wand eingelassene Metallsprossen zu erreichen war. 

Eine Ortschaft mit elektronischer Musik zu beschallen ist eine ziemliche Gratwanderung, denn man dringt gewissermaßen klanglich in den Privatbereich der Anwohner*innen ein. Außerdem ist zeitgleich der gewohnte Stundenschlag der Glocken ausgeschaltet, was doppelten Unmut bedeuten kann. Entsprechend behutsam gingen wir beim Soundcheck vor, tasteten uns vorsichtig in der Lautstärke aufwärts. Im Kirchturm war diese bereits ohrenbetäubend, während es auf dem Kirchplatz noch sehr verhalten klang. Lautsprecher sind eben ganz andere Klangerzeuger als Glocken, sie strahlen in einem recht engen Winkel ab und verlieren mit zunehmender Entfernung je nach Größe recht schnell ihre Energie. Glocken sind riesige Resonanzkörper, die den Klang kugelförmig abstrahlen. Wir unterstützten den Eindruck eines großen Klangkörpers im Turm durch einen zusätzlichen Lautsprecher, der im Glockenturm ungerichtet auf dem Boden lag. Mit etwas Klangbearbeitung und ordentlich Pegel entstand von außen tatsächlich der Eindruck, der Turm selbst würde klingen. Je nach Windrichtung war die Installation auch am anderen Ende des Tals zu hören, klang aber nie aufdringlich. 

Eine Ortschaft mit elektronischer Musik zu beschallen ist eine ziemliche Gratwanderung, denn man dringt gewissermaßen klanglich in den Privatbereich der Anwohner ein.

Neben dem "neuen" Glockenläuten war unser Aktionstag (26.11.22) durch verschiedene Erkundungstouren übers Gelände, in die Kirche und durch das Dorf strukturiert. Interessierte konnten uns dabei begleiten, oder sich aber zu einem Kaffee dazu setzen und ins Gespräch kommen. Deborah Maier hatte flankierend eine Art Parcour vorbereitet, der es möglich machte, Gedanken der Besucher*innen zu sammeln und anschaulich zu machen. Dies wurde teils bereitwillig, teils zögerlich angenommen. Neben Gemeindemitgliedern mit großer Nähe zum Kirchort betraten vereinzelt auch Menschen den Gemeindesaal von St. Peter und Paul, die dort vorher noch nie waren, beispielsweise ein Mitglied des Wohnprojekts "WIR", das im Ort genossenschaftlich mehrere WGs und ein Tagungshaus betreibt.

Am Abend des Aktionstags wurde die Außenfassade der Kirche tatsächlich zur Projektionsfläche. Mit der etwas provokanten Frage "Was wollen wir hier?" versuchten wir die Besucher*innen aus der Reserve zu locken. Die Antworten waren sehr divers und reichten von "Glühwein" bis hin zu "aktive Dorfgemeinschaft".  

Am Ende fuhr das Projektteam angeregt viele Kilometer wieder nach Hause, im Gepäck Gespräche, Begegnungen, Bilder und Tonaufnahmen auf besagter Kasette. Nun ging es ans auswerten und aufbereiten, dann zwei Wochen später war das "Resonanzwochenende" geplant, an dem das Gesammelte künstlerisch aufbereitet seinen Widerhall in und um St. Peter und Paul finden sollte.

Fotos: Leonie Braun

Kategorie Ambient-Projekte

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