TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 30: VOM GEWÖHNEN (UND DER MITTE)
“Fix your hearts or die.”
- David Lynch as Gordon Cole
in Twin Peaks: The Return
Eigentlich war mein Plan für den Text in diesem Monat bis kurz nach der deutschen Bundestagswahl zu warten, um dann möglichst direkt und ungefiltert meine Gedanken und Gefühle zu beobachten und zu formulieren. Dann kam aber der Sonntagabend und der Montag-Morgen und ich stellte fest, dass da gar nicht so viele Gefühle waren. Klar, schon irgendwie große Freude über das sehr gute Abschneiden der LINKEN und deren Einzug in den Bundestag, gleichzeitig Schadenfreude, dass Christian Lindner und seine FDP die Quittung für ihr schäbiges Verhalten bekommen haben. Aber ansonsten…
Eine Freundin aus Österreich schrieb mir am späten Sonntagabend und fragte, wie es mir gehe mit dem Wahlergebnis. „Ach, ich weiß es nicht“ antwortete ich, „Im Grunde alles wie erwartet. Im Großen und Ganzen ungefähr das Ergebnis, dass auch die Prognosen erwarten ließen. Keine besonderen Überraschungen und jetzt muss man eh erstmal abwarten. Hätte schließlich auch schlimmer kommen können.“
Vielleicht war das auch der Tatsache geschuldet, dass ich schon viel früher per Briefwahl meine Stimme abgegeben hatte und deshalb am Wahltag zunächst mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Aber je mehr ich darüber nachdenke und mit Menschen unterhalte, komme ich zu dem Punkt, dass gerade diese Haltung, dieses Gefühl, dieses „alles wie erwartet, es hätte schließlich auch schlimmer kommen können“ eine große Gefahr in sich birgt. Die Gefahr mich einfach an die sogenannte „Neue Normalität“ zu gewöhnen. Zumindest solange es nicht noch schlimmer kommt. Aber was bedeutet dieses „noch“ denn überhaupt und wann kippt das und ist es dann nicht längst zu spät?
Habe ich einfach im Vorfeld schon zu viele Hochrechnungen und Prognosen und Debatten angeschaut, um dann dem tatsächlichen Ergebnis einigermaßen teilnahmslos gegenüber zu sitzen? Immerhin ist es ja ungefähr das Ergebnis geworden, an dass ich mich schon im Vorfeld gewöhnen konnte. Aber ich möchte mich nicht gewöhnen.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass eine Partei ihr Wahlergebnis mal eben VERDOPPELT, die in Teilen gesichert rechtsextrem ist.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass jeder fünfte Mensch in Deutschland sein Kreuz bei dieser Partei setzt.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass eine solche Partei überhaupt im deutschen Bundestag oder einem Landesparlament sitzt.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass eine solche Partei im Jahr 2025 in Deutschland nach 1945 existieren kann und Zuspruch und Wählende findet.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass nicht zuletzt auch viele Menschen, die sich als Christen bezeichnen, diese Partei für wählbar und sogar christlich und unterstützenswert halten und offen für sie werben.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass es politische Stimmen gibt, die marginalisierte Menschen und Gruppen angreifen, ausgrenzen und ihrer Rechte berauben wollen.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass Demokratie, das Recht auf Asyl oder die Menschenwürde verhandelbar wären, als ob es da zwei Meinungen geben könnte, die beide gehört werden müssen.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass sich der politische Diskurs an diese Partei gewöhnt und sie irgendwann als “ganz normalen” Koalitionspartner in Betracht zieht.
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass alles unaufhaltsam in eine Richtung geht und dass das nun mal so ist und man nichts dagegen tun kann.
Ich möchte mich nicht an diese Sprache gewöhnen, die so lange „aus Versehen“ unsagbare Phrasen plappert, bis es die Empörung ermüdet oder mürbe gemacht hat und das Gewöhnen, das kurz vor dem Akzeptieren kommt, sich darüberlegt.
Ich möchte mich nicht an diese Art des Diskurses gewöhnen, wo nicht miteinander über Inhalte diskutiert wird und die Fakten und die besseren Argumente sich durchsetzen, sondern aneinander vorbei in die Kamera nur die eigene Anhängerschaft angesprochen werden soll und wo man live und in Farbe einfach haarsträubende Lügen erzählen darf, die ungecheckt und unwidersprochen erstmal so stehen bleiben. Die Richtigstellungen und Einordnungen an anderer Stelle kommen dann längst nicht mehr bei allen an.
(Während ich das schreibe, erinnere ich mich daran, dass ich als Kind eine Hörspiel-Kassette über Robin Hood hatte. In dieser Geschichte sagt eine Figur zur anderen: „Auch wenn man eine Lüge hundertfach wiederholt kehrt man sie nicht zur Wahrheit.“)
Ich möchte mich nicht daran gewöhnen, dass Meinungsfreiheit mit Widerspruchslosigkeit gleichgesetzt wird.
Ich möchte mich daran gewöhnen, dass es Milliardäre gibt, die nahezu unbesteuert immer reicher werden, während gleichzeitig, die die am wenigsten haben für das Problem gehalten werden.
Ich möchte mich nicht an diese Neue Normalität (Öffnet in neuem Fenster) gewöhnen.
Und vermutlich könnte ich diese Reihe noch seitenweise weiterschreiben.
