Italienische Fragmente 2
Schreiben, Wetter, what the fuck ...
Ich hatte mir vorgenommen, jeden Tag auszuschlafen, mir den „Luxus“ zu gönnen, keinen Wecker zu stellen. Man stellt sich im Urlaub keinen Wecker. Manche Menschen tun das vielleicht, weil die Besichtigungstermine sämtlicher Attraktionen in der Umgebung eng gestrickt sind. Oder weil die Liege am Hotelpool besetzt werden muss. Oder am Strand ein guter Platz gefunden werden will. Oder weil das Museum ab Mittags laut Reiseführer zu voll ist. Oder weil es in der Pension nur bis 10.00 Uhr Frühstück gibt. „Und das haben wir schließlich bezahlt, das lassen wir auf keinen Fall ausfallen!“ Vielleicht war das also gar nicht so eine allgemeingültige Regel, wie sie stets mit dem typischen Satz „Das macht man einfach nicht!“ begründet wurde, den wohl die meisten von uns kennen.
„Heb die Füße beim Laufen, schlurfe nicht so!“
„Warum?“
„Das macht man einfach nicht!“
„Wasch dir die Hände nach dem Klo!“
„Warum?“
„Das macht man einfach so!“
„Und wasch dir dann auch das Gesicht!“
„Wieso?
Um sechs Uhr sah ich an diesem ersten italienischen Morgen zum ersten Mal auf die Uhr. Die Nacht war unruhig, ich hatte kaum geschlafen und wartete dämmernd darauf, dass es endlich Zeit wäre, aufzustehen. Man steht doch im Urlaub nicht schon um sechs Uhr morgens auf! Das macht man einfach nicht.
Kurz vor acht aber hielt ich es nicht mehr aus, gab C. einen Kuss auf die Stirn, die kurz wach wurde und fragte, was los sei. „Ich kann nicht mehr schlafen. Ich steh schonmal auf, schlaf weiter.“ sagte ich und stahl mich aus dem Bett. Mit einem Kaffee und meinem Laptop setzte ich mich auf den überdachten der beiden kleinen Balkone, auf denen gerade einmal Platz für zwei Stühle war, drehte mir eine Zigarette und begann, die Notizen abzutippen, die ich am Abend zuvor in mein kleines, schwarzes Buch geschrieben hatte. Ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit durchströmte mich. Das geschah in den letzten Wochen sehr selten. Der Kaffee und die Zigarette, die Legierung aus Koffein und Nikotin, schoben kleine euphorische Wellen durch meinen Körper, wie winzige elektrische Impulse. Dazu das Gefühl, wenn die Fingerspitzen den leichten Druck der Tasten überwinden und über die schwarzen Knöpfe mit den weißen Lettern flogen, wie die Finger eines Klavierspielers, dem man die jahrelangen Torturen des Übens, die täglichen Kämpfe um das Geschick und die die Fähigkeit eines Virtuosen nicht ansieht, verdoppelten diesen kleinen Morgenrausch, den ich so lange nicht erlebt hatte. Ich mochte dieses samtene Gefühl der Tasten. Manchmal legte ich nur die Finger auf die Tastatur oder streichelte sie, um die Rillen zwischen den Buchstaben und Zahlen zu spüren, die wie Täler im Gebirge der Literatur waren. Schreiben … das war wie ein Tanz der Finger zwischen den Bergkuppen auf dem Mont Lettèr … Manchmal ein Tango, dann wieder ein Walzer und ab und an der eines Derwischs im Wahn einer fremden Substanz. Trance und Wachheit, Klar und dennoch am Grund eines Rausches. Ach Jack, wie oft ich dich beneide, wenn ich an die Story denke, wie die On the road geschrieben hast …
