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Grrrooooaaaar!!

Hi, hier schreibt Laura! Und ich musste in den letzten Tagen ziemlich häufig ziemlich lange ausatmen, um meinen Parasympathikus zu aktivieren, weil WAS ZUR HÖLLE?!

Aufreger Nr. 1: Mitten in die Berichterstattung um die Vorwürfe von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt gegenüber Till Lindemann platzte eine Umfrage der NGO Plan International (Öffnet in neuem Fenster). Demnach seien, um jetzt nur ein Beispiel auszuwählen, 34 Prozent der befragten Männer schon einmal handgreiflich gegenüber Frauen geworden, um ihnen Respekt einzuflößen. Die Umfrage enthält weitere erschreckende Zahlen, die von vielen Medien aufgegriffen wurden und auch auf Social Media viral gingen. Dann wurde Kritik an der Methodik der Umfrage laut und Medien beeilten sich, ihre Berichterstattung zu korrigieren. Ihr könnt das etwa beim Spiegel nachlesen (Öffnet in neuem Fenster) oder auch im dpa-Podcast "Stand der Dinge" nachhören (Öffnet in neuem Fenster).

Leider verpassten viele Kolleg*innen dabei die Gelegenheit, das Thema Gewalt gegenüber Frauen dennoch richtig einzuordnen. Denn es gibt durchaus andere Studien, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen, etwa die Leipziger Autoritarismus-Studie (Öffnet in neuem Fenster). Im Ergebnis wird, zumindest meinem Eindruck nach, mehr über die Mängel der Studie gesprochen als über das Thema selbst. Und das ist enttäuschend. Wirklich tief enttäuschend.

Aufreger Nr. 2: Dann wäre da noch die Sache mit dem U-Boot "Titan". Das ist bei einem touristischen Tauchgang zum Wrack der Titanic verschollen. Überall auf der Welt bangen Menschen nun um das Leben der fünf Personen, denn der Sauerstoff an Bord reicht Berechnungen zufolge nur noch bis heute Mittag, also ungefähr dem Zeitpunkt, wenn euch dieser Newsletter erreicht. Und natürlich ist das ein bewegendes, trauriges Schicksal und man kann den fünf Insassen nur wünschen, dass sie rechtzeitig gerettet werden. Die Bigotterie in der Berichterstattung angesichts unzähliger Geflüchteter, die regelmäßig im Mittelmeer ihr Leben lassen, bleibt dennoch schwer erträglich. Bei Spektrum der Wissenschaft (Öffnet in neuem Fenster) gibt es einen guten Kommentar dazu. Auch beim Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster) und bei Deutschlandfunk Kultur (Öffnet in neuem Fenster) könnt ihr euch Impulse zu dem Thema abholen.

Demo-Szene: Ein Schild wird hochgehalten auf dem steht: "Boys will be boys", "boys" ist durchgestrichen und durch "held accountable" ersetzt.

Aufreger Nr. 3: Und damit zu Thomas Stein, dem Typen, der vor 100 Jahren neben Dieter Bohlen in der Jury von DSDS saß. Stein ist ehemaliger Musikproduzent und, das kann man unter rein objektiv beobachtbaren Kriterien so sagen, ein alter weißer Mann.

Diese Phrase ist selbstredend eine Chiffre, eine Trope, ein Terminus zur Komplexitätsreduktion im feministischen Diskurs. Ich erwähne das nur nochmal kurz, weil in der Sendung, um die es jetzt gehen wird, von einer "Pauschalverurteilung von Männern" die Rede war und eben jener Begriff "alter weißer Mann" mal wieder kritisiert wurde, anstatt Privilegien zu analysieren. Man muss ja auch Prioritäten setzen, nech?

Jedenfalls: Thomas Stein war am Montag zu Gast in der Polittalkshow "Hart aber fair" und wurde zu den Vorwürfen gegenüber Till Lindemann befragt. Wenig überraschend: Stein gab sich überrascht. Und verstieg sich zu Äußerungen wie jener:

"Wie der [Till Lindemann] mit 60 Jahren über die Bühne rennt, da soll der plötzlich runtergehen und jemanden beglücken? Da muss er ins Museum, das ist eine Kraft, die kannst du gar nicht aufbringen." (Thomas Stein)

Ich übersetze mal kurz: "Hä? Quatsch! Kann nicht sein, der ist doch viel zu alt zum Bumsen!" (So hat es auch Sophie Passmann (Öffnet in neuem Fenster) beschrieben.)

An dieser Stelle weise ich gerne noch einmal auf den Unterschied zwischen Sex und sexualisierter Gewalt hin. Und, nebenbei bemerkt, könnten wir auch auf die eigentlich gut gemeinte Formulierung "konsensualer" oder "einvernehmlicher" Sex verzichten. Das suggeriert nämlich, es könne auch Sex ohne Konsens geben. Nur: Dann heißt das halt Vergewaltigung.

