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Das Judas-Kamel und unser Umgang mit invasiven Arten

Die heiße Mittagssonne brennt auf die trockene, karge Landschaft Australiens. In der Ferne zeichnet sich eine kleine Gruppe wilder Kamele ab, die träge um eine schwindende Wasserquelle stehen. Eines dieser Tiere, unscheinbar auf den ersten Blick, und doch ziemlich bedeutend, trägt an seinem Hals ein unauffälliges Gerät – einen Satelliten-Tracker. Es ist ein Judas-Kamel, ein Tier, das unwissentlich zum Werkzeug eines der umstrittensten Programme zur Populationskontrolle geworden ist und dessen Existenz die Frage aufwirft: Wie weit können wir gehen, um invasive Arten zu kontrollieren, die unser Ökosystem bedrohen?

Bevor wir weiter über das Judas-Kamel sprechen, brauchen wir erst einmal ein paar Basics. Und zwar müssen wir verstehen, was Neobiota und was invasive Arten sind.

Neobiota

Neobiota ist ein Sammelbegriff für Organismen, die durch den Menschen in Gebiete gelangen, in denen sie ursprünglich nicht heimisch waren. Der Begriff umfasst Tiere, Pflanzen, Pilze und andere Lebewesen, die oft durch absichtliche Einführung oder unbeabsichtigte Verschleppung in neue Lebensräume gelangen. Diese Arten unterscheiden sich von den einheimischen (autochthonen) Arten dadurch, dass sie erst nach einem bestimmten historischen Wendepunkt in ein Gebiet eingeführt wurden. Für Mitteleuropa wird dieser Zeitpunkt häufig mit der Ankunft von Kolumbus in Amerika im Jahr 1492 und dem darauf folgenden Transfer von Waren und Gütern zwischen den Kontinenten angesetzt.

Neobiota werden nach ihrer biologischen Einordnung in drei Hauptkategorien unterteilt: Neophyten (Pflanzen), Neozoen (Tiere) und Neomycota (Pilze). Um die Bedeutung dieser Gruppen besser zu verstehen, lohnt es sich, sie näher zu betrachten:

Neophyten: gebietsfremde Pflanzen

Diese eingeschleppten Arten sind oft das Ergebnis absichtlicher menschlicher Eingriffe, wie die Einfuhr und Zucht exotischer Zierpflanzen, das Mitbringen von Kulturpflanzen oder die unbeabsichtigte Einschleppung von Samen durch den Handel. Zwei bekannte Beispiele:

  • Die Douglasie (Pseudotsuga menziesii): Ein nordamerikanischer Baum, der als Nutzholz nach Europa eingeführt wurde und sich inzwischen in vielen Wäldern angesiedelt hat.

  • Der Japanische Staudenknöterich (Fallopia japonica): Das ist eine ursprünglich aus Ostasien stammende Pflanze, die mal als Zierpflanze in Europas Gärten gepflanzt wurde. Die durch ihre, sagen wir mal: robuste Ausbreitungsstrategie konnte sie sich in vielen europäischen Flusslandschaften etablieren. Hier in Hamburg treffe ich sie auch überall an Flüssen und Bächen.

Neozoen: Gebietsfremde Tiere

Als Neozoen werden Tierarten bezeichnet, die ebenfalls durch den Menschen in neue Gebiete gelangt sind. Dabei spielen der internationale Handel mit Heimtieren, die Verschleppung mit Frachtschiffen oder gezielte Aussetzungen eine große Rolle. Bei uns bekannte Neozoen sind:

  • Der Waschbär (Procyon lotor): Ursprünglich in Nordamerika beheimatet, wurde dieser niedliche, aber sehr zerstörerische Racker nach Europa eingeschleppt und ist heute in Deutschland weit verbreitet.

  • Der Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus): Dieser nordamerikanische Krebs wurde in Europa als Ersatz für den heimischen Edelkrebs eingeführt und hat sich aufgrund seiner Resistenz gegen bestimmte Krankheiten stark ausgebreitet.

