Zum Hauptinhalt springen

Gratistoleranz

(WDR 5 Schrägstrich vom 17.05.23) 

Wissen Sie, was Gratismut ist? Gratismut ist, wenn man nur dann mutig ist, wenn man keine negativen Konsequenzen befürchten muss. Beispiel: In Iran für die Rechte der Frau zu protestieren ist Mut. In Deutschland für die Rechte der Autofahrer zu protestieren ist Gratismut. Man könnte auch sagen: Wer gratismutig ist, ist eigentlich feige - das aber sehr lautstark.

Daran angelehnt möchte ich ein neues Wort einführen: „Gratistoleranz“. Das ist Toleranz, die man nur dann hat, wenn sie nichts kostet, nicht anstrengt und das eigene Leben möglichst wenig beeinträchtigt. Ich zum Beispiel bin sehr tolerant gegenüber Waschbären. Ich find die drollig, sie haben ein schönes Fell, ja, sie plündern manchmal Mülltonnen, aber mir hat noch keiner die gelbe Tonne durcheinandergebracht, deswegen sage ich voller Überzeugung: Waschbären sind okay!

Genau diese Form der Gratistoleranz haben viele Deutsche, wenn es um homo-, bi-, inter- und transsexuelle Menschen geht. „Ihr wollt einen CSD? Na gut, ich muss ja nicht hin!“. „Der Kollege XY hat sich geoutet? Na so lange er mich nicht anfasst, hahaha!“ „Aber was? Herr Schneider möchte jetzt, dass ich ihn als Frau Schneider anspreche? Na, es muss doch auch mal gut sein!“

Noch schlimmer ist es in der Politik. Ja, man lässt sich gerne auf CSDs ablichten, aber die Rechte von queeren Menschen auch noch per Gesetz verankern? Puh, wie anstrengend! Erst die Ehe für alle, jetzt auch noch ein Selbstbestimmungsgesetz für Transsexuelle - Was wollen diese LGBTQler denn noch? Erdbeereis für alle?!

Ganz schwierig wird’s, wenn Wahlkampf ist, wie gerade in Bayern. Da betont der Ministerpräsident, der sich beim EM-Spiel gegen Ungarn noch mit einer Regenbogenmaske fotografieren ließ, passend zum Muttertag per Twitter, dass jedes Kind nur eine Mutter hat und räumt damit allen Regenbogenfamilien eine ab, in denen das anders aussieht. Und Andi Scheuer und Doro Bär lassen sich in Florida mit dem homophoben Gouverneur Ron DeSantis und einem Bierkrug fotografieren und man weiß gar nicht, wer von den vieren am hohlsten ist.

Tatsache ist aber: Sich auch in Wahlkampfzeiten auf die Seite von queeren Menschen zu stellen, nur das wäre wahre Toleranz, ja sogar Akzeptanz, ach was sag ich: Mut! Wenn dagegen Menschen ihre Gratistoleranz nur dann auspacken und vor sich herschwenken, wenn’s gerade passt, dann möchte ich ihnen das zurufen, was ich auch dem ersten Waschbären zurufen würde, der meinen Gelben Sack aus der Tonne zieht: Bitte, lass stecken!

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Markus Barth und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden