Exit Antisemitism
Hi, hier schreibt Katrin. Laura hat mich gefragt, ob ich für den Newsletter nicht ein paar Dinge zur Lage in Israel schreiben möchte. Vor allem, was ich dazu in der feministischen Szene beobachte. Ich bin noch nicht ganz sicher, ob das eine Falle ist! - Aber sie hat schon recht, das Thema auszusparen wäre wie ein riesiger lila Elefant im Raum. Also kommt hier mein Versuch, meine Gedanken zu sortieren.
Als ich am Samstag, dem 7. Oktober, die ersten Nachrichten vom Massaker der Hamas an Menschen in Israel hörte, wurde mir die Dimension des Schreckens zuerst gar nicht wirklich klar.
Es dauerte ein paar Tage, bis mir das komplette Ausmaß vor Augen stand: Das Abschlachten von ganzen Familien, Vergewaltigungen, das Massakrieren von jungen Feiernden auf einem Festival – kurz: das bestialische Ermorden von ganz normalen Zivilist*innen. Mir steckte tagelang ein schwerer Klos im Hals.
Täter-Opfer-Umkehr ...
Noch nie seit der Shoah waren an einem Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet worden. Praktisch jeder in Israel kennt jemanden, der Opfer wurde. Dennoch drehte sich schon in der ersten Woche die Berichterstattung weg vom Entsetzen über die Gräuel, hin zu einem Fokus auf die Angriffe Israels gegen den Gaza-Streifen. Einem Gebiet, in dem die terroristische Hamas die Zivilbevölkerung seit Jahrzehnten als menschlichen Schutzschild nutzt, hinter dem sie sich versteckt.
Und nicht etwa wurde diese Tatsache als die Grausamkeit und das Kriegsverbrechen benannt, das sie ist. Sondern es mehrten sich „israelkritische (Öffnet in neuem Fenster)“ Stimmen, nun wurde Israel zum Täter ernannt. Zugleich wurde die Gewalt der Hamas relativiert. Eine Täter-Opfer-Umkehr innerhalb ganz kurzer Zeit. Was wichtig ist, das sind die völkerrechtlichen Aspekte der israelischen Angriffe. Im Verfassungsblog gibt es dazu eine gute Zusammenfassung (Öffnet in neuem Fenster). Natürlich gilt das Völkerrecht auch für Israel!
Trotzdem: Die Bevölkerung in Gaza ist in erster Linie Opfer der Hamas. So sehe ich das. Doch sie selbst sieht sich als Opfer Israels. Und viele kluge Menschen auf der ganzen Welt teilen diese Perspektive. Dazu kann ich zwei Texte der taz empfehlen: über die Geschichte Gazas (Öffnet in neuem Fenster) und die Geschichte der Hamas (Öffnet in neuem Fenster).
… und Bothsideism
Schon am 7. Oktober gab es Stimmen, die von einem „Befreiungsschlag“ Palästinas sprachen. Auf Instagram verherrlichten manche die Tat der Hamas. Darunter Accounts, denen wir vom Lila Podcast selbst folgten – weil sie in anderen Themenbereichen, wie antischwarzer Rassismus oder sexuelle Aufklärung wichtige Arbeit leisten. Es gab auch versteckte Relativierungen. Bei der BBC zum Beispiel, die für ihre Berichterstattung über den Krieg in Israel viel Kritik einstecken muss. (Öffnet in neuem Fenster)
Schnell breitete sich ein sogenannter Bothsidesism (Öffnet in neuem Fenster) aus – auch innerhalb der feministischen Bubble, in unserem eigenen Umfeld. Sichtbar in Kommentaren wie "Leid ist Leid" oder "Es gibt auf beiden Seiten Opfer“. Das schmerzt.
Eine Hörerin der Wochendämmerung schrieb mir etwa, dass Israel ja auch die Palästinenser*innen töte, weil sie Palästinenser*innen seien – und wiederholte damit eines der hartnäckigsten antisemitischen Narrative dieser Tage. Das Narrativ ist problematisch, weil die Hamas Juden tötet, weil sie Juden sind (Öffnet in neuem Fenster).
