Zum Hauptinhalt springen

Fokusthema

Digitalisierung und Nachhaltigkeit: Meine 10 größten Learnings von der Bits & Bäume-Konferenz

Bild: S. Kabisch / Grafik:  Studio animanova, Christoph Kellner

In meinem utopian fiction-Universum sind digitale Agenty nicht aus dem Alltag wegzudenken, wie für einige von uns heute schon Siri, Alexa und Co. Unsere Kommunikations- und Organisationsprozesse zu digitalisieren kann nachhaltige Produktions- und Gemeinschaftsprozesse fördern und Lebensumgebungen menschenfreundlicher machen - aber natürlich auch zum Gegenteil führen: soweit, so pauschal. Ich wollte wissen, an was für neuen Lösungen schon in Wissenschaft und Graswurzelszenen gearbeitet wird - etwa im Bereich vernetzter Mobilität und kooperativen Plattformökonomien - und wie Beteiligte generell über das Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit denken. 

Ein Bündnis verschiedener wissenschaftlicher Institutionen und Initiativen hat zu diesem Spannungsfeld eine neue "Bits & Bäume-Konferenz" im September/Oktober 2022 in Berlin veranstaltet, darunter sind u. a. der Chaos Computer Club, die TU Berlin und das Konzeptwerk Neue Ökonomie. Sehr schöne Sache. Hier liest du meine größten "Aha-Effekte" und findest dazu jeweils die zugehörigen Links zu den aufgezeichneten Veranstaltungen, auf die ich mich beziehe, gerne zum Nachschauen. Mehr Infos zur Konferenz und alle Aufzeichnungen der Veranstaltungen gibt's hier (Öffnet in neuem Fenster).

Dieser Post hat ganz im Sinne des open source-Gedankens keine paywall.

Bild: Silke Mayer, bits-und-baeume.org

1. Komplexe, wissenschaftliche Konferenzen müssen nicht teuer und zentralistisch organisiert sein

Die B&B hat vier verschiedene Tickets angeboten, von einem Soliticket bis hin zu einem Supporterticket – die, die es können, finanzieren jene quer, die aktuell nicht viel aufbringen können. Teilnehmer*innen konnten sich in ein Engelsystem eintragen und dann vor Ort selbst gegen freie Essensmarken usw. beim Infopoint, Ticketkontrolle, Gemüseschnippeln und Konferenztechnik helfen. Auch Studierende der TU Berlin wurden so mit einbezogen. Man musste einen negativen Coronatest nachweisen, aber konnte diesen selbst machen und sich damit dann (mit Zeitstempel) fotografieren. Das vegane Essen bekam man auf Spendenbasis. Alles unkompliziert. Die solidarische Graswurzelkultur hat Einzug erhalten in wissenschaftliches Zusammenkommen.

2. Aus Produkten werden Dienstleistungen 

Der Verein Circular Economy (arbeitet zu cradle to cradle) hatte einen Info-Stand im Forum. Im Gespräch erfuhr ich, dass sie mittlerweile zu der Ansicht gekommen sind, dass es nicht reichen wird, nur auf Kreislaufwirtschaft zu setzen (also möglichst alle Ressourcen nach dem Verbrauch zu neuen Ressourcen zu machen), sondern dass aus Produkten auch Service-/Dienstleistungen werden müssen: Es bringt nichts, wenn die Waschmaschine komplett recyclebar ist, aber trotzdem alle zehn Jahre ausgetauscht wird – es geht darum, sie lange zu nutzen und dafür seitens der Hersteller Upgrades für die Nutzung anzubieten. (Das wird allerdings meiner Ansicht nach kaum mit stetem Wirtschaftswachstum vereinbar sein; ein weiteres Argument, dieses System zu überdenken.)

Cradle to Cradle (Öffnet in neuem Fenster)

3. Südamerika hängt an einem einzigen Kabel

Auf dem Panel Global Justice and Digitalisation hieß es einmal, wenn ich das richtig erinnere, die digitale Kommunikation auf dem gesamten südamerikanischen Kontinent hänge quasi von einem einzigen Tiefseekabel ab, das durch Miami verläuft. Diese Sphäre sei, wie auch weltweit, kontrolliert von Konzernen aus dem Silicon Valley. Es brauche jetzt ein Umdenken, das zu dezentralisieren. Krasse Vorstellung! Vor allem in Zeiten, in denen virtueller Terrorismus zunimmt und IT-Konzerne ihre Macht immer noch weiter ausbauen. Digitalisierung sollte jedoch zu mehr dezentralen, kollaborativen Machtstrukturen und nicht mehr Zentralismus führen langfristig. Das ist eine politische, keine technische Angelegenheit.

