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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 24: VOM ENTWACHSEN

“The world is holy! The soul is holy!

The skin is holy! The nose is holy!

The tongue and cock and hand and asshole holy!

Everything is holy! everybody’s holy! everywhere is holy! everyday is in eternity!

Everyman’s an angel!..“

 

-       Allen Ginsberg, Footnote to Howl

Vor über zehn Jahren saß ich in Kroatien auf einer Klippe am Meer und habe während eines Sonnenuntergangs einige Zeilen in mein Notizbuch geschrieben. Diese Zeilen sind später ziemlich genau so, wie sie auf der Notizbuch-Seite standen, der Mittelteil eines Spoken Word Stücks mit dem Titel „Was ist dir heilig?“ geworden. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren wurde dieses Stück auf YouTube veröffentlicht und ich habe in letzter Zeit wieder viel darüber nachgedacht.

 Falls du das Stück nicht kennst, findest Du es hier:

https://www.youtube.com/watch?v=EAV-cvWVC6g (Öffnet in neuem Fenster)

Eigentlich stimmt das auch gar nicht. Eigentlich werde ich sehr regelmäßig mit diesem Stück konfrontiert. Manchmal nach Lesungen oder Auftritten, wo eine Person am Ende bedauernd anmerkt, dass besagtes Stück an diesem Abend nicht Teil meiner Setlist war. Und mich erreichen nach wie vor regelmäßig Anfragen, dieses Stück im Unterricht, in Gottesdiensten oder einem ähnlichen Rahmen verwenden zu dürfen. Oder ich bekomme Screenshots geschickt, von Events, wo dieses Video gerade gezeigt wird.

Dankbar

Und ja, es stimmt, bis auf ganz wenige Ausnahmen, habe ich dieses Stück in den letzten Jahren nicht mehr live vorgetragen. Ich habe es sogar sehr bewusst aus dem Programm gestrichen. Das hatte mehrere Gründe. Zum einen natürlich, weil man vermutlich als Kunstschaffender meistens die neueren Stücke mehr mag und mehr Lust hat, die neueren Sachen auf die Bühne zu bringen als die, die man schon hundertmal performt hat.

 Vielleicht hatte es auch etwas mit Angst zu tun. Angst, immer auf dieses eine Ding oder diesen einen Stil reduziert zu werden. Angst mich jetzt immer wiederholen zu müssen, um wahrgenommen und gemocht zu werden oder um erfolgreich zu sein. Angst, dass das wohlmöglich bereits der Peak gewesen sein könnte und mir nichts besseres mehr einfällt.

Das Stück entstand zunächst als Auftragsarbeit für ein Worship-Album und die Begleit-Kampagne dazu. Der Titel stand schon fest und die Grundidee war, das Wort “heilig” zugänglich und alltagsnah mit dem Wort “wichtig” zu übersetzen. Was ist dir heilig = Was ist dir besonders wichtig? Das erschien mir damals schon recht progressiv und Projekte, die versuchen kirchliche und frome Floskeln in eine alltäglichere Sprache und fühlbarere Bilder zu übersetzen oder neu zu denken, sind bis heute Teil meiner Schreib- und Workshoparbeit.

Ich bin diesem Stück und den Menschen, die es produziert und in Auftrag gegeben haben bis heute unglaublich dankbar. Es hat mir zu Beginn meiner künstlerischen Arbeit sehr viele Türen geöffnet, Wege geebnet, Kollaborationen und Auftritte und Begegnungen ermöglicht, die ich brauchte, um weiterzumachen und von denen ich teilweise bis heute zehre.  

Mir gefallen immer noch die vielen offenen Fragen, die nicht sofort den Anspruch haben beantwortet zu werden, sondern einfach zum Denken und Reflektieren einladen.

Mir gefällt auch immer noch dieser Schöpfungs-Natur-Lobpreis-Teil in der Mitte, den ich bereits vorher in mein Notizbuch geschrieben hatte, bevor ich wusste, was daraus werden würde und aus dem sich später die Band Koenige & Priester Zeilen für ihren Song poiema geliehen hat.

Selbst die Grundaussage des Textes würde ich so oder so ähnlich heute noch unterschreiben. Dass jeder Mensch wertvoll und geliebt und einzigartig ist. Auch von Gott. Als Predigt finde ich das schön. Als Gedicht ist es mir heute too much Bekenntnis. Zu geschlossen. Zu endgültig. Zu absolut. Zu gewiss. Da weiß einer und lässt dem Ahnen und Suchen und Sehnen wenig Platz.  