Ich beobachtete meine Finger, das Fliegen und Tanzen, das ich niemals einfach „tippen“ nennen wollte, weil allein der Prozess wie ein heiliges Ritual war. Und erneut dachte ich an den Klavierspieler, der dieses Gefühl mit Sicherheit noch wesentlich besser kannte, als der Autor. Wie oft erwischen wir uns bei dem Gedanken, dass das so schwer nicht sein kann, wenn wir einen Menschen beobachten, der aus den weißen und schwarzen Tasten Melodie gewordene Emotionen holt, dessen Finger über die Klaviatur fliegen, schweben, kreisen, tanzen …
Es begann zu regnen. Kerzengerade fielen die Tropfen, die nicht wie Tropfen aussahen, sondern eher wie lange dünne Fäden, oder Linien, die wie mit dem Lineal gezogenen, vom tiefen Grau des Himmels runter zum satten Grün des moosigen Rasens reichten. Hier hatte der zu heiße Sommer seine Spuren noch nicht so deutlich hinterlassen. Die Bäume rings um das Herrenhaus spendeten genügend Schatten, das Gras nicht so zu verbrennen, wie es andernorts erschreckend geschah. Hier waren noch keine erdigen Flecken in den Wiesen. Die Farne sahen gesund aus, die Brennnesseln sahen gesund aus, der Klee sah gesund aus und auch der Wegerich, die Gänseblümchen, der Löwenzahn, die Kräuter und Sträucher sahen hier noch gesund aus. Eine Oase inmitten dystopischer Bilder, die nur einen Anfang verkündeten.
So schnell der Morgenrausch kam, so intensiv wie er war, so schnell ging er auch wieder und ich ich schaffte es nicht, ihn zurückzuholen. Die vierte Tasse Kaffee rührte ich schon mit vier gehäuften Löffeln an, doch nichts passierte. Nur das Sodbrennen verstärkte sich. Die Finger wurden langsamer. Aus dem Tanz wurde ein Spaziergang, wie es sie früher gab, wenn Mutter nach dem Mittagessen sagte: „So, nun gehen wir spazieren.“ Ich hasste es, spazieren zu gehen. Gerade Sonntags, wenn die ganzen Kinderfilme im Feindsender ZDF liefen. Manchmal dauerte der Abwasch etwas länger, dann konnte ich noch die Titelmusik von „Hals über Kopf“ hören. Das Kinderprogramm immer mit einem kleinen Mädchen, das vor einer roten Ziegelsteinmauer hockte und rief: „Achtung jetzt kommt ein Karton.“ Der Karton fiel über das Mädchen und auf ihm stand „Cartoon“. Dann ein kurzer Trickfilm und dann das Lied, das ich so gern mitsang „Oh Schreck oh Schreck das Kind ist weg, das Kind hat sich versteckt. Was hat es nur, was hat es nur schon wieder ausgeheckt?“ Dann brach das Bild in sich zusammen, von außen nach innen, bis nur noch ein kleiner weißer Punkt in der Mitte der Bildröhre zu sehen war. Ein kurzes Pfeifen, dann war auch der verschwunden. „Komm, anziehen, wir wollen spazieren gehen.“ war das nächste, was ich dann hörte und alles Lamentieren und Flennen nützte nichts. Zwei, drei Stunden draußen rumlatschen. Langweilig. „Wir können ja dann zum Ententeich gehen und füttern.“ war oft der schlechte Versuch, mich bei Laune zu halten. „Die Scheiß Enten haben genug zu fressen, die brauchen unser altes Brot nicht!“ hatte ich oft gedacht und setzte widerwillig einen Fuß vor den anderen. „Wenn ich erst einmal erwachsen bin, werde ich nie wieder spazieren gehen!“ Das hatte ich mir fest vorgenommen. Und noch heute gehe ich nicht spazieren. Wenn, dann gehe ich „eine Runde laufen“. Das Wort spazieren war für immer mit Abwehr und Abscheu verbunden.