Neomycota: gebietsfremde Pilze

Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig sind die Neomycota – also Pilze, die durch den Menschen in neue Gebiete eingeschleppt wurden. Sie können entweder als Krankheitserreger eine Rolle spielen oder in Wechselwirkung mit heimischen Pflanzen und Tieren treten. Lorenz und ich hatten dazu gerade eine Podcastfolge aufgezeichnet (Öffnet in neuem Fenster). Zwei Beispiele:

  • Der Kastanienrindenkrebs (Cryphonectria parasitica): Dieser Pilz aus Asien hat in Europa massive Schäden an Kastanienbäumen verursacht und in Amerika sogar zum Zusammenbruch der Kastanienbestände geführt.

  • Der Chytridpilz (Batrachochytrium dendrobatidis), auch als Bd bekannt, der weltweit Amphibienpopulationen wirklich extrem dezimiert, vor allem Frösche.

Sind alle Neobiota invasiv?

Nicht alle gebietsfremden Arten sind automatisch invasiv – Neobiota und invasiv sind also keine Synonyme. Während einige gebietsfremde Arten erhebliche Auswirkungen auf ihre neuen Lebensräume haben, fügen sich viele andere ohne nennenswerte Veränderungen in bestehende Ökosysteme ein und können da sogar Gutes bewirken. Entscheidend dafür, ob man ein Tier oder einen Pilz als invasiv betrachtet ist, ob diese Art das Potenzial hat, sich massenhaft auszubreiten und ökologische Prozesse zu verändern. Die so genannte Zehnerregel ist eine ganz gute Daumenregel dafür:

Von zehn eingeführten Arten gelingt es in der Regel zehn Prozent, in einem neuen Lebensraum Fuß zu fassen. Von diesen zehn Prozent etablierter Arten können sich ebenfalls wieder nur 10 Prozent dauerhaft verbreiten und fest in der neuen Umgebung verankern. Und auch von diesen Arten wird schließlich nur ein Bruchteil – wieder 10 Prozent – tatsächlich zum Problemfall, der ökologische oder ökonomische Schäden verursacht.

Ob Neobiota invasiv werden, hängt von einer Vielzahl biologischer, ökologischer, abiotischer und anthropogener – also menschengemachter – Faktoren ab. Diese beeinflussen, ob eine Art in einem neuen Lebensraum nicht nur Fuß fassen, sondern sich auch erfolgreich ausbreiten und dabei andere Arten oder ökologische Prozesse verdrängen kann. Schauen wir uns mal die wichtigsten Faktoren an:

  • Die Eigenschaften des Neobionten selber:
    Bestimmte biologische Eigenschaften können Neobiota einen Vorteil beim Gerangel um Nahrung und Lebensraum bringen. Manche dieser Lebewesen haben einfach bessere Karten, wenn es ums Überleben geht. Arten, die viele Nachkommen produzieren und sich gut verbreiten – wie die Douglasie mit ihren weit fliegenden Samen – haben natürlich einen Vorteil. Andere, wie der Waschbär, sind echte Alleskönner und kommen mit verschiedenen Lebensbedingungen und Nahrungsquellen gut zurecht – diese bezeichnet man als Generalisten. Wieder andere, wie der Japanische Staudenknöterich, vermehren sich nicht nur über Samen, sondern bilden auch noch unterirdische Ausläufer, die extrem schwer zu bekämpfen sind. Da spreche ich aus eigener Erfahrung.

  • Ökologische Faktoren:
    Neobiota, die sich erfolgreich etablieren, nutzen oft freie ökologische Nischen oder profitieren vom Fehlen natürlicher Feinde. Invasive Arten, darunter auch einige Neophyten, können heimische Arten durch ihr rasantes Wachstum und ihre effizientere Ressourcennutzung verdrängen. Manche Neophyten werden beispielsweise manchmal einfach größer, sodass der heimische, unliebsame Konkurrenz kein Sonnenlicht mehr kriegt. Blöd gelaufen. Ein weiterer Faktor, der invasiven Arten einen Vorteil verschafft, ist ihre Fähigkeit, chemische Hemmstoffe (Allelopathika) freizusetzen. Diese Stoffe können das Wachstum und die Entwicklung konkurrierender Pflanzen beeinträchtigen.

  • Abiotische Faktoren:
    Klima und Boden spielen eine entscheidende Rolle, vor allem bei Pflanzen. Wenn die Bedingungen in einem neuen Lebensraum gut zu den Bedürfnissen eines Neobionten passen, hat er bessere Chancen, sich dort durchzusetzen. Der Klimawandel spielt dabei eine wichtige Rolle, denn der eröffnet wärmeliebenden Arten zunehmend neue Möglichkeiten, was nicht unbedingt Vorteile mit sich bringt. Denken wir nur mal an Hyalomma-Zecken oder Tigermücken, die es in unserem zunehmend wärmeren Klima immer muckeliger finden. Auch extreme Wetterereignisse können eine Art zufällig begünstigen und ihr dabei helfen, sich zu etablieren. Wenn beispielsweise ein Sturm ein paar alte Eichen umhaut und die Douglasie schon in den Startschuhen steht, well. Damit kommen wir auch direkt zu:

  • Kommissar Zufall:
    Ob ein Neobiont erfolgreich ist, hängt oft von komplett zufälligen Faktoren ab, also kurz gesagt von: Glück. Der Zeitpunkt der Einschleppung, die Verfügbarkeit von Ressourcen oder das Fehlen konkurrierender Arten zum Zeitpunkt der Ankunft können den entscheidenden Unterschied machen.

  • Menschliche Aktivitäten:
    Ja gut, dies, das, Ananas. Mit dem Einschleppen so richtig doll angefangen haben ja sowieso wir. Der internationale Handel, Tourismus oder der Gartenbau verschleppen Arten in neue Regionen. Häfen, Bahnhöfe oder großflächige Kulturlandschaften bieten ideale Ausgangspunkte für die Verbreitung.

  • Anfälligkeit des Lebensraums:
    Lebensräume, die bereits durch menschliche Aktivitäten gestört oder in ihrer Artenvielfalt reduziert sind, bieten weniger Widerstand gegen Neobiota. Denken wir da nur an unsere kranken “Wald”-Monokulturen vs. einem gesunden Mischwald. Geringere Konkurrenz und ungenutzte Nischen begünstigen die Etablierung der fremden Arten auch nochmal.

Können Neobiota Gutes bewirken?

Die Wahl der Amerikanischen Roteiche (Quercus rubra) zum Baum des Jahres 2025 hat in Deutschland für mächtig Wirbel gesorgt. Die einen loben ihre Klimaresistenz, was wohl auch der Grund zur Wahl war, die anderen warnen vor möglichen negativen Auswirkungen fremder Arten auf die heimische Biodiversität. Schauen wir mal, welche Vorteile die Amerikanische Roteiche hat, obwohl sie nicht von hier stammt:

  • Anpassungsfähigkeit an veränderte Klimabedingungen: Dieser Baum zeigt eine wirklich bemerkenswerte Toleranz gegenüber Trockenheit und hohen Temperaturen. Angesichts des Klimawandels, der bei uns hier in Mitteleuropa immer häufiger zu Dürreperioden führt, könnte sie eine wertvolle Ergänzung in unseren Wäldern sein. Auch den Stadtbäumen geht es immer schlechter. Ihre Fähigkeit, auch auf nährstoffarmen Böden klarzukommen, erweitert zudem die Möglichkeiten für Aufforstungsprojekte.

  • Schnelles Wachstum und wirtschaftlicher Nutzen: Die Roteiche hat eine hohe Wuchsleistung und ist deshalb aus der Perspektive der Forstwirtschaft eine gute Wahl. Dieser Baum kann schneller größere Stämme liefern als viele heimische Baumarten, und zudem kann man das Holz vielseitig verwenden, zum Beispiel für Möbel oder als Brennholz.

  • Ökologische Funktionen: Die Roteiche kann zur Stabilisierung unserer Waldökosystemen beitragen, insbesondere in Monokulturen, die anfällig für Insektenfraß oder Krankheiten sind. Durch ihre Einführung könnten solche Bestände diversifiziert und eben wieder widerstandsfähiger gemacht werden. Zudem bietet sie Lebensraum und Nahrung für verschiedene Tierarten, darunter Vögel und Insekten.