Im Übrigen glaube ich nicht, dass das Wort „Rechtsruck“ wirklich zutreffend beschreibt, was wir gerade in Deutschland und anderen westlichen Demokratien erleben. Ein Ruck beschreibt etwas Plötzliches, Unerwartetes, das einen wie aus heiterem Himmel trifft und die Gemächlichkeit oder den eingeschlagenen Kurs unterbricht. Ein einmaliges starkes Ziehen oder Stoßen in eine Richtung. Es kommt mir aber eher wie ein allmähliches, leichtes Ziehen vor. So sachte, dass man es kaum als Kursveränderung wahrnimmt. Immer ein Stückchen weiter. Bis einem die Kursabweichung erst auffällt, wenn man sich wundert, warum man plötzlich so weit vom eigentlichen Ziel entfernt fährt.
Beim letzten Mal habe ich meine Trauer und Wertschätzung anlässlich des Todes von Regiesseur und Künstler David Lynch zum Audruck gebracht. Den Text findest du hier (Öffnet in neuem Fenster)oder im Archiv.
Ich habe seitdem viele seiner Filme erneut angeschaut und u.a. auch die dritte Staffel der von ihm geschaffenen Serie Twin Peaks. In dieser Serie taucht Lynch auch immer mal wieder vor der Kamera auf und verkörpert den FBI-Chef Gordon Cole. Als dieser begegnet er in der dritten Staffel Denise Bryson, einer Person, die bereits 25 Jahre vorher in der zweiten Staffel eingeführt wurde. Damals wurde erzählt, dass Denise früher Dennis hieß und als männlicher FBI-Agent für einen Undercover-Einsatz als Frau verkleidet ermittelte. Dabei wurde Dennis klar, dass er eigentlich Denise war und sich diese Verkleidung überhaupt nicht wie eine Verkleidung sondern endlich natürlich anfühlte. Diese positive und fast beiläufige Darstellung einer Trans-Person finde ich für eine Serie, die Anfang der 90er Jahre im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde nach wie vor für bemerkenswert.
Bei diesem erneuten Zusammentreffen der beiden in der dritten Staffel nun viele Jahre später erzählt Cole noch einmal kurz wie er damals mit Kritik und Anfeindungen und komischen Komentaren der Kollegen umgegangen sei, die Denise neue Identität nicht akzeptieren wolten:
https://www.youtube.com/watch?v=fD1tQjb46N8 (Öffnet in neuem Fenster)Dieses Zitat nehme ich zum Anlass immer wieder mein Herz, meine Gefühle und Überzeugungen, meine Priviligien und mein Haltung zu überprüfen und wenn nötig und möglich zu reparieren. Daraus ist folgendes Gedicht entstanden:

Natürlich steckt in einem solchen Text wenig Brauchbares, aus dem man einen Lösungsansatz ableiten könnte. Und konkrete Lösungen werden wir brauchen. Engagement werden wir brauchen. Stabile Gemeinschaften der Hoffnung werden wir brauchen. Kunst und eine wehrhafte Sprache in all ihren Formen werden wir brauchen und vielleicht ist so ein Appell an mich selbst, mich nicht an die Zustände zu gewöhnen, immerhin ein kleines Puzzleteilchen.
Es gibt diese Geschichte von einem Mann, der während des Vietnamkriegs jeden Abend vor dem Weißen Haus in Washington mit einer Kerze in der Hand gestanden haben soll, um gegen den Krieg zu protestieren. Irgendwann wurde er gefragt, warum er das jeden Tag aufs Neue tun würde. Ob er wirklich glaube, dass sein kleiner, stiller Protest etwas am System oder den Umständen ändern würden. Darauf antwortete er: „Ich tue das nicht, um das System oder die Umstände zu ändern, sondern damit das System und die Umstände mich nicht verändern.“ Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, oder ob es sich um eine urbane Legende handelt, aber diese Perspektive, diese Haltung finde ich äußerst hilfreich und inspirierend.
NEWS- NEWS- NEWS- NEWS- NEWS
HÖRBÜCHER-RELEASE
Im letzten Jahr habe ich meine beiden Lyrik-Bände als Hörbücher eingesprochen. Möglich gemacht haben das viele fantastische Menschen, die dieses Projekt durch meine Crowdfunding-Kampagne auf Startnext unterstützt haben. Und endlich, endlich, endlich kann ich sie auch mit allen anderen teilen.
Ab sofort sind beide Hörbücher auf meiner Webseite zum Download verfügbar. Gesprochen und performt von mir. Über die folgenden Links kommst du direkt zum Hörbuch. Viel Freude beim Anhören <3
Wir werden alle verwandelt werden (Öffnet in neuem Fenster)
Alles wird ein bisschen anders (Öffnet in neuem Fenster)

NEUE EP: DIE GERADE LINIE IST GOTTLOS PT.1
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Am 24.01. ist unsere neue #poetrymeetsbeats EP erschienen. Drei neue Stücke von Manuel Steinhoff und mir, die du ab sofort auf allen Plattformen streamen und natürlich auch käuflich erwerben kannst.
Hier ist der Link zu allen gängigen Plattformen:
Die gerade Linie ist gottlos Pt.1 (Öffnet in neuem Fenster)
Ich freue mich sehr, wenn du reinhörst. Es hat sehr viel Freude gemacht an den neuen Stücken zu arbeiten und ich freue mich, dass wir sie jetzt auch endlich mit Menschen teilen dürfen. Und das war ja erst Teil 1. Da kommt bald noch mehr…
Liebe Grüße und bleib neugierig