Israel tötet aber nicht in voller Absicht alle Palästinenser*innen, derer es habhaft werden kann. Die Zivilbevölkerung in Gaza leidet, weil sie als Schutzschild benutzt wird und die Hamas sich teils im Erdgeschoss oder Keller von Wohnhäusern verschanzt, wo obendrüber Familien leben. Die Hamas nimmt tote und verletzte Palästinenser*innen nicht nur billigend in Kauf. Sie provoziert sie absichtlich, um die entstehenden Schreckensbilder zu nutzen – um den Hass auf Israel weiter anzufachen.
Wohin noch denken?
Den besten Text zu diesem Bothsidesism und warum er unangebracht ist und gewaltvoll, schrieb Anna Mayr vergangene Woche in der ZEIT (€) (Öffnet in neuem Fenster). Sie greift einen Aufsatz von Judith Butler als eines von mehreren Beispielen heraus, und schreibt:
„Eigentlich hat Butler die Hamas einst unterstützt, als Freiheitskämpfer für die Palästinenser. Doch in ihrem neuen Essay steht zig Absätze lang immer wieder das Gleiche: Die Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, und man muss dennoch die Gewalt der Besatzungsmacht Israel sehen. Es wird deutlich, dass sie (nachvollziehbarerweise) nicht weiß, wohin sie noch denken soll.“
Man möchte hoffen, dass die Ursache wirklich eine solche Orientierungslosigkeit ist – und eben nicht die Tatsache, dass jüdisches Leid weniger wert ist. So endet Anna Mayr mit einem der stärksten und wie ich finde wichtigsten Sätze dieser Tage:
„Links sein bedeutet eben nicht, das eigene Leid in den Mittelpunkt zu stellen, sondern Hoffnung zu haben auf die Beseitigung des Leids aller.“
Eine Hoffnung, wie sie der jüdische Autor Yossi Klein Halevi in der taz besonders treffend beschrieben (Öffnet in neuem Fenster) hat:
„Es geht darum, zu einem Punkt zu kommen, an dem jeder von uns sagte: Weißt du, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich genauso empfinden. Das wäre der Durchbruch.“
Antisemitismus im Feminismus
Dass gerade in unseren feministischen Bubbles stattdessen antisemitische Takes beliebt sind, ein einseitiges Parteinehmen für Palästina und einseitiges Anklagen gegen Israel, ist leider nichts Neues. Schon 2017 sprach ich im Lila Podcast (Öffnet in neuem Fenster) mit verschiedenen Leuten, darunter die Linguistin Monika-Schwarz-Friesel (Öffnet in neuem Fenster). Aber auch Weggefährt*innen wie Antje Schrupp, Merle Stöver und Gesine Agena kamen zu Wort.
Nach dem Massaker der Hamas und den Reaktionen von Feminist*innen und intersektionalen Aktivist*innen weltweit müssen wir die Frage wieder neu stellen: Warum sind gerade in unserem Umfeld so wenige in der Lage, den verinnerlichten Antisemitismus zu reflektieren? Wie kommt es, dass ausgerechnet die, die sich sonst mit Klarheit gegen jede Ungerechtigkeit wenden, Antisemitismus nicht sehen können? Es wird in den kommenden Jahren einen Diskurs mit uns selbst brauchen, um einer Antwort näher zu kommen. So wie „Exit Racism (Öffnet in neuem Fenster)“ von Tupoka Ogette für viele ein Augenöffner war, brauchen wir augenöffnende Argumente, ein „Exit Antisemitism“ für unsere eigene feministische Bewegung.
Nein heißt Nein? Kommt darauf an ...