Die Perspektive

Und was mir gar nicht mehr gefällt ist die Sprecherperspektive, das Konfrontative, der salbungsvoll-predigthafte Ton und die fehlende Augenhöhe. Ständig scheint es so, als würde da jemanden von oben herab versuchen etwas zu erklären, das aber eigentlich jedem völlig klar sein müsste. Der Mund ein bisschen zu selbstverständlich zu voll.

Die Sprech-Perspektive erscheint mir zudem heute so distanziert und unpersönlich. Sie scheint so wenig bei sich zu sein und sucht ständig im Außen ein Gegenüber. Nichts als Zuhörenden, sondern eher als Adressat einer Botschaft, die abgefeuert nach einem Ziel sucht. Selbst die beschriebenen Naturszenen haben, obwohl ich sie immer noch sehr mag, etwas Unpersönliches. So ein bisschen wie die Erzählstimme in einer Natur-Doku. Beschreibend und staunend auf das Schöne und Wunderbare aufmerksam machend, aber eben doch auch, ohne etwas über den Sprechenden zu erfahren. Emotion ja, aber nur als Allgemeinplatz.

Das verwundert im Rückblick auch nicht. Ich bin in einer Gemeinschaft aufgewachsen, in der ich nicht nur nicht gelernt habe, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen und diese zu formulieren, sondern Gefühle sogar misstrauisch betrachtet wurden. Als wäre das eine lästige Angewohnheit, die menschliche Körper nun mal haben, die es aber im Zaum zu halten und zu beherrschen und durch die nüchterne Vernunft und den gehorsamen Glauben an die Bibel (ich sage bewusst nicht an Gott) letztlich zu überwinden gilt. Von ungleich größerer Wichtigkeit war dort das Erzählen und vor allem Weitererzählen von großen, pathetischen Geschichten und Prinzipien von Schuld und Vergebung, Liebe und Gericht, Strafe und Opfer, Freiheit und Hoffnung, Himmel und Hölle, Engel und Dämonen, Licht und Finsternis, Paradies und Verdammnis. Kleiner ging es eben nicht.  

Ein Echo dieser Prägung höre ich in diesem und auch in einigen anderen meiner Texte aus dieser Zeit heraus. Das Ignorieren oder eher Verschweigen der eigenen Perspektive und Gefühlswelt und das Verstecken des lyrischen Ichs hinter einer fulminanten Fassade aus großen Themen und Worten, die versuchen die Welt oder Gott oder in diesem Fall Heiligkeit zu erklären.  

 Das ist mir damals nicht aufgefallen. Erst nachdem wir die Produktion von „Ikarus“ abgeschlossen hatten, fiel mir das mehr und mehr auf. Auch dort konnte ich meine persönliche Reise und inneren Prozessen nur ausdrücken, indem ich sie wieder hinter einer großen Geschichte versteckte, in diesem Fall einer Erzählung aus der griechischen Mythologie, die ich mir so zurechtgebogen habe, dass ich sozusagen als Ikarus verkleidet meine Geschichte erzählen konnte. Trotzdem scheint da schon viel von dem durch, was ich seitdem versuche schreibend mehr und mehr zu fassen zu bekommen. Das Stück “Nackt” (Öffnet in neuem Fenster) zum Beispiel auf diesem Album war und ist ein ganz wichtiger, zentraler Text für mich. Auch das ist mir aber beim Schreiben und Aufnehmen damals nicht wirklich bewusst gewesen oder aufgefallen.

Umschreiben?

Ich habe schon öfter darüber nachgedacht, das Stück “Was ist dir heilig?” zu überarbeiten und eine Art Version 2.0 daraus zu basteln, die ich dann auch wieder gerne vortragen würde. Ich glaube aber, dass Stücke dadurch selten besser werden. Das Stück ist jetzt da und darf sein Eigenleben haben und auch Menschen, die es mögen, weil es so ist, wie es ist. Who am I to kill it?

