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Verkörpertes Erbe

Der Herbst ist da und ich spüre wie die Bewegung wieder mehr nach innen geht, eine Zeit der Reflexion bricht an. Was hast du dieses Jahr erfahren und gelernt? Was davon will in den kommenden dunklen Monaten verdaut oder losgelassen werden? Was will weiter wachsen, braucht deine Pflege und Kraft? Was verlangt eine Anpassung und etwas Feinschliff?

Menschen von heute sind die Nachfahren der ursprünglichen Menschen, die noch um die Verbundenheit aller Wesen und um die Mysterien des Lebens wussten. Und obwohl es oft den Anschein macht, als ob dieses alte Wissen unter Menschen fast vollständig in Vergessenheit geraten ist, so tragen wir es doch stets in uns. Völlig unabhängig von einer Glaubensgemeinschaft, wird dieses Wissen seit jeher weitergegeben über die Mutterlinie eines jeden Menschen. Es steckt uns in den Knochen, im Blut, in den Zellen, in der DNA. Einem Dornröschenschlaf gleich, schlummert es in jedem Körper und wartet nur darauf wieder geweckt zu werden.

Wir begegnen diesem Wissen in jedem Kind der Erde, in jeder Pflanze, jedem Tier, jedem Windstoß, jedem Gewässer und in jedem Feuer. Wir sehen es in jedem Sonnenaufgang und in jeder Mondphase. Wir berühren es in jedem Kieselstein und treffen es in jedem Menschen. Die vielfältigen Möglichkeiten, wie Menschen sich diesem Wissen nähern, damit eine Beziehung eingehen und es mit der Welt teilen, sind mannigfaltig und allgegenwärtig greifbar. Oft begegnen wir in diesem Zusammenhang dem, was als »Spiritualität« oder als »Kunst« bzw. «Kreativität« bezeichnet wird. Kreativer Ausdruck teilt sich mit durch Worte, Farbe oder Bewegung. Durch Essen, Kleidung, Mimik, Lachen. Über Räume und Stimmungen. Durch die Art, wie sich jeder Mensch auf ganz einzigartige Weise auf andere Menschen, auf andere Lebewesen und auf das Leben bezieht.

Worin besteht deine Kunst? In welchen Facetten drückt sich ursprüngliches Wissen durch dich aus? Was verkörperst du in der Welt? Weil es dich ruft und beschäftigt, weil es dir am Herzen liegt, weil es dich glücklich macht.

Wobei Kunst, die wirklich tief berührt, oft in einem Tanz dessen entsteht, was im weitesten Sinn als »Liebe« bezeichnet werden kann und aus dem, was eine Verletzung dieser Liebe darstellt. Nicht immer, aber oft. Der eigenen Wunde zu folgen und sich dem Schmerz zu öffnen, der davon berichtet, dass etwas verletzt wurde, was wichtig ist - das führt häufig über den Schmerz hinaus und zurück zu dem, was wirklich zählt, was als als eigene Kunst erkannt wird.