Global Justice and Digitalisation (Öffnet in neuem Fenster)

Bild: bits-und-baeume.org / Grafik:  Studio animanova, Christoph Kellner

4.  Mehr High-Tech-Wissen für lokale Communities

Der afrikanische IT-Aktivist Gabriel Karsan erzählte auf demselben Panel von einem jungen Mädchen aus einem afrikanischen Dorf ohne Stromversorgung, das mit neuen Technologien und Wissen durch ein Investitionsprogramm in Verbindung gebracht wurde und daraufhin eine innovative Lösung in Bezug auf Solarstromversorgung fand. Sein Fazit: Es muss mehr Kapital in die Selbstorganisation und selbstbestimmte Lösung von lokalen Communities im Globalen Süden fließen. Meine Idee daraufhin, die ich in mein utopian fiction Universum einfließen lassen will: Es geht (auch) um einen Bewusstseinsshift bei finanziellen Eliten, hinter denen (auch) nur einzelne Menschen stehen. Entschieden sich etwa nur fünf der reichsten Menschen der Welt, einen Teil ihres Vermögens fortan in solche Formen von Selbstermächtigung - d. h. lokales Wissen von Betroffenen und High Tech zusammenbringen - könnte das eine Lawine wachsenden selbstorganisierten Wohlstands auslösen, die globale Umverteilung fördern und das Ende des Erste Welt-andere Welten-Gefälles einläuten.

Global Justice and Digitalisation (Öffnet in neuem Fenster)

5. Es wird möglich werden, seine eigenen Internet-Spuren zu verwalten

Sind wir ewig darauf angewiesen, dass alle unsere Spuren, die wir jeden Tag im Netz hinterlassen, irgendwo ohne unsere Kontrolle abgespeichert sind, ohne dass wir darüber verfügen können? Nicht unbedingt. Es gibt seit 2020 Forschungen etwa an der TU Berlin dazu, wie ein „attributable Web“ als semantisches Web funktionieren könnte. So wie ich das verstanden habe, geht es darum, inhaltliche Daten (wie etwa einen Post bei Twitter oder Facebook) auch unabhängig von der Plattform selbst verwalten zu können, also Interface und Content und deren Speicherung zu trennen. Es sollte den eigenen Content, den man so produziert, menschenlesbar, einsehbar, löschbar und verwaltbar machen. Diese alternative Form muss kompatibel mit dem aktuellen Web sein, zunächst in Zwischenräumen laufen und auf dem aktuellen Web aufbauen. Eine interessante Frage, die sich dann stellt, ist die nach dem neuen workload, der dadurch entsteht. Natürlich möchte man nicht Stunden damit zubringen, seine sämtlichen Social Media-Posts zu verwalten und entscheiden, was man damit tut. Auch hier müssten uns wohl Algorithmen unter die Arme greifen, die nach unseren Bedarfen und Wünschen speichern, löschen und archivieren.

Attributable Web: der Entwurf eines dezentralen, kontextualisierten Webs (Öffnet in neuem Fenster)

Bild: bits-und-baeume.org / Silke Mayer

6.  Blockchain? Unnachhaltig

Blockchain ist ökologisch gesehen total unnachhaltig, aber es wird derzeit, mit der Verheißung, zukünftig tolle Lösungen produzieren zu können, ohne Ende Kapital hinein investiert, weil es letztlich (wie ja quasi alle Lebensbereiche in diesem System) Investoren zum Geldverdienen nützt. Und nur, weil etwas dezentral ist, heißt es nicht, dass es zwangsweise demokratisch ist, und „open source“ ist nicht automatisch immer ethisch, es kommt natürlich auf die Nutzung an. Blockchaintechnologien suggerieren, dass wir die Machtfrage nicht mehr stellen müssen. In der Praxis treffen immer noch die mit dem meisten Kapital die Entscheidungen. Das war mein Fazit nach dem Panel, das du hier findest:

Darf es noch etwas Klimawandel zu Ihrem NFT sein? (Öffnet in neuem Fenster)

7.  Unsere Mobilitäts-Spuren müssen wir vergesellschaften

In Bezug auf Mobilität müssen wir vom Eigentum hin zum Bedarf der Mobilität kommen. Eigentum kann Mobilitätsbedürfnisse nie vollständig erfüllen, so, wie ein Auto in der Garage die meiste Zeit herumsteht, je nach Anlass entweder zu groß oder zu klein ist und meist mit nur einer Person besetzt fährt. Mobilitätsdaten müssen schlicht vergesellschaftet werden, damit Logistik-Kapazitäten geteilt werden können, so MdB Anke Domscheidt-Berg. Diese Ansicht kam für mich nicht überraschend, weil alle diese Punkte im utopian fiction-Universum bereits integriert sind.

