Warum Gefühle Politik machen
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In der vorherigen Ausgabe habe ich die „Flooding the zone with Shit"-Strategie analysiert – die gezielte Überschwemmung des öffentlichen Raums mit emotionalisierenden Inhalten, die uns kollektiv davon abhält, uns den tatsächlichen Herausforderungen unserer Zeit zu widmen. Mit der „Bad News Inner Work“ habe ich exemplarisch gezeigt, wie bewusste Emotionsarbeit auf individueller Ebene einen Ausweg aus dieser Negativspirale bieten kann.
In dieser Ausgabe vertiefe ich den Blick auf die Arbeit mit Emotionen: Gefühle sind nicht nur für die Entwicklung von positiven Zukunftsvisionen wichtig, sondern wirken real jeden Tag in der Politik. Ich bin überzeugt, die Zukunft der Demokratie hängt maßgeblich davon ab, ob wir es schaffen, einen besseren Umgang mit Emotionen zu lernen.
Der blinde Fleck: Unsere unbewussten Emotionen
Menschen haben von Geburt an Gefühle. Doch wie bewusst wir uns dieser Gefühle sind und wie gut wir sie regulieren können, hängt maßgeblich von unseren frühen Beziehungserfahrungen ab. Fehlt beispielsweise die emotionale Einstimmung durch Bezugspersonen, entwickeln wir nur begrenzte Fähigkeiten, unsere eigenen Gefühle zu erkennen und zu benennen.
Diese eingeschränkte emotionale Selbstwahrnehmung betrifft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – und damit unweigerlich auch Politiker:innen und andere Menschen in Führungs- und Entscheidungspositionen. Die ACE-Studien (Adverse Childhood Experiences, dt. Belastende Kindheitserfahrungen) belegen eindrücklich: Über 50% der Menschen in Deutschland haben traumatisierende Kindheitserfahrungen gemacht, die ihre emotionale Entwicklung nachhaltig prägen.1 Und das sind nur die schwerwiegenden Fälle.
In der Realität ist die Fähigkeit zur emotionalen Selbstwahrnehmung bei fast allen Menschen zeitweise eingeschränkt. Selbst emotional kompetente Personen erleben regelmäßig Momente, in denen ihnen ihre eigenen Gefühle nicht bewusst zugänglich sind. Dies ist kein pathologischer Zustand, sondern einfach menschlich. Eine gute Nachricht: Emotionale Intelligenz lässt sich ein Leben lang entwickeln. Mit gezielter Praxis können Erwachsene ihre Fähigkeit, Gefühle zu erkennen und zu regulieren, erheblich verbessern – auch bei vorhergehender Traumatisierung.
Die Beziehungsintelligenz der Gefühle
Warum ist emotionale Intelligenz relevant für Politik? Weil Gefühle unsere Beziehungs-Navigationssysteme sind. Sie signalisieren uns, wie wir uns zu anderen verhalten und positionieren möchten:
Beispiel 1: Angenommen, jemand bedroht mich. Angst ist dann ein adäquates Gefühl. Sie aktiviert die Schutzreflexe – wir verteidigen uns oder ziehen uns zurück. Es ist in einer solchen Situation eine ganz natürliche und überlebenswichtige Reaktion, Angst zu empfinden.
Beispiel 2: Angenommen, ich soll mit jemandem zusammenarbeiten, dem ich nicht traue. Was passiert dann? Misstrauen gegenüber Kooperationspartnern führt zu innerlicher Distanz. Wichtige Informationen werden oft nicht geteilt, und diese fehlen dann bei der Entscheidungsfindung.
In der Demokratie geht es letztlich immer darum, Entscheidungen gemeinsam zu treffen, oder Entscheidungen zu treffen, die viele Menschen betreffen. Demokratie ist deshalb im Kern auch eine Beziehungsaufgabe. Sie erfordert Vertrauen, Empathie und die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzubeziehen. All dies sind emotional gesteuerte Prozesse. Deshalb ist es aus psychologischer Sicht eigentlich sogar absurd, dass Gefühle im politischen Diskurs kaum explizit Beachtung finden.
Rationalität und Emotion sind kein Widerspruch – im Gegenteil
In unserer politischen Kultur herrscht das Primat der Rationalität, vermutlich geprägt von den Idealen der Aufklärung. Doch dieses Ideal des rein rationalen Denkens führt in die Irre, denn: Echte Rationalität integriert Gefühle – und blendet sie nicht aus – denn Gefühle enthalten eben essenzielle Informationen über die Beziehungen zu den verschiedenen betroffenen Menschen.
Emotionen und Rationalität stehen nicht im Widerspruch zueinander. Es sind nur die unbewussten Gefühle, die das rationale Denken stören bzw. es schlechter machen, weil sie sich dem rationalen Denken entziehen. Erst dann werden Gefühle zum Problem: Wenn sie als verdrängte und unbewusste Emotionen quasi im Hintergrund unsere Entscheidungen lenken.

