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Leipziger Fragmente II

Zeichen und Worte ... 

„… ist doch alles halb so wild!“ sagte die väterliche Stimme in mir. „Du musst einfach über den Schatten springen.“ Tagelang hatte Phrase wie ein Hammer gewirkt, der inwändig gegen mich arbeitete. „Einfach über den Schatten springen … „ hatte sie gesagt, die Stimme, aber einfach war das gar nicht und wie springt man über den eigenen Schatten´? Physikalisch ist das gar nicht möglich, wenn die Lichtquelle nicht gerade auf gleicher Höhe ist und der Sprung von einem auf den anderen Einfallswinkel tatsächlich ein „über den eigenen Schatten springen“ simulierte.

Aber sie hatte nicht gesagt, über deinen Schatten springen, die Stimme. Sondern sie sagte: „über DEN Schatten springen.“ Und plötzlich erkannte ich, dass das gar nicht mein Schatten war, der da vor mir lag.

Und ich sprang. Und es war wirklich einfach. „Weißte, wenn du den Anruf beim Steuerberater von einem auf den nächsten Moment, von einer auf die nächste Stunde, von einem auf den nächsten Tag verschiebst, was genau verschiebst du dann effektiv? Den Anruf, den du so oder sa wirst machen müssen, damit du weitere Folgen abwenden kannst?“ Ich hatte keine Gegenargumente und wählte die Nummer, die Cornelia mir gegeben hatte, als ich sie fragte, wie gut sie den Anwalt kenne, der ein gemeinsamer Bekannter geworden war. Jener Anwalt, von dem ich zu Anfang unseres Kennenlernens nach einer Lesung in Zeitz nicht wusste, dass er Anwalt war. Jenen Anwalt, der mir unlängst, bei einer weiteren Lesung in der selben Stadt, einen Kugelschreiber schenkte, auf dem die Telefonnummer seiner Kanzlei stand. Und da stand auch: Steuerberater. Wenn das kein Omen war.

Ich achte nicht bewusst auf die Zeichen des Schicksal, nicht auf Omen oder andere Hinweise aus einem Irgendwo, das wir nicht kennen, aber immer gern wissend meinen. Aber oft bekomme ich solche Zeichen und handele dann. Und wie der Stift ein Zeichen zu sein schien, war es der Obdachlose vor dem Rewe in der Südvorstadt, den ich seit Wochen vermisste.

Ein junger Kerl, vielleicht Mitte zwanzig, der immer vor den drei Wagenreihen gesessen hatte, mit seinem Hund, einem XXL Kaffeebecher, dessen Boden selten mit Münzen gänzlich bedeckt war. Freundlich war er, immer, der Junge. Und immer kramte ich schon auf dem Weg zu diesem Supermarkt in meiner Hosentasche nach Münzen, um ihm etwas in den Becher zu werfen und ihm einen feinen Tag zu wünschen.

Anfangs war es nur das freundliche „Danke“ seinerseits. Dann kam ein „Ey, habs fein.“ hinterher und irgendwann kamen wir ins Gespräch, redeten über seinen Hund, der stets als erster von dem geschnorrten Geld profitierte, redeten über das Abbruchhaus, in dem er die Nächte verbrachte, allein, wie er sagte, weil er schon immer ein Einzelgänger gewesen sei. „Menschen machen mir Angst.“ hatte er einmal gesagt, als ich mit zwei Bier aus dem Supermarkt kam und ihm eins davon reichte. Er lehnte ab. „Ich trinke keinen Alk. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was du machen kannst, weißte?! Du gehst unter in dem Zeug, weißte. Mein Vater war so einer. Wie ein Floß war er auf den Wassern des Schnapses. Anfang noch ganz stabil. Aber der ruhige Fluss wurde irgendwann zu einem reißenden Strom und das Floß stieß immer wieder an die Steine des Lebens und wurde so in den Unwettern der Existenz zerrissen. Irgendwann sank das Floß und ich war allein. Da war ich neun Jahre alt. Meine Mutter hatte uns längst verlassen, verpisste sich mit einem neuen Typen irgendwohin, Griechenland glaube ich. Da war kein Platz für meine jüngere Schwester und mich. Da war vielleicht auch keine Zeit und kein Interesse. Und als dann mein Vater starb, verstummte meine Schwester. Sie kam in eine psychiatrische Jugendeinrichtung, während ich in ein Heim kam. Der Rest ist Klischee, weißte. Ich war ein Einzelgänger und das gefiel den Kids dort nicht. Jeden Tag bezog ich Prügel, was mich nur noch mehr zum Einzelgänger machte. Als ich dann kurz vor meinem 15. Geburtstag das erste mal zurückschlug, schlug ich gleich so unglücklich zu, dass mein Gegenüber mit dem Hinterkopf auf den Bordstein knallte und nicht wieder aufwachte.

Vom Heim gings also direkt in den Jugendknast. Ich wollte mich nicht prügeln, aber dort musst du dich durchsetzen, wenn du nicht zur Ritze werden willst. In den ersten Wochen verschaffte ich mir Respekt, auch, wenn ich das nicht wollte. Ich wollte einfach nur für mich sein, allein und in Ruhe gelassen werden.“

„Und deine Schwester? Was ist aus ihr geworden?“ fragte ich, nachdem er verstummte, an seiner Cola nippte und den Blick gen Boden senkte, während er seinen Hund streichelte, als sei das Tier etwas, an dem er sich festhalten müsse.

„Wir haben uns seit unserer Trennung nicht gesehen. Ich weiß es nicht.“

„Willst du es nicht wissen?“ fragte ich.

„Weißte, ich hab keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Ich bin hier, Rosi ist hier,“ er deutete auf den Schäferhund, „und das muss erstmal reichen. Ich muss mich erstmal zurecht finden hier, in dieser seltsamen Welt, mit all den seltsamen Menschen.“

Dann schwieg er und auch ich schwieg. Ich nippte an meinem Bier, starrte in die Sonne, die allmählich hinter dem Amtsgericht gegenüber verschwand und dachte über seine Worte nach.

„Ist schon komisch,“ unterbrach er plötzlich die Stille „ich habe das noch nie jemandem erzählt. Und dann kommt ausgerechnet so n Snob wie du, setzt sich zu mir und ich plaudere wie ein leichtgläubiges Kind.“

Snob … das Wort traf mich wie eine Schelle. Ich fühlte mich noch immer mit dem Punkrock verbunden, mit der schwarzen Szene und hier saß ein Typ mit einem Iro vor mir, schmuddelig, mit zerrissenen Jeans und Boots, auf dem Rücken seiner Lederjacke stand das Zitat „Eure Freiheit ist wie Stacheldraht“ der Deutschpunkband Toxoplasma, das ich selbst einmal auf dem Ärmel meiner Lederjacke trug, damals, als ich noch nicht wie ein Snob rumlief. Aber trotz des grauen Anzugs, den ich trug, den ich bei TK Maxx für 50 Euro gekauft hatte, fühlte ich mich noch immer wie einst, als ich zerrissen und stinkend, mit Iro und Lederjacke rumlief. Einmal spuckte ich einen Anzugträger an, der an uns vorbei lief und eine abschätzige Bemerkung machte und sagte zu meinem Kumpel: Wenn ich eines Tages so rumlaufe wie der, hast du den Auftrag, mich einfach zu erschießen. Ohne Vorwarnung. Einfach durchladen und abdrücken.“

Jener Kumpel war längst nicht mehr da. Untergegangen im Schnaps, wie das Vaterfloß des Jungen hier vor mir. Aber Snob … das grämte mich. Ich dachte darüber nach, wie sich doch Karma auch auf die (äußerliche) Entwicklung auswirkt …  Plötzlich war ich einer von denen, die ich damals angespuckt hatte. Und wer konnte schon ahnen, dass das Herz des Punks noch immer schlug.

Das war das letzte Mal, dass ich den Jungen sah. Seit einigen Wochen schon saß er nicht mehr vor dem Rewe. Dennoch suchte ich auch an diesem Morgen nach einer Münze, drehte sie, die Hand in der Hosentasche, zwischen meinen Fingern hin und her und freute mich darauf, ihm das Geldstück in den Becher werfen zu können. Zwar hatte ich selber nicht viel, im Grunde gar nichts, doch als meine Freundin mir einen Tag zuvor einen Zehner gab, um Toast, Eier, Milch und und Butter zu kaufen, schob sie mir das Restgeld über den Tisch, dass ich ihr, zurück vom Einkaufen, hingelegt hatte. Drei Euro vierundzwanzig zählte ich und freute mich, dem Jungen wenigstens einen Euro geben zu können. Doch sein Platz war leer, wie schon in den Tagen zuvor. Ob sie ihn verjagt hatten? „Geh mal wo anders betteln Junge, die Kunden beschweren sich schon.“ Ob er einen anderen Platz gefunden hatte, wo das Schnorren besser lief? Vielleicht hatte er seine Schwester gefunden? Oder eine Wohnung? Vielleicht lag er aber auch in diesem Abbruchhaus, von dem er mir erzählte, leblos und ohne dass ihn irgendwer vermisst?

Ich vermisste ihn. Und auf eine seltsame Art und Weise schmerzte dieses Vermissen …

Als ich ins Auto stieg, um nach Hause zu fahren, sah ich plötzlich sein Gesicht vor, die traurigen Augen, in denen ein seltsames Leuchten von einem großen Willen zu leben zeugten, die feine Nase, die beinahe filigran seine ausgeprägten Wangenknochen unterstrichen und hörte ihn sagen: „Alter, weißte, ruf doch da einfach an. Du hast doch die Nummer. Schieb nichts vor dir her, was irgendwann ohnehin stattfinden muss. Gesell dich nicht zu mir, denn ich bin ein Einzelgänger.“

Zu Hause wählte ich die Nummer dieses mir empfohlenen Steuerberaters und hatte zwei Minuten später einen Termin. …

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