Darf es noch etwas Klimawandel zu Ihrem NFT sein? (Öffnet in neuem Fenster)

8. Eine Ampel für jede Haustür

Neu war für mich dagegen eine Idee, die Anke Domscheidt-Berg ansprach und die ich beizeiten ins utopian fiction-Universum einbauen werde: Was wäre, wenn jedes Haus selbst Solarenergie erzeugt und ein Ampelsystem vor der Haustür hat – wenn dieses grün leuchtet, gibt es einen Energieüberschuss, den sich Nachbarn (vielleicht gegen geringe Gebühr) abzapfen können. Weiterführende Fragen sind dann natürlich: Was, wenn alle witterungsbedingt immer zur selben Zeit Überschüsse haben? Oder, wenn sich ein Nachbar etwas abzapft, obwohl man gerade noch große Waschpläne hatte? Alles Fragen, die sich je nach Szenario wahrscheinlich recht schnell klären lassen würden. Aber umso wichtiger, in diese Szenarien einzusteigen, so dreht sich die Wissensevolution weiter.

Darf es noch etwas Klimawandel zu Ihrem NFT sein? (Öffnet in neuem Fenster)

Bild: bits-und-baeume.org / Silke Mayer

9.  Digitale Werkzeuge für effektivere Ressourcen-Verteilung? Let's go

Wie lassen sich lokale Bedürfnisse decken, ohne den Verteilungsmechanismus des Geldes oder zentralistische Planwirtschaft, und in nachbarschaftlichen Zusammenhängen? Das Projekt „Global Commoning System“ im Umkreis des Commons Instituts denkt an Werkzeugen (keinen Weltentwürfen) herum und testet demnächst eine erste App, wie Marcus Meindel in einem Slot vorgestellt hat. Sie stützen sich auch auf Arbeiten der Commonsforscherin Silke Helfrich. Sie freuen sich über Austausch – auch eine gute Gelegenheit für zukünftige utopian-fiction-Recherchen.

Das Global Commoning System (Öffnet in neuem Fenster)

10. Imagine the end of ...

Irgendwo - ich habe vergessen, in welchem Slot des so umfangreichen Programms, das du ja komplett videoaufgezeichnet auf der Website (Öffnet in neuem Fenster)nachschauen kannst - habe ich den Satz gehört: „Its easier to imagine the end of the world than the end of capitalism.“ Was aber würde es heißen, wenn es doch gelänge? Es müsste jedenfalls auch heißen, in einer gesunden Art und Weise die positiven systemischen Errungenschaften wie Leistungswille, Effizienz, Kundenorientierung und Wohlstand mitzunehmen in ein komplexer und lebensdienlicher organisiertes System, das diese in neue Paradigmen integriert. Für möglich zu halten, dass es dieses jenseits des "Ende der Geschichte" geben könnte, fällt immer noch schwer. Doch auch dieses Schwerfallen kann eines Tages vorbei sein. Wie die argentinische Sängerin Mercedes Sosa singt: "Cambia, todo cambia".

Die Bits & Bäume-Bewegung beschränkt sich dementsprechend nicht auf das Organisieren von Konferenzen, sondern stellt klare politische Forderungen. Letztlich geht es darum, die Digitalisierung stärker in den Dienst der Gesellschaft und des sozialen und ökologischen Wandels zu stellen und digitale Technologien durch gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und innerhalb der planetaren Grenzen zur Verbesserung von Lebensbedingungen und der Umwelt zu nutzen, statt dadurch schon existierende gesellschaftliche und ökologische Krisen noch weiter zu verschärfen. Hier (Öffnet in neuem Fenster) gibt's alle konkreten Forderungen.

Fun Fact: Unter dem Titel "Bits und Blütenstaub", ein Jahr vor der ersten Konferenz, habe ich im Rahmen meiner damaligen utopischen Wissensarbeit einen Essay zum Verhältnis von Digitalisierung und Nachhaltigkeit für den Blauen Reiter geschrieben. Hier kannst du in die Leseprobe (Öffnet in neuem Fenster) reinlesen.

Kategorie Fokusthema

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von JuliTopia und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden