Was kommt nach der Demokratie? (Teil 1)
Findest du auch, dass die öffentliche Debatte zu diesem Thema gerade ziemlich verfahren ist? Überall sieht man die Demokratie gefährdet. Rechte Straftaten nehmen auch tatsächlich zu, rechtspopulistische Parteien bekommen Zulauf. Aber helfen ständige Beteuerungen, dass die Demokratie gerettet werden müsse, tatsächlich weiter? Oder sind sie vielmehr nur Symptom eines viel weitreichenderen Wandlungsprozesses?
Nehmen wir eine systemische Perspektive ein. Ein System ist ständig im Wandel. Wenn es sich nicht weiter entwickelt, heißt es, fällt es zurück in das Stadium, in dem es zuvor war. Einfrieren im Status Quo geht nicht. Dies zeigt sich mittlerweile deutlich beim Thema Demokratie.
Die These dieses Newsletters lautet daher: Die Demokratie muss transzendiert werden, wenn die Werte von Toleranz und Vielfalt, die sie ausmachen, erhalten bleiben sollen, frei nach dem Motto: “Nur, wer sich verändert, kann sich treu bleiben.”
Und ganz ehrlich: Alle paar Jahre ein Kreuz auf einem Zettel machen, sich vertreten lassen (auf nationaler Ebene) von Parteimitgliedern, die von eigenen Karrieren und Wiederwahl abhängen und (auf europäischer Ebene) von ungewählten Politiker*innen, deren Gesetzesentwürfe in engem Kontakt zu Lobbyisten entstehen und die regionale Unterschiede gleichmachen – das fühlt sich nicht nach einem Umfeld an, in dem Toleranz und Vielfalt gedeihen.
Foto: pexels
Um das klar zu sagen: Es geht hier nicht darum, den fortschrittlichen Aspekt von Demokratien kleinzureden. Grundrechte und geteilte Gewalten im Staat zu haben, überhaupt wählen zu können sind natürlich nicht selbstverständlich, sieht man sich die letzten tausende Jahre Menschheitsgeschichte an. (Und gemäß dem Demokratieindex 2021 leben auch heute nur etwa 6 % der Weltbevölkerung in „vollständigen Demokratien“, ca. 40 % in „unvollständigen Demokratien“, ca. 17 % in teildemokratischen Systemen und 37 % (!) in Autokratien. Diese Tatsache soll auch nicht heruntergespielt werden.) Aber wollen und können wir kollektiv als Menschheit dabei stehen bleiben?
Im Folgenden drei Argument-Schlaglichter, warum trotzdem an der Demokratie nichts bleiben kann, wie es ist.
Bild: Faksimile des Grundgesetzes von 1949, wie es jedes Mitglied des Parlamentarischen Rates erhielt, Quelle: Wikipedia
Demokratie – ein Relikt
Die Tatsache etwa, dass sich das kollektive politische Selbstverständnis in den USA an einen Text “klammert”, der um 1790 geschrieben wurde von damaligen Delegierten, die in einer komplett anderen Welt und Weltanschauung lebten, mutet seltsam aus der Zeit gefallen an. Selbst das deutsche Grundgesetz erscheint wie ein Relikt – ein Text, den einige Männer und Frauen in einer Zeit des Nachkriegs-Chaos gemeinsam erarbeiteten, mit einem Wissens- und Bewusstseinsstand von 1949. Witzigerweise wurde es genau heute, am 23. Mai, vor 75 Jahren unterschrieben (s.o.).
Während in Forschung und Entwicklung (zumindest technische) Innovationen regelmäßig für Disruptionen sorgen, scheint dies für politische Konstrukte nicht zu gelten, weil sie zugegeben ungeheuer komplex und voraussetzungsreich sind. Niemand scheint das antasten zu wollen, zumindest nicht die, die jeweils in Machtpositionen sind. Hinzu kommt die historisch nahvollziehbare, in der Sache nach richtige deutsche Angst, so etwas wie Menschenrechte nicht “antastbar” machen zu dürfen.
Bild: Wandfresko: Die Schule von Athen, Rafael 1509. Wikimedia Commons.
Das Konzept der Demokratie, der Herrschaft des Volkes, ist somit selbst ein von der Praxis einer über zweitausend Jahre alten Kultur übernommenes Relikt. Damals gab es noch keine der heutigen Informationstechnologien, die Menschen und Meinungen vernetzen (Stichwort: “liquid democracy”). Das Konzept passt nicht mehr zu unseren neuen Wissensinfrastrukturen.
Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, den ich interessant finde und der im Diskurs oft nur unterschwellig anklingt: Das Thema Augenhöhe beim Missionieren eigener Wertvorstellungen.
Verschieden, aber bitte alle auf dieselbe Art
In seinem Buch “Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik” schreibt der Friedensforscher Harald Müller (u.a. Berater des ehem. UN-Generalsekretärs Kofi Annan), dass Entwicklungsprojekte meist aus westlicher Perspektive entworfen sind und Verschiedenheit der Kulturen herunterspielen. Der Respekt von Verschiedenheit ist aber ein wesentliches Merkmal von Demokratie, sie funktioniert nicht paternalistisch.
