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Henry und die frische Luft

Tanja hatte sich extra ein paar Tage freigenommen, damit sie auf Henry aufpassen konnte. War sie naiv gewesen! Wie konnte sie nur geglaubt haben, ihr Neffe sei bestimmt ein aufgeschlossener und netter Junge, mit dem man Spaß haben konnte! Zugegeben, sie war selbst schuld. Ihr Bruder Sascha lebte in München und arbeitete bei einem großen Betrieb als Mediendesigner. Sie hingegen war Reisebuchautorin und war in der ganzen Welt unterwegs. Sie hatte deshalb für Familie nie so richtig viel Zeit gehabt. Sicher hatte sie Sascha und seine Frau immer mal wieder besucht, aber da war Henry auch noch klein gewesen. Jetzt war er bereits sieben und sie hatte ihn bald drei Jahre nicht mehr gesehen.  Doch Sascha hatte vor zwei Tagen bei ihr angerufen. Das tat er sonst nie. „Bitte pass auf ihn auf, es ist doch nur für eine Woche! Gabi muss dringend zu ihrer Mutter in die Klinik nach Dresden und ich kann sie nicht allein fahren lassen. Bitte!“, so verzweifelt klang er selten und Tanja sagte natürlich zu. Sie konnte ihr neues Buch über Wanderwege in Schottland ja auch in München weiterschreiben. Und Gabis Mutter ging es nach ihrer Herzoperation immer schlechter. Tanja war stolz auf ihren Bruder, dass er seine Frau so unterstützte. So weit, so gut. Doch als sie in die große, luxuriöse Wohnung kam und ihren Neffen nach all der Zeit wiedersah, wollte sie gleich wieder kehrtmachen. „Er ist wirklich ein unkompliziertes Kind“, hatte Gabi liebevoll zu ihr gesagt. „Er ist wirklich ruhig und die meiste Zeit bleibt er eh in seinem Zimmer“, versicherte Sascha ihr dann noch mal beim Abendessen. Tanja konnte dem nichts entgegensetzen. Henry war die meiste Zeit über kaum zu sehen gewesen. Er kam nur schnell an den Tisch, schlang in knappen fünf Minuten seine Nudeln mit Tomatensoße hinunter, um dann sofort wieder in sein Zimmer zu verschwinden. „Er liebt diese Play-Kiste“, lächelte Gabi sie an und blickte ihrem Kind hinterher. „Und er darf beim Essen einfach so aufstehen?“, fragte Tanja verwundert. „Der stört uns Erwachsene doch nur. Wie war es eigentlich in Schottland?“, fragte Sascha und sie unterhielten sich den restlichen Abend über die richtige Trekkingausrüstung und die verschiedenen Routen in den schottischen Highlands. Am nächsten Morgen waren Sascha und Gabi gefahren. Es war Samstag und Tanja wusste bereits jetzt nicht, wie sie eine Woche mit einem spielsüchtigen, nichtssagenden Kind machen sollte. Vermutlich nichts. Sie setzte sich an Saschas Schreibtisch und richtete sich erst mal ein, dann gab es Kaffee und das Laptop wurde in Position gebracht. Als es 12:00 Uhr war, fragte sich Tanja, wie lange Henry denn noch schlafen wollte. Sie beschloss, die Antwort selbst zu provozieren und ging zu seiner Tür. Sie klopfte und fragte „Henry? Bist du wach?“ Stille. Langsam öffnete sie die Tür. Im Zimmer herrschte noch tiefste Nacht. Die einzige Lichtquelle kam von dem größten Fernseher, denn Tanja je gesehen hatte. Ein Heimkino für einen Siebenjährigen! Henry saß da und tippte, hackte und klopfte auf dem Kontroller herum, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. „Henry! Mach sofort das Ding aus und komm Frühstücken. Na ja, Mittagessen!“, rief Tanja entrüstet und stellte sich vor den Fernseher. „Hab keinen Hunger“, kam die monotone Antwort. Das war genug. „Henry? Kennst du eigentlich den Begriff „frische Luft“?“, fragte Tanja ihren Neffen. „Was soll das? Geh weg!“, kam es nur zurück. Tanja drehte sich und marschierte zum Fenster, schob die Vorhänge zurück und riss das Fenster auf. Henry verzog qualvoll das Gesicht, als wäre er ein Vampir, der gleich in Flammen aufgeht. Doch Tanja war noch nicht fertig. Sie ging hinter den Fernseher und zog den Stecker raus. „Jetzt schon“, sagte sie und blickte auf den offenen Mund ihres Neffen. „Ich weiß, das kam überraschend und es tut mir leid. Aber wenn du mir eine Chance gibst, lade ich dich zum Frühstücken ein.“ Das hatte wohl auch Henrys Magen gehört, denn der knurrte plötzlich laut auf. „Henry blickte auf den Fernseher und dann wieder in das Gesicht seiner Tante. „Das sage ich Mama und Papa“, sagte er schließlich. „Ich kann superleckere Waffeln machen und deinen Eltern sage ich das gerne selber“, gab Tanja zurück. „Mit Kirschen?“, fragte Henry schließlich, als sein Magen erneut knurrte. „Mit Erdbeeren“, zwinkerte Tanja ihm zu.

Die Podcastfolge, in der ich diese Kurzgeschichte vorlese und dir auch noch darüber hinaus einige achtsame Impulse gebe findest du direkt hier ;)

Natürlich auch auf Spotify bzw. bei Apple Podcast!

https://open.spotify.com/episode/4bSo2cswPbdDX6pGVBeKwF?si=LnKw1qALQIuyzLJ1ojVaNA&dl_branch=1 (Öffnet in neuem Fenster)

https://podcasts.apple.com/us/podcast/henry-und-die-frische-luft-meine-tipps-f%C3%BCr-weniger/id1572964487?i=1000537362500 (Öffnet in neuem Fenster)

Viel Spaß beim Hören!

Deine Hannah

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