Feminismus ist Heilung
Es heißt ja: Never judge a book by it’s cover. Aber kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr ein neues Buch in die Hand nehmt und direkt wisst, dass es gut ist? Ich kann das gar nicht richtig beschreiben, es ist einfach eine Art Anziehungskraft. So ging es mir zuletzt mit „Mein einziges Zuhause” von Hanna Brotherus.
Hanna Brotherus ist Regisseurin, Choreografin und Tänzerin aus Finnland. Und ihr einziges Zuhause, das ist ihr Körper. In ihrem autofiktionalen Debütroman schreibt Brotherus über Essstörungen, die sich über mehrere Generationen durch ihre Familie ziehen – beinahe wie eine Art Fluch. Als Hanna Kind ist, erkrankt ihre Schwester daran. Später entwickelt Hannas Tochter dieselbe Essstörung. Und auch Hanna selbst kämpft mit ihrem Körper.
Im Interview mit dem fluter (Öffnet in neuem Fenster) sagt Hanna Brotherus: „Wir wurden als Mädchen dazu erzogen, immer brav zu sein, niemals wütend. Nach außen sollte unsere Familie aussehen, als sei alles schön, als hätten wir alles unter Kontrolle (…). Während meine Schwester durch die Magersucht Kontrolle über ihren Körper ausübte, verlor ich die Kontrolle über meinen. Dafür habe ich mich sehr geschämt.”
Es geht also vordergründig nicht um die Essstörung als solche. Eigentlich ist das dahinterliegende Thema transgenerationales Trauma. Genauer: transgenerationales Trauma im Patriarchat. Denn diese beiden Dinge, Trauma und Patriarchat, gehören zusammen. Darüber habe ich in der letzten Folge des Lila Podcasts (Öffnet in neuem Fenster) mit der österreichischen Autorin und Podcasterin Beatrice Frasl gesprochen.
Der vielleicht berühmteste erste Satz in der Weltliteratur lautet „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Mit diesen Worten beginnt Tolstois Anna Karenina. Manchmal frage ich mich, ob das wirklich so ist. Dass jede Familie auf ihre Weise unglücklich ist. Was, wenn es nur der Ausdruck des Unglücks ist, der sich unterscheidet? Bei den einen die Essstörung, bei den anderen Alkoholsucht oder toxische Beziehungen. Und was, wenn unter alldem das Patriarchat liegt? Mir erscheint das ziemlich logisch. Intuitiv wahr. Ich habe große Lust, diesen Gedanken weiterzuverfolgen und zu untersuchen.
Einer meiner Lieblingssätze aus „Mein einziges Zuhause” lautet übrigens so:
„Jede Mutter, in jedem Land dieser Welt, ringt mit ihrer Unvollkommenheit. Und jedes Kind wird von seiner Mutter enttäuscht und verletzt, überall und ausnahmslos.”*
*Für den Kontext: Hier reflektiert eine Mutter die Beziehung zu ihren Kindern. Ihr dürft gern gedanklich „Väter” oder „Eltern” in dem Satz ergänzen.
Ein rauer Satz, der zunächst bedrücken mag. Aber für mich, als Mutter und Tochter im Patriarchat, liegt etwas ungeheuer Tröstliches darin. Unvollkommenheit ist unvermeidbar. Verletzte Menschen verletzen. Aber „uns zu unserer Unvollkommenheit zu bekennen”, schreibt Brotherus, „ist ein wichtiger Schritt, um zu wahrhaftigen, guten Eltern zu werden. Kinder, die mit solchen Eltern aufwachsen, erfahren Sicherheit und Freiheit.” Es mag ungeheuer pathetisch klingen und vielleicht bin ich heute ein bisschen melancholisch, aber: Feminismus ist Heilung.
Pippi ist politisch I
Wir bleiben noch einen Moment beim Thema Literatur. In der zweiten Folge zum Thema Feminismus und Mutterschaft (Öffnet in neuem Fenster) habe ich darüber gesprochen, dass ich die Rollen von Annika und Tommy umdrehe, wenn ich meinem Kind Pippi Langstrumpf vorlese. Eine*e Hörer*in schrieb daraufhin einen enttäuschten Kommentar. Darauf würde ich gerne eingehen: Warum lese ich meinem Kind ein Buch vor, dass völlig zurecht für seine rassistische Grundstruktur kritisiert wird?