So ungewohnt das also auch klingen mag – der Westen kann nicht erwarten, dass Länder sich demokratisieren. Natürlich sind demokratische Formen lebensdienlicher für den Einzelnen als autokratische Formen, aber dieser Prozess kann sich nur organisch und anhand von Anreizen, kulturellem Austausch, ermächtigter Zivilgesellschaft und NGOs – eben: durch und mit den Einzelnen – entwickeln. Auf Augenhöhe heißt übrigens auch: Anerkennen, dass es Werte gibt, die bei den Einzelnen in nicht-demokratischen Ländern sogar weiter entwickelt sein können als in westlichen Demokratien. Das heißt: Vielleicht bräuchte Europa mal genauso Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika und Asien wie umgekehrt?
Bild: Instagram, aketchjoywinnie
Ein Beispiel: Aketch Joy Winnie (Öffnet in neuem Fenster) aus Uganda zeigt auf Instagram Einblicke in ein Leben, das gleichzeitig kosmopolitisch-digitalisiert und dörflich-selbstversorgerisch-gemeinschaftlich ist. Da kann man angesichts der Fülle an Natur und Beziehungen schonmal neidisch werden ;)
Europäische Stadtbewohner*innen, die sich zukünftig vor Ort nachhaltiger und solidarischer aufstellen wollen oder müssen, könnten vom Knowhow der Lebensstile und Weltanschauungen anderer Kulturkreise profitieren. Wie lebe ich in einem Vertrauensverhältnis mit meinen Nachbarn, die gleichzeitig meine Kinder mit großziehen? Wie baue ich ökologisch verträgliche Behausungen? Welche Prioritäten setze ich im Alltag, wie lebe ich mit mehr kulturellen und spirituellen Ritualen und in größerem Zeitwohlstand?
Was wäre zum Beispiel, wenn jede Region Europas enge Partnerschaften zu ausgewählten Regionen anderer Kontinente hätte, in denen ein derartiger “Entwicklungsaustausch” gezielt organisiert und gefördert wird? Und zwar nicht nur in Form von “hin und wieder ein Schüleraustausch”, sondern ganzheitlich in Bezug auf Bildung, lokalen Handel, Werte, Sozialsysteme usw.?
Bild: pexels
Das Ende der Macht?
Schön und gut mit dem Austausch von Verschiedenheit, aber was ist schlussendlich mit dem Thema Macht? Braucht ein System nicht immer ein Machtzentrum, um stabil zu sein (auf globaler Ebene seit den Weltkriegen eben die USA mit Leitwährung, Marktdominanz und Demokratiepropaganda)? Die Biologie sagt Nein: Der menschliche Körper etwa hat kein Machtzentrum, von dem alles zentral reagiert wird. (Auch nicht das Gehirn, wie oft angenommen.)
Es gibt zwar verschiedene wichtige Zentren, aber ein enger Austausch aller Körperfunktionen und Organe ermöglicht ein im besten Fall reibungsloses Zusammenspiel, ein Gleichgewicht. Was, wenn Gesellschaft auch ein selbstorganisiertes System werden könnte? Es deutet alles darauf hin, dass die Muster biologischer Prozesse nicht beim Maßstab des Menschen “haltmachen”, sondern auf höhere planetarische Ebenen skalierbar sind – warum nicht auch auf Gesellschaftssysteme?
Wo konkret könnte es nun also hingehen? Konzepte gibt es schon: Im nächsten Newsletter stelle ich die Idee der Holokratie und der Ontokratie vor. Jetzt im utopischen Fenster erfährst du noch, wie sich eine andere Form von Weltordnung anfühlen könnte: ein kurzes Schlaglicht auf eine Jubiläumsschau aus dem Jahr 2055.
Sie kamen gerade rechtzeitig. Alle hatten sich auf dem Boden niedergelassen, ein Getränk neben sich. Viele schauten erwartungsvoll in Richtung der lichtgedimmten Hallendecke, erstarrt zu Zuschauern ihrer eigenen Vergangenheit. Stimmungsvolle Musik setzte ein. Ein Scheinwerfer flammte auf. Aus dem Loch einer Rohrleitung an der Decke wand sich eine geflügelte Schlange heraus und hinterließ beim Tänzeln feine Kreise aus Licht.
An den Wänden krochen leuchtende Ornamente empor, ähnlich Wandmalereien der Urvölker, DNA-Spiralen, organische Formen. Alles vermehrte sich, wo am Anfang nur eins gewesen war.
Kyra ging ein Schauer durch den Rücken. Sie gehörte zur ersten Generation seit tausenden Jahren, die dieses Wissen offiziell besaß und leben durfte. Das Wissen, dass alles ein Wesen war, das sich immer weiter ausdifferenzierte. Dass alles fraktal aufgebaut war und die Organismen dieselben Strukturen aufwiesen, egal ob Atom, Mensch, Gesellschaft, Mutter Erde oder der Kosmos selbst. Alles ineinander verschachtelt, sie selbst eine Zelle im lebendigen Planeten-Organismus, der allmählich sich selbst bewusst wurde im neuen Zeitalter.
Das tanzende Drachenwesen löste sich nun in der Mitte des Saales auf – im Signet des WeltenKreises, ein Erdball mit den Längen- und Breitenkreisen und den sieben Weltregionen, die von zwei sich windenden Schlangen umschlossen wurden.