Rammstein: Was ihr euch jetzt reinziehen könnt
(CN: Sexualisierte Gewalt, Victim Blaming) Hi, hier schreibt Laura. Wie viele von euch vermutlich auch, habe ich in den letzten Tagen fassungslos die Entwicklungen um Till Lindemann, Sänger der Band Rammstein, verfolgt. Neben den mutmaßlichen Akten sexualisierter Gewalt, die Lindemann vorgeworfen werden, sind es besonders die widerwärtigen Reaktionen auf diese Vorwürfe, die mich erschüttern, ja regelrecht anekeln.
Dabei ist das natürlich nicht neu. Es ist das typische kollektive Gaslighting des Patriarchats, das zuverlässig auf dem Fuße folgt, wann immer Frauen öffentlich ihre Stimmen erheben und Missbrauch als solchen benennen. In ihrer Kolumne für Übermedien (Öffnet in neuem Fenster) (€) bringt es Samira El Ouassil folgendermaßen auf den Punkt:
"Was den mutmaßlichen Opfern, die von ihren verstörenden Erfahrungen bei Rammstein-Konzerten berichten, vorgeworfen wird, ist in Wahrheit die Projektion von Verteidigern, die sich hier leidenschaftlich ahnungslos geben. Es ist intellektuelle Selbstverleugnung (…)."
Ihr Text ist einer von mehreren Takes, die ich euch mit auf den Weg geben möchte: Ich habe mich entschieden, in diesem Newsletter heute Platz zu machen, für kluge Gedanken anderer.
Gleich vorweg: Wenn ihr wenig Kapazitäten habt und euch heute nur eine einzige Sache zu diesem Thema geben wollt, dann nehmt bitte dieses Video von Rezo:
https://youtu.be/ZEf5t26u8PM (Öffnet in neuem Fenster)Rezo hat hier in Rekordgeschwindigkeit ein fundiertes, leicht zugängliches Video produziert. Er nimmt darin das Victim Blaming, das unzähligen Kommentaren zu Grunde liegt, auseinander und ordnet es ein. Nebenbei ist sein Video ein Schnellkurs in Sachen Verdachtsberichterstattung und Unschuldsvermutung. Mich hat vor allem beeindruckt, wie anschaulich er die perfide Systematik hinter den mutmaßlichen Vorfällen aufschlüsselt.
Rezos Beitrag ist aus meiner Sicht auch ein gelungenes Beispiel dafür, wie cis Männer ihre Positionen (Plattformen, Reichweiten, …) nutzen können, um sich mit Frauen und insbesondere Opfern sexualisierter Gewalt zu solidarisieren.
Wie alles begann
Wer ein bisschen tiefer einsteigen möchte, sollte sich den Tweet der Irin Shelby Lynn anschauen, mit dem Ende Mai alles losging:
Auf Twitter postet sie Fotos von ihrem Körper mit deutlich sichtbaren Hämatomen. Sie schreibt dazu, dass sie sich nicht erklären könne, wo diese Verletzungen herkommen und dass sie vermutet, bei einem Konzert von Rammstein unter Drogen gesetzt worden zu sein. Zahlreiche Frauen solidarisieren sich mit ihr und berichten von eigenen Erfahrungen auf Konzerten der Band.
https://twitter.com/Shelbys69666/status/1661534775729967105?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)Wenige Tage später offenbart eine Recherche von NDR und SZ (Öffnet in neuem Fenster), dass mutmaßlich gezielt junge Frauen auf Konzerten von Rammstein rekrutiert werden, um unter Einfluss von Drogen Sex mit Till Lindemann zu haben. Zwei Frauen berichten von sexuellen Handlungen, denen sie nicht zugestimmt haben.
Die Youtuberin Kayla Shyx veröffentlicht daraufhin ein Video, in dem sie von ihren Erfahrungen auf einem Rammstein-Konzert im Juni 2022 berichtet.
https://youtu.be/9YLsMXyo3Uc (Öffnet in neuem Fenster)Ebenfalls empfehlen möchte ich euch die Einschätzung des Musikjournalisten M.C. Lücke auf Radioeins. (Öffnet in neuem Fenster) Er hält das Ende der Band Rammstein für wahrscheinlich.
"In den heimischen vier Wänden werden Fragen wie Was ist da gelaufen?, Was hast du davon gewusst?, Wobei hast du mitgemacht? beantwortet werden müssen. Und jedes Mitglied von Rammstein steht für mich in der Verantwortung wie auch das gesamte Umfeld der Band und darüber hinaus viele Weggefährt*innen. (…) Und damit meine ich auch viele Kolleginnen und Kollegen aus der Berliner Musikszene, die Rammstein über Jahre gegen Kritik an ihrem Auftreten und ihren Texten verteidigt haben."
In diesem Take kommentiert M.C. Lücke auch das Schutzkonzept, das nun eifrig aus dem Boden gestampft wurde und unter anderem den Einsatz von "Awareness-Teams" auf Konzerten beinhaltet.
Wir brauchen eine Opfervermutung
Soweit die aktuelle Einordnung rund um die Vorfälle. Nun möchte ich euch ein Gespräch mit der Rechtsanwältin Christina Clemm (Öffnet in neuem Fenster) von Januar 2022 empfehlen. Clemm ist auf geschlechtsspezifische Gewalt spezialisiert und hat das Buch "Akteneinsicht" geschrieben. Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur hat sie den für meine Ohren völlig neuen Begriff der "Opfervermutung" ins Spiel gebracht:
"Die Undschuldsvermutung ist ein sehr hohes Gut, da sollten wir nicht dran rütteln. (…) Ich denke man sollte aber, so wie wir die Unschuldsvermutung haben, so etwas wie eine Opfervermutung in einem Strafverfahren haben. Also genau der gleiche abstrakte Gedanke, der eben heißt: Ich habe eine Person, die sich selbst als Verletzte bezeichnet, so lange so zu behandeln, als sei sie es auch, und genauso respektvoll mit ihr umzugehen."
Ich finde das ist ein grandioser Gedanke und eine sehr sinnvolle feministische Forderung.
Dazu passt dieser Text von Margarete Stokowski aus dem Jahr 2021 (Öffnet in neuem Fenster), in dem sie schreibt:
"Unschuldsvermutung ist ein Zauberwort, das alle Erzählungen, die außerhalb des Gerichtssaals stattfinden, zu Staub zerfallen lassen soll. Aber mit der Unschuldsvermutung ist es so eine Sache. Denn die Unschuldsvermutung gilt auch für Frauen, die Männern Übergriffe vorwerfen. Man muss erst mal davon ausgehen, dass sie nicht lügen (…)."
In diesem Zusammenhang möchte ich euch auch noch auf einen Faktencheck vom SWR aus dem Jahr 2021 (Öffnet in neuem Fenster) zum Thema Falschbeschuldigungen hinweisen.
Und zum Schluss noch einmal Margarete Stokowski (Öffnet in neuem Fenster), für alle, die sich mit den Gedichten von Till Lindemann und dem Argument der Trennung von Kunst und Künstler auseinandersetzen wollen.
Passt auf euch auf.
Laura
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Bild: Screenshot Rezo