Seit sieben Jahren gilt im deutschen Strafrecht der Grundsatz "Nein heißt Nein." Demnach macht sich strafbar wer gegen den "erkennbaren Willen" einer anderen Person sexuelle Handlungen an ihr vornimmt. Auch ohne die Anwendung von Gewalt. In 14 EU-Ländern aber reicht ein "Nein" derzeit nicht aus, um den Tatbestand der Vergewaltigung zu erfüllen. Das soll sich ändern. Die EU plant, die Rechte von Vergewaltigungsopfern zu stärken und das Strafrecht zu verschärfen. EU-weit soll dann gelten: Nur "Ja heißt wirklich Ja."
"Es gibt keine wirkliche Gleichberechtigung ohne Freiheit von Gewalt." – Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union (Öffnet in neuem Fenster).
Ausgerechnet Deutschland blockiert nun die Verschärfung des Strafrechts. "Ohne Deutschlands Zustimmung (…) ist die erforderliche Mehrheit im Rat der Mitgliedstaaten in weiter Ferne", heißt es beim ZDF (Öffnet in neuem Fenster).
Der Grund: FDP-Justizminister Buschmann äußert "erhebliche Zweifel". Die EU habe möglicherweise nicht die erforderliche Kompetenz. Zwar könne die EU im Bereich besonders schwerer Kriminalität Mindeststrafen vorschreiben, dies umfasse jedoch nicht die Vergewaltigung. Anders gesagt: Unser Justizminister verharmlost geschlechtsspezifische Gewalt. In aller Öffentlichkeit. Und trägt damit dazu bei, dass die Unversehrtheit von Frauen in Europa weiterhin eine Frage ihres Wohnortes bleibt.
https://www.youtube.com/live/3Sr3hoi2MRs?feature=shared (Öffnet in neuem Fenster)Wie sich geschlechtsspezifische Gewalt verhindern ließe, darüber habe ich am 14. Oktober beim Human Rights Film Festival (Öffnet in neuem Fenster) gesprochen mit:
Katharina Wulf, Geschäftsführerin des Landesverbands Frauenberatung Schleswig-Holstein
der Journalistin Julia Cruschwitz, die das Buch "Femizide" geschrieben hat,
der Autorin und Anwältin, Asha Hedayati,
und Karin Heisecke von der Malisa-Stiftung
Ihr könnt den Talk bei YouTube sehen oder bei uns im Podcast (Öffnet in neuem Fenster) nachören. Und weil es (leider) so gut zum Thema passt, sei euch hier auch noch einmal die Folge (Öffnet in neuem Fenster) von Laura zusammen mit Asha Hedayati empfohlen, in der es unter anderem um die Rolle der FDP im antifeministischen Rollback innerhalb der deutschen Politik geht.
On a happy note
(Öffnet in neuem Fenster)Am Ende dieses langen, eher düsteren Newsletters möchten wir euch noch auf etwas aufmerksam machen, über das wir uns diese Woche sehr gefreut haben. Detektor.fm (Öffnet in neuem Fenster) empfiehlt den Lila Podcast im "PodcastPodcast (Öffnet in neuem Fenster)". Das Kurzformat hat das Ziel, Hörer*innen aus ihren Bubbles zu holen und auf Produktionen aufmerksam zu machen, die sie noch nicht kennen. Wir werden darin als "Klassiker" unter den feministischer Podcasts bezeichnet. Wir fühlen uns sehr gesehen in unserem Anspruch, ein inkludierender, intersektionaler Podcast zu sein, der sich laufend neu erfindet. Vielen Dank für die Empfehlung!
Wenn ihr uns unterstützen möchtet, dann teilt doch gern den Link zum "PodcastPodcast". Die knapp sieben Minuten sind perfekt, um sich einen ersten Eindruck vom Lila Podcast zu machen. Ihr könnt außerdem:
den Lila Podcast Shop besuchen (Öffnet in neuem Fenster)und euch mit feministischem Merch eindecken
Freunden von uns erzählen und Liebglingsfolgen mit ihnen teilen
Alles Liebe,
eure Katrin
Fotos: Unsplash – Taylor Brandon und Mika Baumeister