Die Wortwahl "beglücken" im Zusammenhang mit zahlreichen Vorwürfen sexualisierter Gewalt ist bestenfalls misslungen, wenn nicht eher: überheblich, ignorant und extremst wolkenkuckucksheimig. Einmal das Selbstbewusstsein eines mittelmäßigen weißen Mannes in einer deutschen Talkshow haben, der sich bei völliger Abwesenheit jeglicher Sachkenntnis zum Thema äußert. Das wär's.

Inzwischen hat sich Thomas Stein, wieder nicht sonderlich überraschend, gegenüber T-Online (Öffnet in neuem Fenster) nichtschuldigt: "Ich stimme den Kritikern gerne zu, dass das Wort 'beglückt' falsch verstanden werden kann". Sowas könne in einer Live-Sendung ja mal vorkommen, hat er gesagt, ganz so als hätte er sich einfach nur ein bisschen verhaspelt oder irgendeine historisch bedeutsame Jahreszahl nicht gewusst.

Aber es kam noch doller. "Lassen sie es hundert sein", sagte Stein bezugnehmend auf die mutmaßlichen Opfer Till Lindemanns in der Sendung. "Da sind 300.000 Zuschauer. Das muss man dann auch mal in Relation setzen." "Jura durchgespielt" schrieb jemand in den Sozialen Medien und dem habe ich nichts hinzuzufügen. (Übrigens: Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt inzwischen gegen Lindemann.)

Und ich frage mich ernsthaft: Wann beginnen die großen Medien endlich den richtigen Leuten, die richtigen Fragen zu stellen? Angenommen, es käme zu einem Reaktorunglück neben einer Wurstfabrik. Würde dann ein Fleischereifachverkäufer bei "Hart aber fair" sitzen? Immerhin hat der doch was mit Wurst zu tun. Der kann doch bestimmt was dazu sagen! Dürften wurstessende Menschen vor laufenden Kameras sagen: "Also, meine Wurst aus dem Aldi hier bei mir im Dorf, die fand ich immer superlecker!"? Eben.

Und immer wieder die Leier von der Unschuldsvermutung. Die Unschuldvermutung ist ein juristischer Begriff und zweifelsohne ein hohes Gut, keine Frage. Vor zwei Wochen schrieb ich hier schon über die Idee der "Opfervermutung", die man der Unschuldsvermutung gegenüberstellen könnte. Und darüber, dass die Unschuldsvermutung ja auch für die mutmaßlichen Opfer gelten muss, die sich bei einer Falschaussage trotz eidesstattlicher Versicherung strafbar machen würden.

Und es ist doch nicht so, als dürften Fragen von Recht und Unrecht ausschließlich vor Gericht verhandelt werden. Mal ganz davon abgesehen, dass es in der Causa Lindemann auch um Vorwürfe geht, von denen wir alle wissen, dass sie gar nicht justiziabel sind, aber eben trotzdem moralisch verwerflich.

Gerichte sind zudem Teil der Gesellschaft, sie stehen nicht über ihr. Gesetze werden von Menschen gemacht. Von Politiker*innen. Und als Gesellschaft können und müssen wir Einfluss nehmen auf Politik und Gesetzgebung. Man denke nur etwa an den "Upskirting-Paragrafen" von 2020 oder an die Reform des Sexualstrafrechts unter dem Slogan "Nein heißt Nein" von 2016.

Jemand wie Stein, der eben keine Ahnung hat vom feministischen Diskurs und von "extremster Vorverurteilung" spricht, weiß offensichtlich nicht um all die Faktoren, die zunächst einmal ganz grundsätzlich verhindern, dass Fälle sexualisierter Gewalt überhaupt vor Gericht verhandelt werden. Darunter beispielsweise Scham und die Angst davor, dass einem keiner glaubt. Oder fehlende Grundkenntnisse in Traumapsychologie seitens der Verfahrensbeteiligten.

Ich bin nur noch müde, wütend und angeödet angesichts jener Polittalkshows, die betont kontrovers und vermeintlich ausgewogen daherkommen und regelmäßig an der eigentlichen Thematik vorbei Journalismus machen. Ein Glück, dass wenigstens die feministische Journalistin Stefanie Lohaus mit in der Runde saß. Denn Stein war wahrlich nicht der einzige, der mit zweifelhaften Äußerungen aufgefallen ist in dieser Sendung.

Ich bin weiterhin der Ansicht, dass es feministische Expertise und Fachredakteur*innen in allen großen und kleinen Medienhäusern bräuchte. Es gibt schon so viel guten feministischen Journalismus, vom Missy Magazine über die taz, bis zu zahlreichen echt tollen Podcasts. Und wir vom Lila Podcast versuchen, einer davon zu sein. Es bleibt aber der Eindruck: Feministischer Journalismus findet hauptsächlich in der Nische statt. Und da hätte ich ihn gerne raus. Bis es soweit ist, noch einmal von Herzen die Bitte: Wenn ihr es euch leisten könnt und schätzt, was wir hier tun: Unterstützt uns mit ein paar Euros.

Zum Schluss noch ein kleines Mantra zum Wiederholen: Das Patriarchat schadet uns allen. Feminismus richtet sich nicht gegen Männer.

Ich geh jetzt weiter atmen.

Alles Liebe
Laura

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Bild: Unsplash / Michelle Ding

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