Neobiota können der Umwelt also durchaus auch nutzen. Sie können beispielsweise die Biodiversität bereichern, indem sie neue Nahrungsquellen und Lebensräume schaffen, von denen einheimische Tiere profitieren, wie etwa Insekten, die bestimmte eingeführte Pflanzenarten als zusätzliche Nahrungsquelle nutzen. Gleichzeitig können sie wichtige Aufgaben in Ökosystemen übernehmen, zum Beispiel die Bestäubung in Regionen, wo einheimische Bestäuberpopulationen zurückgegangen sind. Außerdem gehören viele Neobiota einfach zu unserer Kulturlandschaft dazu und sind aus Parks, Gärten und Supermärkten nicht mehr wegzudenken – dass die Kartoffel aus Südamerika stammt, ist dir sicher bekannt. Aber wusstest du, dass der Apfel ursprünglich aus Asien stammt?

Wenn eingeschleppte Arten eine freie Ökosystem-Nische besetzen, oder wenn beispielsweise eine eingeführte Tierart eine andere Tierart verdrängt, aber genau dieselbe ökologische Nische einnimmt, hat das vermutlich keine schlimmen Auswirkungen auf ein Ökosystem, und es wäre nur schade, dass wieder eine Art verloren ist, also auf so einer ethischen Meta-Ebene, die durchaus nicht zu vernachlässigen ist. Wenn die Nische frei war, ist das vielleicht sogar gut für das Ökosystem, wenn sie wieder besetzt wird.

Aber.

Das Problem ist: Wir können uns nie sicher sein, dass genau die Nische besetzt wird und die Individuen der neuen Art sozusagen “genau gleich” sind wie eine andere heimische Art, deren Nische sie besetzen. Es kann sein, dass eigentlich alles gleich wirkt – gleiches Nahrungsspektrum, gleiches Nistverhalten, meine Güte, vielleicht sehen sie sich auch sogar komplett ähnlich oder sind gar verwandt! … Nur vermehrt sich die neue Art beispielsweise doppelt so schnell. Oder es ist wirklich alles gleich, aber die bringen ein anderes Darm-Mikrobiom mit. Oder auch das ist ähnlich, aber sie bringen eine Krankheit mit, gegen die sie selber immun sind, welche die heimische Art in der gleichen Nische aber plattmachen wird. Zack, Ungleichgewicht.

Wenn wir mit dem Einbringen fremder Arten einen vorherigen Fehler “korrigieren” wollen

Wir schreiben das Jahr 1935, und die Zuckerrohrfelder Australiens stehen vor einem Desaster. Kleine heimische Käfer, genauer gesagt die Greyback Cane Beetles (Dermolepida albohirtum), fressen sich durch die Ernten, und die Farmer sind ver-zwei-felt! Was machen wir nur, was sollen wir nur tun? Was haben sie sich also als Lösung überlegt? Eine “Superwaffe” aus Übersee: Rhinella marina, besser bekannt als die Aga-Kröte. Die Idee klang auf dem Papier genial: Man setzt ein Raubtier auf das Insekt an, und die “““Natur””” (hüstel) regelt das schon. Also wurden ein paar hundert dieser Kröten aus Mittel- und Südamerika eingeführt und feierlich in den Zuckerrohrplantagen ausgesetzt. Ihr Auftrag: die Käfer loswerden. WHAT COULD POSSIBLY GO WRONG? :)))

Problem gelöst, oder?

Ähem. Leider nicht. Der Plan hatte nämlich einen winzigen Denkfehler: Die Zuckerrohrkäfer lebten hoch oben an den Pflanzen, und Aga-Kröten, nun, sind Bodenbewohner. Das heißt, die Kröten kamen gar nicht an die Käfer heran – I shit you not. Das hatte sich tatsächlich niemand vorher überlegt. Statt die Käfer zu dezimieren, machten sich die Kröten in der Gegend breit und suchten sich andere Nahrungsquellen. Die Zuckerrohrfelder blieben weiterhin von Käfern geplagt, aber Australien hatte plötzlich ein neues Problem.

Die Aga-Kröte entpuppte sich nämlich als der Alptraum der australischen Ökosysteme. Mit ihrer Größe, ihren bis zu 30.000 Eiern pro Gelege (!) und dem giftigen Toxin, das sie vor Fressfeinden schützt, begann sie, sich unkontrolliert zu vermehren. Tiere wie Warane, Schlangen oder sogar Krokodile, die versucht haben, sie zu fressen, überlebten die Begegnung oft nicht. Die Kröten selbst hatten keine natürlichen Feinde in Australien und konnten sich so in Rekordzeit ausbreiten. Auf Wikipedia findet man das vom User Froggydarb erstellte Gif der Ausbreitung von 1940-1980:

Auf Gbif (Öffnet in neuem Fenster) sieht die Ausbreitung aktuell so aus:

Heutzutage zählt die Aga-Kröte zu den berüchtigtsten invasiven Arten der Welt, da sie wirklich alles frisst: Kleinsäuger, Insekten, Reptilien, Amphibien, Küken bodenbrütender Vögel – und sie hat in Australien keinen natürlichen Feind.

Bleibt die Frage: Was tun? Tatsächlich gibt es immer wieder Aufrufe, die Kröte in so gemeinschaftlichen Bürger:innen-Aktionen zu töten. Freiwillige gehen nachts mit Taschenlampen und Handschuhen bewaffnet auf die Suche, sammeln die Kröten ein und töten sie. Doch trotz all dieser Maßnahmen bleibt der Erfolg bescheiden, es ist eigentlich eine komplett sinnlose Sache. Die Fortpflanzungsrate der Aga-Kröte ist so hoch, dass solche Aktionen den Bestand kaum beeinflussen. Weibchen legen wie gesagt 10.000 - 30.000 Eier pro Gelege, und auch wenn viele davon nicht überleben, reicht die Zahl der Nachkommen aus, um die Population weiter wachsen zu lassen.

Damit sind wir auch schon mitten im moralischen Dilemma des Naturschutzes, um das es jetzt im Rest des Textes gehen wird. Wenn der Erfolg dieser Maßnahmen so gering ist, rechtfertigt das die grausame Praxis? Es gibt wie gesagt keine Hinweise, dass dieses massenhafte Töten der Tiere langfristig auch nur iiiiirgendetwas bringt. Gleichzeitig senden solche Aktionen ein schwieriges Signal aus: dass es in Ordnung ist, Tiere in großem Stil zu töten, wenn sie nerven. Dieses Denken lässt sich leicht auf andere Situationen übertragen und öffnet Türen, durch die man eigentlich nicht gehen will. Man will die Bevölkerung eigentlich nicht unbedingt auf die Idee bringen, dass man Tiere einfach tötet, wenn sie unbequem werden. Denn auch heimische, wichtige Tiere können ganz schön nerven. Was dann? Was, wenn sich dann alle schon dran gewöhnt haben, auf etwas einzuprügeln, was mehrere Beine hat und ein Problem ist? Schwierig.

Wenn man im Naturschutz aktiv ist, steht man recht schnell vor einigen Entscheidungen, die man vielleicht auch gar nicht mit sich selbst vereinbaren kann. Ein Dilemma jagt das nächste. Besonders eingeprägt hat sich mir das hier:

Das Judas-Kamel

Die Geschichte des Judas-Kamels wurde uns von einer meiner Dozentinnen erzählt, und es ist wirklich ohne Übertreibung eine der traurigsten Stories, die ich je gehört habe.

Australien ist ein riesiger Inselstaat, der wie viele andere Inselökosysteme besonders empfindlich auf Störungen reagiert. Durch seine isolierte Entwicklung hat der Kontinent eine einzigartige, aber gleichzeitig empfindliche Artenvielfalt hervorgebracht, und doch mit massiven ökologischen Problemen zu kämpfen. Dazu gehören die Ausbreitung invasiver Arten und andere Folgen menschlicher Eingriffe.

Eines dieser Probleme ist – vielleicht etwas überraschend – die enorme Population wilder Kamele, die sich über weite Teile der australischen Wüsten und Trockengebiete erstreckt. Doch wie kommen Kamele eigentlich nach Australien?

Die Geschichte geht zurück bis Mitte des 19. Jahrhunderts, als Kamele aus Indien und dem Nahen Osten zur Unterstützung des Eisenbahnbaus importiert wurden. Damals dachte man, Kamele wären die perfekten Arbeitstiere, um Waren und Baumaterialien durch das trockene, unwegsame Outback zu transportieren. Mit der Zeit wurden sie aber durch Fahrzeuge ersetzt und viele Kamele einfach freigelassen. Das führte dann zu einer ökologischen Katastrophe. Ohne natürliche Feinde haben sich die Tiere unkontrolliert ausgebreitet. Inzwischen leben schätzungsweise über eine Million wildlebende Kamele in Australien und streifen durch die trockenen Ökosysteme. Nun hat diese große Anzahl an Kamelen leider verheerende Auswirkungen auf das empfindliche Ökosystem: Sie fressen die Vegetation kahl, zerstören Wasserquellen und verdichten den Boden mit ihrem Gewicht. Dadurch können Pflanzen das Wasser nicht mehr richtig aufnehmen und wachsen schlechter. Das Problem dabei ist auch noch, dass es in diesen trockenen Gegenden Australiens kaum Bodenorganismen wie entsprechende Würmer gibt, die diese Verdichtung wieder auflockern könnten. So gerät das Ökosystem immer mehr aus dem Gleichgewicht.

Um das Problem in den Griff zu bekommen, haben australische Wissenschaftler:innen eine ungewöhnliche und moralisch durchaus brutale Methode entwickelt – sie haben das Judas-Kamel “kreiert”. Die schon in anderen Kontexten genutzte Idee dahinter ist eigentlich ganz einfach: Ein wildes Kamel wird eingefangen, mit einem GPS-Sender versehen und wieder freigelassen. Da Kamele sehr soziale Tiere und ungern allein sind, suchen sie sich schnell neue Gesellschaft. Das Kamel stößt also zu einer Gruppe dazu und lebt sich ein, schließt Freundschaften, all sowas. Dabei wird es jedoch von den Forschenden getracked. Hat es sich eingelebt, kommen Menschen mit Hubschraubern und Gewehren und erschießen die gesamte Herde – bis auf das Judas-Kamel. Seiner Gemeinschaft beraubt irrt es wieder durch die Wüste, um eine neue Gruppe zu finden … and repeat. Der Name stammt von der Bibelfigur Judas, die Jesus damals verraten hat … wobei das in meinen Augen sehr zynisch ist, denn verraten haben diese Kamele ja schonmal gar nicht. Die wissen nicht, dass sie den Tod im Gepäck haben.

Hier ist der Trailer zu einem Film, der aus der Perspektive des Kamels erzählt wird, und ich finde das alles wirklich schwierig auszuhalten. Triggerwarnung hoch tausend:

https://www.youtube.com/watch?v=SlIpVvOpfAw (Öffnet in neuem Fenster)

Als ich zwei Tage nach dem Seminar versucht habe, Lorenz von diesen Kamelen zu erzählen, musste ich direkt weinen, weil es einfach wirklich furchtbar ist. Diese Tiere haben es sich nicht ausgesucht, nach Australien gebracht und für Arbeit ausgebeutet zu werden, und doch zahlen sie den Preis für unsere Fehler. Das ist die grausame Realität im Umgang mit invasiven Arten: Der Versuch, den Schaden zu kontrollieren, führt oft zu immensem Leid – und dieses Leid haben wir verursacht. Wir sind Schuld.

Invasive Arten sind fast immer das Ergebnis menschlichen Handelns. Aus wirtschaftlichen, ästhetischen oder praktischen Gründen werden Tiere, Pflanzen oder Pilze über Kontinente hinweg verschleppt. Doch was passiert, wenn sie in ihrem neuen Lebensraum das ökologische Gleichgewicht stören? Die Antwort auf diese Frage ist selten klar und einfach. Nehmen wir die Kamele in Australien: Wenn wir sie nicht regulieren, werden sie weiterhin die Vegetation kahl fressen, Wasserquellen zerstören und das fragile Ökosystem in eine Wüste verwandeln, in der andere Arten verhungern oder verdursten. Regulieren wir dagegen – etwa durch Abschuss mit der Judas-Kamel-Methode – bezahlen die Kamele mit ihrem Leben. Beide Optionen sind schwer zu ertragen, aber eine Entscheidung muss getroffen werden. Wenn wir beispielsweise bei den Kamelen nicht regulieren, zahlen noch mehr andere Individuen einen schlimmen Preis.