Wie ich kürzlich sehr deutlich erfahren habe, hat meine eigene Kunst zu tun mit tiefer Körperlichkeit und der Sinnlichkeit, die damit einhergeht. Es mag komisch klingen, doch meine Kunst ist ein erotischer Akt, der doch weit über das hinausgeht, was die meisten Menschen darunter verstehen. Der pure Genuss und die unsagbare Schönheit, ein empfindsames Körperwesen zu sein, über einen lebendigen Körper und wache Sinne mit dem gesamten Kosmos verbunden zu sein, das war so gewaltig, dass ich es kaum ertragen konnte. Selten hat mir etwas solche Angst gemacht. Und nie zuvor habe ich all die Misshandlungen wirklich gespürt, die mein eigener Körper, die Körper anderer Lebewesen und der Körper von Mutter Erde erfahren haben. Es ist abgrundtief schmerzhaft und unsagbar widerlich, wie wir als Menschheit so vielen lebendigen Körpern so viel Leid zufügen können. Darüber war ich so aufgebracht, dass ich meinen ganzen Mut und Willen zusammengerufen habe, um weiterzugehen, während mein ganzes System vor Angst gezittert hat. Es gab in diesem Moment kein Zurück mehr, keinen Hinterausgang. Mit meiner Absicht, mit meinen Händen, mit meiner Atmung und mit Bewegungen habe ich den Körperbereich berührt, bewegt und entspannt, der normalerweise so eng ist, dass ich mir diese tiefe Sinnlichkeit und ihre Schönheit, und den tiefen Schmerz und den Ekel, der daran geknüpft ist, immer ein Stück auf Distanz halten konnte. Indem ich wirklich in diesem Starkstrom gebadet habe, konnte ich das spüren, was mir bisher zu viel Angst gemacht hat. Etwas, das ich immer vermieden habe, obwohl ich es liebe. Dann war es raus und augenblicklich waren da unsagbare Dankbarkeit und ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit, wie ich es noch nie gespürt habe. Ich habe gejubelt, bin gerannt und gesprungen vor Erleichterung. Meine Wahrnehmung ist seitdem sehr sicher und klar. Ich sehe die Schönheit und ich spüre die Wunde. Oder ich sehe die Wunde und ich spüre die Schönheit. Und ich bin ruhig damit.

Foto: Katrin Pauline Müller

Es gab eine Zeit, in der Menschen der unermesslichen Schöpferkraft, die in jedem Körper lebt, mit Vertrauen und Freude begegnet sind. Eine Zeit, in der Sinnlichkeit, Genuss und manchmal auch Schmerz, etwas sehr viel unschuldigeres waren, etwas das Teil des Lebens war. Dieses ursprüngliche Wissen um die Verbundenheit und um die Schönheit des Lebens, wird seit tausenden von Jahren systematisch und gewaltsam in den Schlaf des Vergessens versenkt. Auch jegliche Forschung dazu, wie diese tiefe Angst vor der sinnlichen Kraft des Lebens entstanden ist, wird weitestgehend ignoriert und abgewertet, oft indem sie als »esoterisch«, sprich als komplett unwissenschaftlicher Humbug bezeichnet wird. Nach wie vor ein Todesurteil in Bezug auf Intelligenz, Wissen oder gar Weisheit. Dabei ist wissenschaftlich längst erwiesen, dass Lebewesen sinnliche Lebendigkeit, sprich die Energie, die in Empfindung und Emotion liegt, lieben und brauchen, um gesund und glücklich sein zu können. Alles andere wird als Depression bezeichnet, und die ist weit verbreitet. Auch das alte Wissen über die Entstehung und die Zusammenhänge des Lebens, das über die mütterliche Seite weitergegeben wird, wurde über die letzten 6000 Jahre komplett verdreht. So kam es, dass die Menschheit heute bis auf sehr wenige letzte Ausnahmen in einer kriegerischen Gesellschaftsform lebt, die als »Patriarchat«, sprich als »Herrschaft der Väter« bezeichnet werden kann, die uns als das normalste der Welt erscheint.

Wenn du tiefer einsteigen möchtest in diese alles umfassende Thematik, dann empfehle ich weiterführende Literatur aus dem Bereich der unabhängigen interdisziplinären Patriarchatsforschung (Öffnet in neuem Fenster) bzw. der interdisziplinären Patriarchatskritikforschung (Öffnet in neuem Fenster).

Wovon spreche ich, wenn ich in diesem Text die Begriffe »Patriarchat« oder »Kultur« verwende?

Ich spreche von einer Gesellschaftsform, die die Verbundenheit allen Lebens verneint und strukturell zerstört. Die den Menschen an die Spitze der Schöpfung stellt, obwohl er doch das jüngste Kind in der Familie des Lebens ist.

Die patriarchale Gesellschaftsform huldigt einer Kultur, in der es vorrangig um Hierarchie, Kampf, Konkurrenz, Misstrauen, Besitz und um Profit geht.

Eine Kultur, die die Empfindsamkeit und Emotionalität, die einen lebendigen Körper von einer funktionalen Maschine unterscheidet, systematisch abwertet und missbraucht. Ohne Empfindsamkeit und Emotionalität gibt es keinen echten Zugang zu Energie, sprich Kraft. Ohne Kraft ist Freiheit unerreichbar und Menschen werden zu Maschinen eines künstlich erschaffenen Systems.