Mein Ansatz sieht so aus: Solange die Vorteile überwiegen, nutze ich in Teilen problematische Bücher, Serien, Filme und Co., um dem Kind Themen wie Rassismus und Kolonialismus, aber auch Sexismus oder Ableismus näher zu bringen. Ich kommentiere, was ich vorlese. Ich drücke die Stopptaste, um mit dem Kind ins Gespräch zu gehen.
So versuche ich, meinem Kind ein Vokabular an die Hand zu geben und es zum kritischen Denken anzuregen, ohne ihm eine Sendung oder ein Buch madig zu machen, das es gern mag. Parallel dazu achte ich darauf, genügend andere Angebote zu machen und ich bin total froh darum, wie vielfältig und diskriminierungssensibel viele moderne Kinderbücher und -serien sind. Btw: Würdet ihr gerne eine Folge Lila Podcast zum Thema feministische Kinderbücher hören?
Versteht mich nicht falsch: Ich wähle nicht in konkreter Absicht problematische Kindermedien aus. Aber sie existieren nun einmal. Ich glaube nicht, dass wir Rassismus, Sexismus und Co. dadurch bekämpfen können, oder unsere Kinder davor schützen, indem wir sie ignorieren oder unsere Kinder davon fernhalten. Im Gegenteil: Ich glaube, sie könnten dann eine Art Realitätsschock erleiden und wissen gar nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Daphna Joel schreibt in „Das Gehirn hat kein Geschlecht” im Kontext Sexismus: „Wir müssen Kinder wissen lassen, dass die Welt nach wie vor unterschiedliche Erwartungen an Jungen und Mädchen hat und dass manche Menschen eben eine beschränkte Sichtweise haben. Sonst finden sie es möglicherweise selbst auf die harte Tour raus.”
Selbstverständlich gibt es Grenzen. Es gibt Ausdrücke, die einfach gar nicht gehen und es gibt Bücher, Serien und Filme, die Schrott sind.
Pippi ist politisch II
Kein Newsletter ohne Kalauer oder schlechte Überleitung: Wir bleiben beim Thema Pippi. Denn: Pinkeln ist politisch. Minusch, Katharina und ich arbeiten an einer weiteren Episode zum Thema feministische Stadtplanung. Diesmal mit dem Schwerpunkt Toiletten.
In der letzten Ausgabe des Newsletters hab ich euch von der Niederländerin Geerte Piening erzählt, die eine Geldstrafe fürs Wildpinkeln bezahlen musste. Der Richter war der Ansicht, sie hätte eines der 35 Pissoirs in Amsterdam nutzen können. (Keine Pointe.)
Frauen müssen bei der Gestaltung des öffentlichen Raums mitgedacht werden. Aber eben nicht nur Frauen! Was ist z.B. mit den Bedarfen von trans Menschen? Wie sieht es aus für Menschen mit einer Behinderung? Darüber möchten wir sprechen und wir würden gern eure Perspektiven hören!
Schickt uns bis zum 8. Juli eine Sprachnachricht. Entweder per Mail an post@lila-podcast.de (Öffnet in neuem Fenster) oder per DM über Instagram. Wer seine Stimme nicht im Podcast hören mag, darf auch einfach schreiben.
Und falls ihr euch fragt, wer war jetzt noch einmal Minusch …
Die neue Stimme im Lila Podcast: Minusch!
Wir freuen uns riesig, dass Minusch Afonso als neue Host unser Lila Team erweitert und bereichert. Ihr habt sie bereits gemeinsam mit Lena in unserer Folge zum Thema Trad Wives (Öffnet in neuem Fenster) hören können. Hier stellt sie sich noch einmal vor.
Feminismus bedeutet für mich:
… dass man nicht picky ist, welche Frau man supportet und welche nicht.
Über dieses Thema möchte ich unbedingt im Lila Podcast sprechen: Frauengesundheit und Gender Data Gap.
Ich liebe:
Käsespätzle.
Ich hasse:
Oliven.
💜💜💜
Welcome, Minusch! Schön, dass du da bist.
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Außerdem ganz neu: Unser Intro! Gefällt es euch auch so gut wie mir? Mich macht die Musik gleichzeitig kämpferisch und glücklich. Nach jeder neuen Folge habe ich tagelang einen Ohrwurm.
Bis bald im Podcast oder im Postfach …
Laura
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Credits:
Buchcover: Ullsteinverlag
Minusch Afonso: Vera Johannsen
Teaserbild: Unsplash/Ante Gudelj