Dieses Dilemma zeigt, wie komplex und schwierig Naturschutz ist. Es geht nicht nur um irgendwelche schönen Bilder von wilden Tieren und blühenden Landschaften, sondern praktische Naturschutzarbeit erfordert harte, oft moralisch und psychisch belastende Entscheidungen. Naturschutz bedeutet, zwischen zwei Übeln abzuwägen und das kleinere zu wählen – eine Aufgabe, die selten emotional befriedigend oder auch nur verständlich ist. Und es bedeutet, die Verantwortung für ein Problem, das wir selbst verursacht haben, auf Lebewesen abzuwälzen, die am wenigsten dafür können. Jeden Tag stehen Forschende im Outback und sonstwo vor einer großen ethischen Frage:

Haben wir überhaupt das Recht, Leben zu nehmen, um größeren Schaden abzuwenden?

Größer geht kaum. Viele argumentieren, dass wir keine Wahl haben, wenn wir Ökosysteme langfristig schützen wollen. Aber das macht die Entscheidung nicht weniger schmerzhaft. Jedes Kamel, das in Australien getötet wird, ist ein fühlendes Lebewesen, das einfach nur leben wollte, genau wir wir. Und doch soll es nun sterben, um andere Arten zu retten. Es ist ein moralischer Spagat, der das eigentliche Problem offenbart: unseren rücksichtslosen Umgang mit der Natur! Der Kampf gegen invasive Arten ist ein ständiger Versuch, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Doch die Wurzeln des Problems liegen in unserem Verhalten: in der Art und Weise, wie wir ohne irgendeine (!) Rücksicht auf Verluste handeln, Tiere und Pflanzen rund um den Globus karren und Ökosysteme verändern. Vielleicht ist die einzige Lösung, endlich vorausschauender zu handeln, bevor wir Entscheidungen treffen, die die nächste Generation Biolog:innen in ähnliche Dilemmata stürzen.

Es bleibt zu hoffen, dass wir lernen, besser mit unserer Umwelt umzugehen – und mit ein wenig Glück kriegen wir das gebacken, bevor es zu spät ist. Bis dahin müssen wir weiterhin unmögliche Entscheidungen treffen, in der Hoffnung, dass das kleinere Übel noch eine Chance für die Zukunft lässt.

Bis zum nächsten Mal.

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https://steadyhq.com/de/nerdletter/posts (Öffnet in neuem Fenster)
Material&Quellen

Haubrock, Phillip J., Ross N. Cuthbert, Paride Balzani, Elizabeta Briski, Carlos Cano-Barbacil, Vanessa De Santis, Emma J. Hudgins, u. a. „Discrepancies between Non-Native and Invasive Species Classifications“. Biological Invasions 26, Nr. 2 (1. Februar 2024): 371–84. https://doi.org/10.1007/s10530-023-03184-3 (Öffnet in neuem Fenster).

Peller, Tianna, und Florian Altermatt. „Invasive Species Drive Cross-Ecosystem Effects Worldwide“. Nature Ecology & Evolution 8, Nr. 6 (1. Juni 2024): 1087–97. https://doi.org/10.1038/s41559-024-02380-1 (Öffnet in neuem Fenster).

Wahlquist, Calla. „‚Judas Camels‘ Can Lead Shooters to Feral Herds in Central Australia, Study Finds“. The Guardian, 10. Februar 2015, Abschn. Australia news. https://www.theguardian.com/australia-news/2015/feb/11/judas-camels-can-lead-shooters-to-feral-herds-in-central-australia-study-finds (Öffnet in neuem Fenster).

Ein Interview mit den Macherinnen von Judas Collar:

https://www.youtube.com/watch?v=uOAhSDYzxKc (Öffnet in neuem Fenster)

Unsere Podcastfolge zu Neomyceten:

https://www.bugtales.fm/89-invasive-pilze-neomyceten (Öffnet in neuem Fenster)

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