Ein Fallbeispiel: Die Dynamik am Ende der Ampel-Koalition
FDP-Verkehrsminister Volker Wissing beschrieb kürzlich im Podcast Meine schwerste Entscheidung (Öffnet in neuem Fenster), wie er das Ende der Ampel-Regierung erlebt hat. In der „traurigen Geschichte“ kamen seine Vorschläge, konstruktive Politik zu machen statt öffentlich zu streiten, in seiner Partei nicht an. Er sagt: „Die Fraktion war total begeistert davon: Wir kritisieren die Grünen.“ und „Man galt als Grünen-Versteher oder Freund der SPD, wenn man gesagt hat: Lass uns einen Kompromiss aushandeln und lass uns den positiv vertreten.“
Wissing spricht einige Gefühle direkt an. Dass bei diesen Ereignissen noch weitere Emotionen unbewusst gewirkt haben, schließe ich aus seinen Aussagen und seinem Tonfall. Ich finde, er klingt teils entsetzt und etwas ratlos, wenn er die Geschehnisse beschreibt.
Was genau auf der emotionalen Ebene geschah, das kann ich von außen nur vermuten, aber ich möchte es trotzdem hypothetisch machen, um zu zeigen, was Emotionsarbeit bewirken könnte. Ich mache das auf keinen Fall, um Wissing oder jemanden bei der FDP bloß zu stellen. Wie schon oben gesagt, es ist normal, Gefühle nicht zu erkennen. Ich stelle diese Vermutung an, weil ich damit beispielhaft zeigen möchte, wie bewusste Arbeit mit Emotionen auch auf oberster Ebene aussehen könnte.
Wissing spricht davon, dass Lindner davor Angst hatte, die FDP werde nicht mehr mit einem ausreichend eigenständigen Profil in der Koalition wahrgenommen. Angst zeigt auch hier an, dass eine Gefahr besteht. Damit geht in meiner Erfahrung ein Bedürfnis nach Schutz einher. In diesem Fall war die Gefahr vermutlich: Weiter sinkende Umfragewerte aufgrund der fehlenden Unterscheidbarkeit zu den anderen Koalitionsparteien. Der Schutz wurde letztlich durch die „koalitionssprengenden“ Handlungen hergestellt.
Weil die Emotionen in dieser Dynamik vermutlich nicht bewusst bearbeitet wurden, blieb es bei dieser Lösung erster Ordnung: der Abgrenzung und dem „Sprengen“ der Koalition, um wieder Unterscheidbarkeit herzustellen. Jetzt ist FDP in der außerparlamentarischen Opposition.
Angenommen, die Emotionen wären tiefer bearbeitet worden, so wie ich es schon häufig in Prozessbegleitungen erlebt habe. Dann hätte eine Lösung zweiter Ordnung wie folgt aussehen können: Nach dem Fühlen der Angst und dem damit verbundenen Bedürfnis, wäre vermutlich ein weiteres, tieferes Gefühl zum Vorschein gekommen, das zuvor von der Angst überdeckt wurde. Ich vermute ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit oder drohendem Bedeutungsverlust. Wissing hat so etwas angedeutet. Dieses Gefühl gehört vermutlich zu den schlimmsten Gefühlen für einen Politiker, der etwas erreichen will.
Nun stellen wir uns weiter vor, auch dieses Gefühl zu fühlen und damit zu verarbeiten. Was macht es mit einem, drohende Bedeutungslosigkeit zu fühlen? Es ist sicherlich zunächst sehr unangenehm. Dennoch erahne ich, dass nach dem Fühlen dieses Gefühls, so etwas aufkommt, wie: das sich Berufen auf eine höhere Macht. Denn am Ende bleibt in so einer schwierigen Situation oft wenig anderes, weil man sich eingestehen muss, dass es nur bedingt in der eigenen Macht steht, wie erfolgreich zum Beispiel die eigene Partei ist. Es gibt weltpolitische Ereignisse, die beeinflussen. Es gibt akute lokale Ereignisse. Es gibt einen Zeitgeist. Es gibt persönliche Sympathien und Antipathien. Jeder hat eine eigene Biografie. Es gibt noch unzählige weitere Faktoren, die Politik auf Bundesebene beeinflussen. Der Einfluss einer einzelnen Person, und sei es auch ein Parteivorsitzender, ist dabei doch relativ gering.
Und dann, da bin ich sicher: Wenn es gelingt, dass Menschen ein solch schwieriges Gefühl gemeinsam halten und aushalten, dann kann eine starke Transformation passieren. In meiner Erfahrung entdecken Menschen dann plötzlich, dass sie etwas gemeinsam haben: Neben dem schweren Gefühl auch eine gemeinsame Motivation – hier: der Wille, das Land zu gestalten. Mit diesem verbindenden Gefühl können dann plötzlich auch Differenzen überwunden werden. Oft tun sich ganz neue Möglichkeiten auf und zuvor undenkbare Handlungsoptionen erscheinen in einem neuen Licht.
