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Gespensterbrief #1

Mein liebes Gespenst,

heute wage ich etwas und zwar: dies.

Ich blogge seitdem es Blogs gibt. Naja, nicht ganz so lange. Die frühen Anfänge liegen in den 90ern, aber ich blogge seit der Zeit in der man unironisch den Begriff "Blogosphäre" nutzen konnte und damit den Raum beschrieb, den Blogs einnahmen und der von den Nutzer*innen zusammengehalten wurde.

Jedenfalls, mein liebes Gespenst, traue ich mich etwas, indem ich diesen Newsletter eingerichtet habe und obendrein noch die Möglichkeit anbiete, mir dafür etwas zukommen zu lassen. Das Leben als freie Autorin ist genau so schwierig, wie man es sich vorstellt.

Für manche ist das selbstverständlich. Ganz gewöhnlich, sich mitzuteilen und so über sich selbst zu sprechen. Laut zu sein und Ausrufezeichen zu benutzen. Mich aber, mich kostet das Überwindung.

R a u m  e i n n e h m e n

Bist du überall oder stehst du in einer Ecke? Platzsparend und still?

Nun bin ich hier und habe Leser*innen, die mehr sind, als Gespenster.

Wo soll der Unterschied zu meiner Webseite (Öffnet in neuem Fenster) liegen? Ich hatte mir immer vorgestellt, mein Newsletter würde etwas intimer, etwas näher als das, was auf meiner Seite steht. Und ich denke, so wird es sein. So ist es jetzt schon. Wenn ich an meine Webseite denke, dann denke ich an Plakatwände. Dies hier darf auch für Literatur werben, aber ich möchte auch Verbindung schaffen.

Montag

Die erste Woche meines Urlaubs ist vorbei. Ich wollte sie zum Schreiben nutzen und brauchte doch zunächst ein paar Tage nichts. Doch nun schreibe ich.

Konkret bedeutet das:

Ich schreibe zusammen mit meinem Freund Raphael (Öffnet in neuem Fenster), den viele als etwas finsteren Rap-Typen kennen. Ich aber kenne ihn als lächelnde Lichtgestalt, die meinen Mann freudig auf die Wange küsst und mir morgens Kaffee ausgibt. Und mit der Gestalt jedenfalls, mit der schreibe ich an e t w a s

Es bedeutet auch, dass ich eine meiner Kurzgeschichten aus meinem Herzen geholt und vor mir ausgebreitet habe. Ich denke oft an die Figur Shirley, die ich als eine Liebeserklärung an Shirley Jackson herbeischrieb, der ich verfallen bin. Sie schrieb so gut, so g u t, ich will das auch.

Nachdem ich sowas in der Art mal zu Sibylle Berg sagte ("Ich will das, was Sie tun, auch tun" oder so ähnlich), antwortete sie mir mit dem liebsten Zutrauen: "Dann mach das doch." Seitdem wirkt dieser Satz in mir herum wie ein Zauberspruch, der hin und wieder alle Furcht für fünf Minuten schweigen lässt.

Ja, dann mach das doch.

Während ich hier schreibe, greife ich zurück in die Vergangenheit und berühre das Gefühl, das einmal vorherrschte. Vertrautheit. Sogar im Internet. Es fühlt sich an, als würde ich bloggen. Ich habe mal viel Privateres geteilt, inzwischen liegt auf fast allem Poesie.

Kennt ihr die "Alltagstweets für mehr Lebensnähe (Öffnet in neuem Fenster)"? Ich verrate euch etwas: Ich habe sie erfunden, weil ich nicht mehr über Gewöhnliches schreiben konnte. Ich musste dem Impuls, über Alltägliches zu schreiben, eine Überschrift geben, um es mir zu erlauben.

Wann verschwindet Furcht so ganz?

Aus der Kurzgeschichte rund um Shirley mache ich jedenfalls etwas Längeres, weil mir Shirley so gefällt und ich sie besser kennenlernen will. So wie Stephen King es tat (Und noch tut? Ich weiß es nicht ganz genau), nehme ich eine bereits fertige Geschichte und fülle nun die Lücken mit allem, was ich noch wissen möchte.

Was noch? Mit Benjamin Blümchen höre ich nicht auf, das läuft einfach weiter. Es gefällt mir, diesen konkreten Ort in Neustadt zu haben, durch den ich immer wieder spazieren kann. Auch wenn die Figuren schon lange ohne mein Zutun existierten, so sind sie doch ein wenig zu meinen geworden. Manchmal erfinde ich neue kleine Nebenfiguren, wie Wissenschaftlerinnen und Mädchen auf der Suche.