Irgendwann verebbte der Schreibdrang vollkommen. Aus der Euphorie am Morgen wurde ein seltsames Unwohlsein, eine komische Stimmung zwischen Resignation, Depression und schlechter Laune. Lange überlegte ich an diesem ersten Nachmittag, was genau dieses Unwohlsein verursachte und woraus überhaupt es sich speiste, wie es sich zusammensetzte. Nichts klares war fühlbar, nichts konkretes Denkbar. Es war nur ein unangenehmes Gefühl, eine Legierung aus Unruhe und Aphathie. Keine Lust auf nichts, vor allem nicht aufs Nichtstun. Es kostete Überwindung, die Zähne zu putzen, Stunden nach dem Aufstehen, es kostete Überwindung, die Mikrowelle aus dem Verschlag neben der Badezimmertür herauszukramen, um zu schauen, ob die noch funktionierte. Sie funktionierte und ich konnte mir die Lasagne warm machen, die wir einen Tag zuvor in einem Supermarkt in Freiburg gekauft hatten. „Was für eine Ironie?“ sagte die Stimme „Du fährst nach Italien und bringst ne abgefuckte Tiefkühllasagne mit.“ Es kostete Überwindung, diese Lasagne dann auch zu Essen: Es kostete Überwindung, eins der mitgebrachten Bücher aus dem Rucksack zu fischen und zu lesen.
Vielleicht lag es am Regen? Noch immer schüttete es wie aus Kübeln. Tief grau lag der Himmel über Varese, über dem Herrenhaus, den Sträuchern und Palmen. Mit einem weiteren Kaffee saß ich mich auf dem kleinen überdachten Balkon, schrieb ein paar Zeilen, beantwortete Mails und las. Da war es zum ersten mal, dieses seltsame Gefühl, das ich nicht definieren konnte. Diese Legierung aus Unruhe und Apathie, aus Wut und Traurigkeit. Vielleicht lag es auch an dieser lauten Stille hier draußen, tief im Wald über dem Lago Maggiore?
Einige Stunden später, ich hatte gerade die Lasagne gegessen und wieder zum Buch gegriffen, wusste ich plötzlich, was für ein Gefühl das war. Es hatte aufgehört zu regnen. Ab und an stach sogar ein Sonnenstrahl durch die tief hängenden Wolken und versuchte, meine Laune zu heben. Ich beobachtete C, die mir lesend gegenübersaß, ich sah meine Hände, die den dicken Klaus Mann-Schinken hielten und sah plötzlich meine Eltern, im Urlaub an der Saale oder im Thüringer Wald. C. verschwand und an ihrer Stelle saß nun meine Mutter, irgendeinen Groschenroman lesend. Meine Hände verschwanden und die meines Vaters hielten plötzlich das Buch in dem ich las. Genau DAS war es! Das laute Schreien gegen das, was meine Eltern waren. Ich verabscheute all das! Nie wollte ich sein wie meine Eltern. Auch, wenn ich beide liebe, auch, wenn mir beide unheimlich wichtig waren und sind. Aber das, was sie waren, was sie taten, dieses angepasste Leben, dieses „Muss ja“ und das Schwimmen mit dem Strom wie zwei längst gefallene Blätter eines Baumes … das wollte ich nie sein, nie werden und nun fand ich mich in einer Szene wieder, die ich nur zu gut kannte. Auf dem Balkon einer Hotelzimmers, auf der Terrasse eine Bungalows, lesend, darauf wartend, dass das Wetter besser würde, um endlich spazieren gehen zu können. Ich verurteilte meine Eltern, dass sie sich nicht mit mir, sondern mit ihren blöden Büchern beschäftigten.
Um diesen Beitrag lesen zu können, musst du Mitglied werden. Mitglieder helfen uns, unsere Arbeit zu finanzieren, damit wir langfristig bestehen bleiben können.
Zu unseren Paketen (Öffnet in neuem Fenster)
Bereits Mitglied? Anmelden (Öffnet in neuem Fenster)