Eine Kultur, die Kontrolle über weibliche Sexualität und damit über die wertvollen, weil Leben spendenden weiblichen Körper erlangen und behalten will. Und letzten Endes doch alle Körper missachtet, ganz gleich ihres Geschlechts.

Bitte beachte: Es geht mir in diesem Text nicht um Gender. Die Art wie diese Debatte in den Medien geführt wird, nervt und schmerzt mich, entspricht sie mit der herablassend intellektualisierten Art vieler sogenannter aufgeweckter und emanzipierter Menschen, oft Frauen, mehr patriarchaler Denke als einem verkörperten Verständnis über das tiefe Leid geschundener Körperwesen. Alle Körper leiden unter einer Kultur, die Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Geschlechtlichkeit, Sexualität und Genuss abwertet und missbraucht, anstatt die Heiligkeit des verkörperten Erbes der Menschheit zu beschützen.

Körperempfindungen sind spürbare emotionale Energie. Sich selbst von den eigenen Emotionen und Empfindungen (oder von den Empfindungen und Emotionen anderer Lebewesen), berühren zu lassen, ist ein sinnliches und ein intimes Erleben, ohne dass es etwas mit Sexualität zu tun haben muss - auch wenn die heutige Einordnung jegliche Sinnlichkeit gerne in die Schmuddelecke steckt, die ein gut funktionierender Mensch besser vermeidet. Es ist eine Erfahrung, die echte Nähe zum Leben herstellt. Sich wirklich einzulassen auf Körperlichkeit und damit auf Sinnlichkeit, ist für mich ein mutiger und rebellischer Akt. Schließlich berührt er zwangsläufig alle Traumaschichten, auf denen die patriarchale Kultur aufgebaut ist. Ein Umstand, der sicherstellt, dass sich die Menschheit bisher nicht im großen Stil an ihr kraftvolles und atemberaubend schönes Erbe heranwagt.

Und nun?

Wie bereits erwähnt, so ist das ursprünglichen Wissens, von dem ich hier spreche nicht verloren, denn es lebt in jedem Körper, in jedem Menschen. Und im Laufe der Geschichte gab es immer Frauen und Männer, die nach einem Weg zurück zu diesem Wissen, zurück zu intimer Verbundenheit mit dem Gewebe des Lebens gesucht haben. Dem zugehörig zu sein, danach sehnen sich alle Lebewesen.

Ein Teil der Woke-Kultur, die ich weiter oben im Text für ihren moralischen Gender-Diskurs kritisiert habe, trägt sehr wohl dazu bei, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich angesprochen fühlen, sich informieren und auf den Weg machen. Ebenso die vielen Menschen, die im Angesicht kollabierender Ökosysteme und andauernden Kriegen, nach radikaler Veränderung rufen. Diese Inspirationen und Motivationen sind wichtig, denn ich glaube, der Funke der Bewegung kann nicht erzwungen werden, geschweige denn von einer Regierung verordnet werden. Vielmehr ist das ein individuell persönlicher, ein innerer Prozess, den jeder Mensch gehen kann. Ein Prozess der sich im Körper abspielt und von da ausgehend alles umfasst. Ein Prozess, der Kunst, Schönheit, Heilung und Freiheit für sich selbst, für andere Lebewesen und für das Leben bringen kann. Deshalb erneut die Frage nach deiner einzigartigen Kunst, nach dem, was du in der Welt verkörpern willst. Lass es über den Herbst und Winter ruhen, reifen und verdauen. Beschütze und nähre es. Schleife es, bis es von innen heraus in der Dunkelheit leuchtet.

Mögen alle Wesen glücklich sein!

Katrin

Quellen:

Unabhängigen interdisziplinären Patriarchatsforschung: Blog Gabriele Uhlmann (Öffnet in neuem Fenster)

Interdisziplinären Patriarchatskritikforschung: herstory/ history, Dr. Kirsten Armbruster und Rona Duwe (Öffnet in neuem Fenster)

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