Das Stück ist jetzt draußen in der Welt und führt sein eigenes Leben. Ich freue mich, wenn es Freunde und Freundinnen findet und auf Menschen trifft, die gnädig mit ihm umgehen und sich über die Begegnung freuen. Wir dagegen sehen und hören uns nur noch selten. Es ist zwar noch bei mir gemeldet und trägt erkennbar denselben Nachnamen wie ich, ist aber eigentlich längst ausgezogen, um sein eigenes Ding zu machen. Wenn wir uns begegnen, dann ist es respektvoll und von Dankbarkeit geprägt, aber es schwingt auch Scham und Verwunderung mit. Nicht bösartig, aber in dieser Art von betretenem Schweigen, wenn nach der Begrüßungseuphorie und dem ersten Austausch von Höflichkeiten, keiner so richtig weiß, was man sagen soll. Zu fremd das Gegenüber, das einem früher so vertraut war, zu groß die Lücke dazwischen, zu unterschiedlich die Entwicklungen und die heutigen Ansichten. Und so umarmet man sich und wünscht sich Gutes und geht wieder auseinander.

Gnädig auf das Geschriebene meines früheren Ichs zu blicken, heißt auch gnädig auf mich selbst und meinen gegangenen Weg zu schauen. Wer weiß, vielleicht ist die Idee, den Text überarbeiten zu wollen, in Wahrheit auch der Versuch meinem jüngeren Ich Manieren beizubringen und ihm seine inhaltlichen und formellen Fehler und peinlichen Unzulänglichkeiten vorzuhalten und abzuschleifen. Wie eine Zeitreise, in der man zurück reißt um dumme Entscheidungen und peinliche Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen. Ich glaube, weil ich mich manchmal für dieses jüngere Ich schäme. Für die Dinge, die er geglaubt hat. Für die Manipulationen, auf die er hineingefallen ist, für die Lügen, denen er geglaubt hat, für die Naivität, mit der er all das getan hat und vor allem für die Langsamkeit, mit der er sich von dort aus woanders hinbewegt hat und für die Überheblichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der er formuliert hat. Gleichzeitig weiß ich, wo er herkam und wie mühsam und schmerzhaft dieses Herauswühlen und Abnabeln war und dass ihm dieser Text auch damals bereits zu predigthaft war, er sich aber über die Chance und die Gelegenheit gefreut hat (und beim Dreh protestlos die Mütze ausgezogen hat, obwohl er sich unwohl fühlte, aus Angst die Produzenten zu verärgern).

Manchmal hat mein jüngeres Ich Dinge formuliert, die es zu der Zeit noch nicht verstanden haben kann oder verstanden hat, aber ein unbestimtes Gespühr hatte, das da irgendetwas ist, das sich noch nicht ganz greifen lässt, aber in seiner damligen Perspektive dennoch Worte dafür gesucht hat.

Ich glaube, unbewusst habe ich in Texten wie Allen Ginsbergs Footnote to Howl (Öffnet in neuem Fenster), so etwas wie das fehlende Gegenstück zu meinem eigenen „Heilig-Text“ gefunden, der mich auf eine Spur gesetzt hat, dem eigenen Vorhandensein mit allem was dazugehört nachzuspüren. Im Schreiben und vor allem auch im Leben. Das schien mir damals zu klein, zu belanglos, zu profan, zu selbstbezogen und ich war mir sicher, dass das niemanden interessiert. Auch der Text “Holy Shit” (Öffnet in neuem Fenster) aus meinem ersten Gedichtband nimmt diese Spur ein bisschen auf. Die Reise und die Auseinandersetzung mit dem Heiligen und was das sein könnte geht also weiter.

Zwischen diesen beiden Gesichtern liegen zehn Jahre. Liegen eine Hochzeit und eine Scheidung. Liegt die Kündigung eines Jobs und der Schritt in die Selbstständigkeit. Liegen drei Umzüge und eine Pandemie. Liegen zwei Hörbücher, ein Album, eine EP und zwei Gedichtbände. Liegen mehrere hundert Auftritte im deutschsprachigen Raum. Liegen Austritte aus christlichen Gemeinden und der Einstieg bei Hossa Talk. Liegen Reisen und Begegnungen und Gespräche mit Menschen, die mich sehr bereichern und die ich seitdem meine Freunde nenne. Liegen Therapiestunden und mühevolles Aufarbeiten. Liegt das Auseinandernehmen meines Glaubens, mit dem ich aufgewachsen bin und die Suche nach freieren Formen. Liegen unzählige gelesene Bücher und Gedichte und Schreibwerkstätten. Mir ist dieses Leinwandgesicht gegenüber fremd. Ich erkenne mich kaum darin. Und ich hoffe, es schaut auch manchmal verstohlen rüber und ist neben aller Befremdung auch insgeheim ein bisschen Stolz auf sein Zukunfts-Ich. Das wäre schön.