Den starken Gestaltungsanspruch habe ich schon oft bei Politiker:innen erlebt. Die allermeisten wollen wirklich etwas für das Land zum Positiven verändern, auch wenn es manchmal nicht so aussieht und auch wenn sie ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was das Positive ist. Es würde mich nicht wundern, wenn im Beispiel des Streits der Ampel-Parteien der Gestaltungswille als Gemeinsamkeit von dem drohenden Bedeutungsverlust und der Angst davor verdrängt gewesen wäre.
Eine emotional intelligente Demokratie
Wie kann diese emotionale Dimension mehr Eingang in demokratische Prozesse finden? Der Weg dorthin ist anspruchsvoll, aber gangbar. Ich glaube, es braucht dafür vor allem drei Dinge:
Regelmäßige Praktiken innerer Arbeit auf individueller Ebene
Prozessbegleitung durch emotional kompetente Moderator:innen
Dialogräume, in denen auch Gefühle ihren legitimen Platz haben
Ein spannendes und hilfreiches Konzept hierfür ist Deep Democracy nach Arnold Mindell.2 Deep Democracy besagt, dass in der Demokratie nicht nur das zählt und wichtig ist, was die Daten und Fakten sind, sondern dass auch Gefühle und Stimmungen, Träume und Wünsche und auch ganz tiefe Emotionen Teil der Demokratie sind und gehört werden müssen, um zu gesamtgesellschaftlich tragfähigen und nachhaltigen Entscheidungen zu kommen.
Bedeutet dieser Fokus auf Emotionen, dass wir den Anspruch, sachlich und rational zu debattieren aufgeben sollten? Keineswegs. Es geht nicht um ein „Entweder-oder", sondern um ein „Sowohl-als-auch".
Die Grenzen emotionaler Arbeit in der Politik liegen dort, wo sie
als alleinige Lösung komplexer Sachfragen missverstanden wird
als Ersatz für fundierte Expertise betrachtet wird
in einen unprofessionellen „Gefühlszirkel" ohne klare Zielsetzung abgleitet
Mein Argument ist: Emotionsarbeit ist kein Selbstzweck, sondern ein unverzichtbares Werkzeug, das die sachbezogene politische Arbeit effektiver, nachhaltiger und menschlicher macht. Sie schafft die Voraussetzungen für konstruktive Konfliktlösung und echte Kompromissfähigkeit.
Eine Hoffnung für die Demokratie: Emotionsarbeit im Politikbetrieb
In meiner Arbeit mit Politiker:innen und Parteien erlebe ich immer wieder bemerkenswerte Transformationen, wenn Emotionen einen legitimen Raum bekommen. Politiker:innen sind sogar prädestiniert für diese Arbeit, denn sie bringen eine wichtige Kompetenz dafür mit. Sie sind meist rhetorisch gewandt und trauen sich, auch unbequeme Dinge direkt anzusprechen. Diese Kommunikationsstärke ist ein starkes Fundament für tiefere emotionale Arbeit.
Wo emotionale Spannungen bewusst gemacht und bearbeitet werden, entsteht eine neue Qualität des Miteinanders. Ich habe erlebt, dass durch nur einen Workshop plötzlich Geschlossenheit in der Fraktion entstanden ist und die Diskussionskultur spürbar konstruktiver wurde. Dann können sich die Beteiligten besser auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren, anstatt durch zwischenmenschliche Konflikte ausgebremst zu werden.
Diese Erfahrungen bestärken meine Überzeugung: Eine bewusstere demokratische Kultur, die Emotionen als natürlichen Bestandteil politischer Prozesse anerkennt, ist nicht nur möglich – sie ist dringend notwendig für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie.
Praktische Erfahrung selbst erleben
Für alle, die diese Arbeit mit Emotionen und Demokratie selbst erleben möchten: Am zweiten Mai-Wochenende kommt der international renommierte Konflikttrainer und Workshopleiter Gary Reiss nach Berlin. Im Workshop Visions for a Future for Everyone: From Trauma to Freedom widmen wir uns genau der Frage, wie wir mit schwierigen Emotionen umgehen und Traumata transformieren können, um zukunftsfähige gemeinschaftliche Visionen zu entwickeln.
Meine Hoffnung für diesen Workshop ist, dass wir gemeinsam eine Vision davon entwickeln, wie diese tiefgreifende Arbeit noch viel stärker Eingang in den politischen Raum finden kann. Es gibt noch wenige freie Plätze.
Herzliche Grüße
Josef
P.S.: Für kürzere Updates zu meiner Arbeit folge mir gerne bei LinkedIn (Öffnet in neuem Fenster).
Fußnoten:
Witt, A., Sachser, C., Plener, P. L., Brähler, E., & Fegert, J. M. (2019). The prevalence and consequences of adverse childhood experiences in the German population. Deutsches Ärzteblatt International, 116(38), 635-642. https://doi.org/10.3238/arztebl.2019.0635 (Öffnet in neuem Fenster) ↩
Das Buch von Arnold Mindell zum Konzept heißt: The Deep Democracy of Open Forums: Practical Steps to Conflict Prevention and Resolution for the Family, Workplace, and World (Öffnet in neuem Fenster) ↩