Jetzt kommt der Moment, in dem ich mich frage, ob ich schon überstrapaziere. "So leben, als ob man davon ausginge, man würde andere nicht langweilen" ist das Motto im November. Meine Kollegin und Aktivistin rollifräulein (Öffnet in neuem Fenster) hat dazu aufgerufen, aus diesem Monat den Yesvember zu machen. Das ist nicht nur cute, sondern auch eine Herausforderung. Es ist Mittwoch, Tag 2, und ich bekomme es schon kaum hin.

Wo

was

wie ist mein Mehrwert?

Eine Notiz vom Mittwoch

Gleich werde ich meine Tasche packen - Notizbuch, Stift, Schal, Walnüsse - und in die Stadt fahren. Das Wortkollektiv trifft sich einmal in der Woche montags zum Schreiben in der Düne - dem inklusiven Kulturtreff den ich leite. Wegen Halloween ist alles verschoben, wir werden räumlich ausweichen und im Foyer der Volkshochschule sitzen. Dort ist es glasig und hallend. Die Stühle zum Büßen. Ich werde schreiben, immer weiter. Der ganze Tag besteht aus Text. Ich bin Text. Ich bin hier.

Haben Gespenster manchmal Angst?

Es ist Freitag, ich bin in Liebe.

Die Liebe hört niemals auf. Das steht in der Bibel und das sagen sich Eheleute beim Schwur und The Cure singen davon.

Heute ist The Foreverlost (Öffnet in neuem Fenster), das neue Lied von Ville Valo, erschienen, ich höre es seitdem ich aufgewacht bin. Im Februar sehe ich ihn in Hamburg. So hangle ich mich von Konzert zu Konzert und sammle Berührungen.

Zum Abschluss dieses Briefes teile ich ungefiltert eine Nachricht, die ich meiner Freundin schrieb, nachdem ich vom Suede-Konzert kam. Ich mag ehrliche Leidenschaft, verletzlich und freundlich, und darum möchte ich davon ausgehen, dass es euch auch gefällt.

Für mich geht immer ein kleiner großer Traum in Erfüllung, wenn ich Menschen so nah kommen darf, die ich für ihr Werk bewundere. Brett ist so jemand, weil er ein Autor ist, der thematisch nah an mir dran ist. Er kommt aus einer ärmeren Arbeiterfamilie und sein Wunsch war es, Kunst zu machen. Er hat zwei ergreifende biografische Bücher geschrieben, in denen es um Familie, Armut, Arbeiterschicht, Tod und Drogen geht und wie all das mit dem Schreiben zusammengeht. Während der Lektüre der Bücher habe ich mich ihm so nah gefühlt, dass ich oft weinen und noch öfter die Bücher an mich drücken musste.

Weil ich auf die Möglichkeit vorbereitet war, dass er ins Publikum geht, bin ich vor dem Konzert schnell zur Bühne gehuscht und habe ausbaldowert, wo der Zugang zum Zuschauerraum ist. Und dort habe ich mich dann hingestellt, während Morton einen anderen alternativen Platz freigehalten hat. Unser Taktikgame ist strong.

Es gab keine Vorband, sie fingen einfach um halb 9 an und haben ihr neues Album vom ersten bis zum letzten Lied gespielt. Keine ausgereifte Setlist, sondern eine 1A Album-Listening-Geschichte. Mega cool. Der zweite Teil des Konzerts bestand aus älteren und ganz alten Songs und sie haben sogar das Lied gespielt, über das ich die Band kennenlernte. Das lief hier ein paar Wochen in Dauerschleife, ich habs so geliebt. Dass sie das Lied spielen, hatte ich mir gewünscht aber ich habe nicht damit gerechnet. Ich war total ergriffen.

Im ersten Teil des Konzerts ging Brett zu einem neuen Song ins Publikum und fragte, wer einen "sweaty hug" möchte und ich wollte wirklich dringend. Er kam in meine Richtung und ich dachte, ich werfe in diesem Moment einfach alle Scheu von Bord. Ich habe meine Hände ausgestreckt und hatte sie eine absurd lange Zeit um seine Taille gelegt. Dann drehte er sich etwas weg, aber ich hab ihn umgelenkt zu mir, indem ich ihn sanft heranzog und dann hat er mich umarmt und dabei "What am I without you" gesungen. Es war so 🤯😭😍

Er hat tierisch geschwitzt, er war richtig nass. Mein wattierter BH hat sich vollgesogen und ich hatte das restliche Konzert eine ganz nasse linke Brust. 😅

Er duftete ganz zart nach After Shave und hat nicht lange umarmt, aber fest und lieb.

Ich umarme euch, Gespenster, und ich danke euch.

Jess

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