Werde ich nach weiteren zehn Jahren mit ähnlichen Gefühlen auf meine heutigen Gedichte blicken? Ziemlich sicher. Hoffentlich sogar. Das würde bedeuten, dass ich nicht stehen geblieben, sondern irgendwie weiter gestolpert bin und mich auch dabei und dadurch verändern durfte. Gewollt und ungewollt.

 Oder wie Rick Rubin es ausdrückt:

„The person who makes something today

isn’t the same person

who returns to the work tomorrow.”

Zum Schluß

Dieses Thema, der Umgang mit Stücken, die man vor vielen Jahren mal geschrieben hat, scheint selbst für die Großen mitunter kompliziert zu sein. Bei Bob Dylan zum Beispiel muss man Glück haben, ob er gerade Lust hat zum vermutlich hunderttausendsten Mal die großen Klassiker zu spielen, ob er sie komplett ausläst oder sie in sehr anderen Alternativversionen zum Besten gibt. Bei Bruce Springsteen erinnere ich mich an eine Ansage bei einem Konzert vor ein paar Jahren, wo er singemäß sagte, dass er ja wisse, dass alle wegen der großen Hits da seien, aber sie hätten nun mal gerade ein neues Album herausgebracht und von dem würden sie nun 5 Nummern spielen, um die restliche Zeit des Konzerts danach wirklich alles zu spielen, was man sich auf einem Springsteen-Komzert erhoffen konnte. Und von dem Autor Benedict Wells habe ich kürzlich gehört, dass ihm sein Roman “Spinner” mitlerweile so unangenehm ist, dass er bei Signierstunden Menschen anbietet ihnen das Geld dafür zuzrückzuzahlen. Patti Smith dagegen, die ich vor einigen Wochen in Wien live erleben durfte, scheint mit ihrem großen Hit “Because the night” sehr versöhnt zu sein und hat ihn an diesem Abend in der Mitte ihres Sets mit einem sehr singfreudigen Publikum gemeinsam zelbriert.

Ich kann alle diese Ansätze gut verstehen. Ich werde versuchen weiter dankbar und gnädig auf “Was ist dir heilig?” zurückzublicken. Dass ich es irgendwann gerne mal wieder auf einer Bühne vortragen werde, glaube ich nicht. Und trotzdem weiß ich, dass es Teil des Fundaments ist, auf dem alle diese nachfolgenden Gedichte und Texte und Performances gestaplet sind.

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Live Lyrik-Lesung vom Reflab-Festival

Im Frühjahr durfte ich im Rahmen des Reflab-Festivals in Zürich drei Gedichte aus “Wir werden alle verwandelt werden”.

Die Aufnahmen davon kannst du dir jetzt in voller Länge anhören. Du findest sie entweder unter “Abgekanzelt” auf allen gängigen Podcastplattformen, oder direkt auf der Seite vom Reflab (Öffnet in neuem Fenster):

Ich verlinke sie hier aber auch nochmal direkt:

Als wir Geister waren / Ich bin nicht hoch genug, um hinter den Häusern den Himmel zu sehen:

https://open.spotify.com/episode/6FNp9F6wFvnVulADuvcbAN?si=acedd1fa57a64570 (Öffnet in neuem Fenster)

HEUL (leise):

https://open.spotify.com/episode/0pxwD3bfIZWy03SNW15Dkt?si=ff06eb8c11444bc9 (Öffnet in neuem Fenster)

Mein neuer Gedichtband

Hier kannst du mein neues Buch “Wir werden alle verwandelt werden direkt bestellen. Wie auch schon der Vorgänger, erscheint es im wundervollen Lektora Verlag. Ich freue mich sehr, wenn ich diese Wegstrecke und diese Spurensuche mit dir teilen darf:

https://store.ruach.jetzt/produkt/wir-werden-alle-verwandelt-werden-marco-michalzik-buch/ (Öffnet in neuem Fenster)

Liebe Grüße und bleib neugierig

Marco

PS. Wenn Du Fragen, Themenvorschläge oder Anregungen hast, schreib es gerne in die Kommentare. Ich habe große Lust dieses Format in der nächsten Zeit auszubauen und habe viele Idee für Formate und Formen, aber bin natürlich sehr gespannt, was du dir wünschst und was dich interessiert.

Kategorie Texte vom Vorhandensein

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